An kaum einem Ort treten die Folgen dieser Überbelastung geballter auf als in Venedig. Mehr als zehn Millionen Menschen besuchen die Lagunenstadt jedes Jahr. | Bild: Massimiliano Clari / EyeEm / Getty Images

Unter dem Schlagwort Overtourism hat die Diskussion um negative Folgen des Tourismus in jüngster Zeit an Intensität gewonnen. Der Begriff ist eng mit dem europäischen Städtetourismus verbunden und kam um 2017 mit den Protesten der lokalen Bevölkerung in Barcelona oder auch Venedig auf. Es gibt für ihn jedoch weder eine allgemein gültige Definition noch eine deutsche Entsprechung.

3%

trug der Tourismus im Jahr 2021 in Europa zum Bruttoinlandprodukt bei. 2019 waren es noch 4,3 Prozent gewesen, beim Spitzenreiter Kroatien waren es damals fast 12 Prozent.

Die Welttourismusorganisation UNWTO beschreibt ihn als «Auswirkungen des Tourismus auf ein Reiseziel oder Teile davon, welche die wahrgenommene Lebensqualität der Einheimischen und/oder die Qualität der Besuchererfahrung übermässig negativ beeinflussen». Tourismusforscher Paul Peeters von der niederländischen Fachhochschule Breda betont vor allem die Überschreitung physischer, ökologischer oder auch sozialer Kapazitätsgrenzen.

Eine hohe Zahl von Reisegästen mag zu den augenfälligsten Merkmalen des Overtourism gehören. Dennoch ist dieser nicht mit Massentourismus gleichzusetzen, wie es im Schlussbericht einer aktuellen Studie der Europäischen Kommission heisst: «Der Overtourism lässt sich besser in relativen als in absoluten Bedingungen verstehen.» So gebe es durchaus Destinationen, die auch einen grossen Andrang von Besuchenden gut bewältigen, während gerade kleinere und neuere Ziele oder Bergregionen oft an ihre Grenzen stiessen.

Früher Lonely Planet, heute Instagram

Die Ursachen des Zuviel sind mannigfaltig: Billig-Airlines und Online-Buchungsplattformen etwa haben das Reisen günstiger und einfacher gemacht. Kreuzfahrtschiffe befördern immer mehr Personen. Eine entscheidende Rolle kommt ausserdem dem rasanten Anstieg privater Ferienwohnungen zu. «Plattformen wie Airbnb erhöhen nicht nur die Beherbergungskapazität», zitiert die Wirtschaftsgeografin Sina Hardaker eine Studie von Fachkollegen.

Diese Plattformen veränderten auch die Morphologie einer Stadt, die Form also, wie sich diese entwickle und strukturiere, betont die Forscherin an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. «Overtourism hat deshalb auch viel mit dem zunehmenden Eindringen von Touristinnen und Touristen in die Wohngebiete zu tun.» Für diese These spricht auch, dass in Städten wie London vergleichsweise wenig Unmut laut wird. «Die ansässige Bevölkerung ist dort nicht auf dieselbe Weise mit dem Tourismus konfrontiert wie in Barcelona oder Lissabon», erklärt Hardaker. Die meisten sind fernab des touristischen Treibens zu Hau­se; die Wohnlagen im Stadtzentrum sind für sie seit jeher unerschwinglich.

965

Millionen Touristinnen

waren 2022 weltweit unterwegs, 1,5 Milliarden waren es 2019 gewesen.

Internationale Online-Anbieter bringen laut Hardaker ein weiteres Problem mit sich: «Solche Plattformen stellen sich als neutrale Vermittler dar. Das verschleiert aber ihren Einfluss auf die Destinationen und legitimiert, dass sie sich in vielen Fällen der lokalen Verantwortung entziehen.» Die digitalen Firmen seien einerseits physisch kaum greifbar: Manche besitzen weder eigene Unterkünfte noch physische Geschäftsstellen, an die man sich wenden könnte.

Andererseits lasse sich auch ihre Wirkung kaum erfassen: Wie weit reduziert Google Maps ein Städteziel auf die dort eingetragenen Sehenswürdigkeiten, Geschäfte und Diensleistungen? Wie viele Menschen besuchen die Reisterrassen auf Bali, weil sie Bilder da-von auf Instagram gesehen ­haben? Natürlich hätten ­Touristen auch früher häufig ­dieselbe Ausgabe des Lonely Planet zu Rate gezogen und die gleichen Attraktionen besucht. «Die Reichweite eines Reiseführers lässt sich aber nicht mit den Netzwerk­effekten einer Plattform wie Instagram vergleichen.»

Lösungsversuche in Venedig, Paris und Amsterdam

Vielschichtig sind auch die Auswirkungen des Overtourism. Zu den augenfälligsten gehören laut Tourismusforscher Fabian Weber von der Hochschule Luzern die Menschenmassen im öffentlichen Raum: überlaufene Plätze, volle Strände, lange Schlangen vor Museen. Andere Folgen dagegen seien nicht auf Anhieb sichtbar: die schleichende Touristifizierung, die sich etwa darin zeige, dass es ein Dutzend Souvenirläden im Quartier habe, aber keine Metzgerei mehr. Der übermässige Tourismus manifestiert sich zudem in steigenden Immobilienpreisen und höheren Lebenskosten.

