Teilhabe am Tourismus kann auch mal hintangestellt werden, findet Tourismuforscherin Julia Beelitz, sonst müsste es auch ein Menschenrecht geben, am Markt für Ferraris teilhaben zu können. | Foto: Sebastian Wolf

Julia Beelitz, was würde uns fehlen ohne das touristische Reisen?

Wo du nicht zu Fuss warst, bist du nie wirklich gewesen. Reiseberichte können das nicht ersetzen. Erlebnisse der Fremde sind das höchs- te Gut des Tourismus und bergen Potenzial für die Völkerverständigung. Und natürlich ist das Reisen ein riesiger Wirtschaftsfaktor. Laut der Welt-Tourismusorganisation UNWTO war im Jahr 2019 einer von zehn Jobs weltweit mit dem Tourismus verbunden.

In Ihrem Buch Tourismusphilosophie stellen Sie die These auf, dass es für ein gutes Leben Bildung – etwa den Kontakt mit Fremdem –, aber auch Entlastung braucht. Beides könne Reisen erfüllen.

Genau. Den Begriff Entlastung finde ich viel treffender als den der Erholung. Fakt ist: Manchmal kommen Reisende geschaffter vom Urlaub heim, als sie vorher waren. Das kann eine positive Ursache haben, etwa die vielen neuen Eindrücke, aber es kann auch wegen verspäteter Flüge sein oder weil ein Familienmitglied krank geworden ist. Doch Urlaub führt meistens zu Entlastung, etwa vom Zeitkorsett im Alltag. Denken Sie an Resorts, in denen es 24 Stunden am Tag etwas zu essen gibt. Man kann sich fragen, warum braucht jemand das? Aber das bedeutet, dass die Urlauber zwei Wochen lang immer tun können, was sie wollen. Oder der temporäre Ausbruch aus der Funktion im Alltag. Bei Gruppenreisen nehmen die Personen innert kürzester Zeit ein bestimmtes Rollenverhalten an. Vielleicht wird der Manager, der sonst die ganze Verantwortung trägt, zum Klassenclown.

Vordenkerin für das Reisegeschäft
Julia Beelitz (40) ist Professorin für Tourismus-Management an der Hochschule Kempten (D). Sie forscht zu Nachhaltigkeit, Segmenten des Nischentourismus und Tourismusphilosophie. Im Buch Tourismusphilosophie setzt sie sich gemeinsam mit dem Schweizer Philosophen Jonas Pfister damit auseinander, wozu Menschen touristisches Reisen eigentlich brauchen, und diskutiert mit ihm über ethische Fragen rund um Urlaub.

Touristisches Reisen tangiert weitere Grundbedürfnisse, etwa Bewegungsfreiheit. Sollte es ein Menschenrecht sein?

Ich würde das nicht vermischen. Wenn Nordkorea einer Staatsbürgerin die Ausreise verweigert, dann ist eindeutig ein Menschenrecht tangiert. Teilhabe am Tourismus aber, an einem wirtschaftlichen System, das kann auch mal hintangestellt werden. Sonst müsste es ja auch etwa ein Menschenrecht geben, am Markt für Ferraris teilhaben zu können. Wobei es schon andere Entwicklungen gibt: In Deutschland etwa können Mütter und Väter sogenannte Mutter-/Vater-Kind-Kuren bei ihrer Krankenkasse beantragen.

Ist touristisches Reisen Luxus?

Ja. Trotzdem verzichten die meisten nicht als Erstes auf das Reisen, wenn sie sparen müssen. Sie machen dann halt nur noch einmal im Jahr Urlaub oder übernachten nicht mehr in teuren Hotels. In der entwickelten Welt sind wir inzwischen mehr an Erlebnissen interessiert als an Dingen: «Collect moments, not things», ist ein beliebter Spruch auf Social Media.

«Gewisse Dinge unternehmen die Menschen aus Statusgründen: Im Villenviertel war nicht jeder schon auf dem Mount Everest.»

Wenn wir uns im Nachhinein nicht an unsere Reisen erinnern oder zumindest nicht davon erzählen dürften, würden wir sie dann noch unternehmen?

Wenn es gar keine Erinnerungen gäbe, würden wir wohl nicht mehr vereisen. Sie sind das zentrale Souvenir beim Tourismus. Wenn man sie nicht mehr teilen dürfte, wäre es zumindest für manche weniger attraktiv. Gewisse Dinge unternehmen die Menschen aus Statusgründen: Im Villenviertel war dann doch nicht jeder schon auf dem Mount Everest. Das Phänomen gibt es auch bei jungen Leuten: Vor dem Studium haben sie einen Volontäreinsatz gemacht oder eine Rucksackreise. Sie erzählen einander, wie es war, woanders gelebt zu haben.

Nachdem ich in Ihrem Buch die Kapitel zu Nachhaltigkeit und Fairness gelesen habe, fühlte ich mich schlecht: Ich verbringe diesen Winter eine Skiwoche im Wallis, und im Herbst besuche ich einen Freund in Brasilien.

