Photo: Franca Pedrazzetti

Selbst Nischenangebote können problematisch sein, wie Valentin Groebner findet. Er forscht an der Universität Luzern und arbeitet unter anderem zur Geschichte des Tourismus. Zuletzt erschienen: Ferienmüde. Als das Reisen nicht mehr geholfen hat.

Valentin Groebner, Tourismus in den Alpen soll nachhaltiger werden, dafür werben Regionalplanerinnen und Reiseveranstalter. Ein neues Phänomen?

In gewisser Weise ist Tourismus von Anfang an die Industrie des schlechten Gewissens. Der Engländer John Ruskin hat schon 1850 die unwiderrufliche Zerstörung der Schönheit der Alpen durch die vielen Besucherinnen und Besucher aus der ganzen Welt beklagt. Die unberührten Landschaften würden durch die grossen Hotels verunstaltet. Solche medienwirksamen Klagen haben aber immer den Effekt, dass noch mehr Leute die bedrohten Sehenswürdigkeiten besuchen wollen – dieses «das will ich noch sehen » ist einer der grossen Motoren des Tourismus.

Ist also der Schnee- und Gletscherschwund ein Treiber für den alpinen Tourismus?

Ich war im Februar in Andermatt, wo das ägyptische Immobilienunternehmen Orascom ein neues Touristendorf baut. Der Durchschnittspreis für Ferienwohnungen dort liegt derzeit bei etwas über zwei Millionen Franken. Die Anbieter suggerieren, dass man sich damit ein Stück Schneesicherheit und dadurch Zeit kaufen kann. Dort oben, so das Versprechen, werde es den Skiurlaub von früher auch künftig noch geben. Der neu gebaute Dorfteil ist ein Retroland, das mit einer 60er-Jahre-Fondue-Familienidylle beworben wird. Verkauft wird eine Vergangenheit, die es so nie gegeben hat – und deren Verlängerung in die Zukunft.

«Seit es Tourismus gibt, beruht dieser auf niedrig bezahlter Saisonarbeit. In der Selbstdarstellung der Branche kommen diese Menschen nicht vor.»

Wie beurteilen Sie Initiativen wie Swisstainable von Schweiz Tourismus?

Auf einer Konferenz in Rom präsentierte eine Vertreterin von Schweiz Tourismus diese Kampagne. Sie hat Bilder von pittoresken Bahnstrecken in Graubünden gezeigt und von Zügen, die mit erneuerbarem Strom betrieben werden – aber nicht die Kunstschneeanlagen, die enorm viel Energie und Wasser brauchen. Schweiz Tourismus hat einen Leistungsauftrag: Sie sollen die Übernachtungszahlen steigern. Der Geschäftsführer sagt öffentlich, dass man mehr Gäste aus Übersee anziehen will, denn diese geben pro Kopf deutlich mehr Geld aus. Nur kommen diese Gäste natürlich mit dem Flugzeug – und der grösste Anteil CO²-Emissionen entsteht bei der An- und Abreise.

Der Tourismus ist für viele Regionen ein wichtiges ökonomisches Standbein – und Nachhaltigkeit geht ja über die Sorge um die Natur hinaus.

Die Tourismusverbände behaupten, dass der Wohlstand ganzer Regionen auf Gedeih und Verderb am Fremdenverkehr hängt. Aber stimmt das wirklich? Von der touristischen Erschliessung einer Region profitieren vor allem die Besitzer von Immobilien. Seit es Tourismus gibt, beruht dieser zudem auf niedrig bezahlter Saisonarbeit: Heute sind das die Tamilen in der Küche und die Rumäninnen im Service. In der Selbstdarstellung der Branche kommen diese Menschen nicht vor. Tourismus ist die Industrie des schönen Scheins, deshalb muss er die eigenen Arbeitsverhältnisse zum Verschwinden bringen.

Es gibt Alternativen zum Massentourismus in den Alpen, zum Beispiel die sogenannten Bergsteigerdörfer für natur- und kulturnahe Erlebnisse.

Solche Nischen sind auch nicht neu. Die Alternativbewegung der 1970er-Jahre erfand neue Formen des Alpentourismus. Diese neuen Wanderer kamen eher mit dem Zug statt mit dem Auto und übernachteten in stillgelegten Schulhäusern verlassener Bergdörfer. Am Ende gingen noch mehr Leute in die Alpen als zuvor. Ökonominnen würden sagen, dass gesättigte Märkte immer auf Diversifizierung setzen: Um Überdruss zu vermeiden, muss es ständig Neues geben. Diese Angebote sind aber nicht skalierbar, gerade in den Nischen kommt die Infrastruktur schnell an ihre Grenzen.