An kaum einem Ort treten die Folgen dieser Überbelastung geballter auf als in Venedig. Schon im 18. Jahrhundert hätten sich die Einheimischen über Touristinnen aufgeregt, die öffentliche Plätze verstopften, schreibt Sebastian Amrhein in der Einleitung eines Handbuchs zum Thema. In den letzten zwanzig Jahren seien die Zahlen aber förmlich explodiert. Mehr als zehn Millionen Menschen besuchen die Lagunenstadt jedes Jahr, sie ist eines der beliebtesten Reiseziele weltweit.

1,4

Billionen US-Dollar

dürften die Einnahmen aus dem internationalen Tourismus im Jahr 2023 betragen, 2019 waren es noch 1,5 Billionen gewesen.

Die Bevölkerung im historischen Zentrum dagegen schrumpft seit Jahrzehnten. Nicht nur der hohen Wohnungspreise wegen hätten viele den Ort verlassen, sagt der Wissenschaftler an der Hochschule Rhein-Waal (D), sondern auch aus Unmut. Kreuzfahrtschiffe belasten die Kanalstadt zudem gleich in mehrerlei Hinsicht, wie Forschende in einem ­Literaturüberblick von 2019 festhalten: Sie schädigen nicht nur Baustrukturen und Ökosystem, sondern generieren auch keinen dauerhaften Wohlstand vor Ort. Die Passagierinnen und Passagiere fluten innert kürzester Zeit die Stadt, geben aber dort kaum Geld aus.

Die lokalen Behörden hätten die Probleme durchaus erkannt, sagt Hugues Séraphin von der Oxford Brookes University. Tagesgäste müssen wohl bald eine Eintrittsgebühr entrichten, grosse Kreuzfahrtschiffe dürfen nicht mehr im Zentrum anlegen. «Allzu viel bewirken dürften diese Strategien jedoch nicht», glaubt der Forscher, der kürzlich ein Handbuch zu Gründen und Lösungsansätzen des Overtourism herausgegeben hat. Die meisten Massnahmen seien viel zu kurzfristig angelegt und verlagerten Probleme nur. «Das Hauptproblem ist: In Venedig lebt jede und jeder vom Tourismus.» Berufsgruppen wie die Gondolieri seien ausserordentlich gut organisiert und übten entsprechend Einfluss auf die Politik aus.

2,2

Millionen Gastbetten

hatte Italien 2021. Damit ist das Land Spitzenreiter in Europa.

Die langfristige Lösung liegt gemäss Séraphin klar in einer besseren Verteilung der Besuchendenströme. Die Auswirkungen von Overtourism würden sich selten in ­einer ganzen Stadt oder das ganze Jahr über manifestieren, sondern konzentrierten sich auf bestimmte Quartiere, Jahreszeiten oder Wochentage. Den Tourismus sowohl räumlich als auch zeitlich besser zu lenken, liege in der Verantwortung der politischen Entscheidungsträger. Frankreich zum Beispiel sei es mit dem historischen Themenpark Puy du Fou in Les Epesses gelungen, in einer eher abgelegenen Region des Landes eine grosse touristische Attraktion zu schaffen. So würden nicht nur Must-Sees wie ­Paris entlastet: «Auf diese Weise profitieren auch wirtschaftlich und sozial schwächere Gegenden. Es geht ja nicht darum, den Tourismus abzuschaffen.»

Amsterdam versucht laut Weber ebenso, Stadt und Um­land vermehrt als zusammenhängende Destination zu vermitteln. «Das beginnt schon mit der Namensgebung», sagt der Dozent. Das knapp eine halbe Autostunde entfernte Muiderschloss werde inzwischen als Amsterdam Castle bezeichnet und der Badeort Zandvoort als Amsterdam Beach.

Keine Wirkung ohne politischen Willen

Bei Beherbergungen und in der Kreuzfahrtschifffahrt tue sich durchaus auch etwas, stellt Weber fest. So habe Island etwa strengere Emissionsregulierungen erlassen und Landstromanlagen für Schiffe installiert, damit diese im Hafen nicht mehr den Motor laufen lassen müssen. Barcelona wiederum erteile keine neuen Lizenzen mehr für den Hotelbau und reguliere die Vermietung privater Ferienwohnungen stärker.

Doch auch Weber ist skeptisch, wie viel das bewirkt: Natürlich könnten einzelne Quartiere so entlastet werden, meint er. An der Zahl der Touristinnen und Touristen insgesamt dürfte sich damit aber kaum etwas ändern. «Barcelona bleibt eine sehr beliebte Stadt.» Zudem entscheide sich die Frage, wie viel Tourismus zu viel sei, gerade an Orten wie Barcelona oder Amsterdam nicht nur an der Zahl der Besuchenden, sondern auch an deren Verhalten.

5€

Eintritt

will Venedig künftig für Tagestouristen erheben. 2024 gibt es Testläufe an 29 Tagen, 2025 soll die Gebühr generell eingeführt werden.

Wie stark der Erfolg von Massnahmen letztlich vom politischen Willen abhängt, zeigt das Beispiel Mallorca. Dort seien in den letzten Jahren Regulierungen eingeführt worden, die durchaus spürbare Wirkung hätten zeigen können, ist Tourismusforscher Amrhein überzeugt. Nach den Wahlen im Mai seien die meisten davon jedoch umgehend aufgehoben worden. «Die neue Regie­rung setzt einmal mehr auf Wachstum.»