Die Studierenden warne ich jeweils zu Beginn meiner Vorlesung: Machen Sie sich auf ein Festival der schlechten Launen gefasst. Der Umfang, mit dem wir in der westlichen Welt reisen, ist schlicht zu gross. Acht bis zwölf Prozent des globalen CO²-Ausstosses entfallen auf den Tourismus und davon gut die Hälfte auf den Transport. Jedes Mal, wenn ich mich ins Flugzeug oder ins Auto setze, hat das negative Auswirkungen. Es gibt keinen nachhaltigen Tourismus. Ich muss aber beim Reisen nicht immer ein schlechtes Gewissen haben, sollte aber stets überlegen: Wie viel ist zu viel?

Was kann ich konkret tun?

Nicht dreimal im Jahr eine Fernreise machen, nicht zweimal pro Winter mit dem Auto ins zehn Stunden entfernte Skigebiet fahren, nicht einen Wintersportort wählen, wo mit künstlicher Beschneiung gearbeitet wird. Gewisse Bedürfnisse können auch mit Alternativen abgedeckt werden. Muss ich für einen reinen Badeurlaub wirklich nach Thailand? Ich will aber nichts verbieten. Die soziokulturelle Wirkung des Tourismus ist wichtig. Es wäre sehr traurig, wenn wir diese Erfahrungen nicht mehr machen könnten.

«Wollen die Gäste wirklich Authentizität? Manche echten Dinge würden uns erschrecken oder zumindest enttäuschen.»

Gewisse Orte wie die Antarktis sollen mit Zugangsbeschränkungen geschützt werden. Das funktioniert nicht wirklich.

Das Element Status spielt hier wieder eine Rolle. Ich kann sagen: Ich bin trotzdem da gewesen! Dann ist da die menschliche Neugier: Je unzugänglicher Gebiete sind, desto attraktiver werden sie. Ausserdem braucht es bei Verboten konkrete Institutionen und Personen, die sie überwachen. Hier kommt es zur sogenannten Tragödie der Allmende: Öffentliche Räume können nur bedingt reglementiert werden, aber alle greifen auf sie zu, und so werden sie übernutzt.

An sehr gut besuchten Orten ist auch die Fairness für Menschen von dort fraglich.

Grundsätzlich gilt: Je stärker die Einwohnerinnen abhängig sind vom Tourismus, desto weniger Fairness existiert. Oft kommt es zum Leakage-Effekt: Das Geld kommt nicht ihnen zugute, sondern fliesst ins Ausland ab. Darauf kann jede achten, wenn sie eine Unterkunft bucht: Wem gehört diese? Online Booking ist umstritten: Es ist dort zwar einfacher, familiengeführte Unternehmen direkt zu vermarkten, allerdings stehen sie dort auch in direkter Konkurrenz mit internationalen Playern, die für besseres Ranking bezahlen können.

Auch Authentizität vor Ort ist oft fraglich. Ein Beispiel: Ich war 2022 in der jordanischen Wüste. Abends tanzten Beduinen in einem Zelt. Die Landschaft habe ich als authentisch erlebt, das Unterhaltungsprogramm gar nicht.

Authentisch wird als edler empfunden als Inszenierung. Aber wollen die Gäste wirklich Authentizität? Ich behaupte: nur sehr eingeschränkt. Sie wollen ein sicheres Erlebnis, das ihre Erwartungen erfüllt. Manche echten Dinge würden uns erschrecken oder zumindest enttäuschen. Es gibt einen weiteren, wichtigen Aspekt: Wenn wir Gäste in unsere private Wohnung einladen, wollen wir einen guten Eindruck hinterlassen und dass sie happy sind. Wir machen also etwas Besonderes zu essen, ziehen schöne Kleidung an. Sind wir bereit, mit den Gästen zu teilen, wie wir wirklich leben? Inszenierung ist eine soziokulturelle Technik, die Rückzugsorte ermöglicht.

«Ich bin sicher, dass sich die ökonomische Erfolgsgeschichte fortsetzen wird.»

Wie sieht Tourismus in 100 Jahren aus?

Er wird klimafreundlicher werden müssen! Alternative Antriebe wie Wasserstoff sind ein Thema oder die Fragen nach Begrenzungen: Wie viele Flugzeuge und Schiffe dürfen noch gebaut werden? Hier braucht es einen gesetzlichen Deckel. Ich bin zudem sicher, dass sich die ökonomische Erfolgsgeschichte fortsetzen wird. Vielleicht kann ich sagen, was ich mir wünschen würde?

Natürlich.

Dass die Menschen stärker reflektieren: Was wäre der klügere Entscheid bei der Destinationswahl? Würde die Almbachklamm in Bayern – ein Ort mit Wasser und dramatischen Felsen – nicht genauso mein Bedürfnis nach Schönheit der Natur befriedigen wie Ko Phi Phi in Thailand? Dann sollte Aufklärung über Nachhaltigkeit auch zum Marketing der Anbieter gehören. Ich wünsche mir einen werteorientierten Tourismus.

Wohin reisen Sie selbst als nächstes?

Nach Bad Hindelang im Allgäu. Das liegt in der Nähe meines Wohnortes. Ich freue mich auf ein paar Tage im Schnee. Ich bin keine Skifahrerin, aber ich werde schneewandern, gut essen, mit der Familie zusammen sein. Fernreisen mache ich nur alle vier Jahre. Das finde ich vertretbar. Auch ich möchte die Welt sehen. Ich fühle mich zum internationalen Management berufen, nicht nur zu Nachhaltigkeit.