Möglichst nahe ans Forschungsobjekt herankommen, aber nicht die analytische Distanz verlieren: Diesen Balanceakt bewältigen die Anthropologinnen von der PH Zürich bei der Feldforschung im Kindergarten. | Bild: Stephan Rappo

Die drei Forscherinnen betreten den Kindergarten in der Znünipause. Bunte kleine Schuhe trommeln über den Linoleumboden, Lachen und Rufen hallen durch den Gang. Einige Kinder holen sich draussen ein Tretauto und radeln über den noch nassen Pausenplatz. Es ist ein Donnerstag im Herbst, in der vorangegangenen Nacht hat es seit Langem wieder einmal geregnet. An den Kleiderhaken hängen Regenjacken und -hosen, Gummistiefel liegen darunter. «Die Garderobe ist ein interessanter Ort», sagt Forscherin Anja Sieber und zückt den Notizblock. «Sie ist sozusagen das Verbindungsstück von drinnen und draussen.»

Sie zeigt an die Wand über der Garderobe. Dort hängen getrocknete Blumen und Gräser, in der Mitte ein geflochtener Kranz aus Ästen, darin stecken gefilzte rote Blumen. «Zum Beispiel hier. Das schafft bereits einen Naturbezug », erklärt sie und macht schon erste Notizen. Ein weiteres Beispiel entdecken die Forscherinnen direkt neben dem Eingang zum Kindergartenzimmer: ein Korb voll mit gesammelten Stöcken aus dem Wald, an denen gebastelte Lampions hängen. «Hier kommt die Natur direkt in den Raum hinein.»

Schuhe binden und beobachten

Anja Sieber, Gisela Unterweger und Felizitas Juen sind Sozial- und Kulturanthropologinnen. Sie lehren und forschen an der Pädagogischen Hochschule in Zürich. Zum Team gehört auch der Erziehungswissenschaftler Georg Rissler, der an diesem Tag nicht dabei ist. Mit dem Projekt «Naturen/Kindheiten in Verhandlung» will die Forschungsgruppe herausfinden, wie Umwelt- und Naturbeziehungen im Kindergartenalltag gestaltet werden. Sie tun dies vorwiegend mit teilnehmender Beobachtung, einer populären Methode in der sozialwissenschaftlichen Feldforschung.

Wie treten Kindergartenkinder mit nichtmenschlichen Dingen in Kontakt? | Fotos: Stephan Rappo

Um das herauszufinden sind die Anthropologinnen Anja Sieber (links) und Gisela Unterweger ein Jahr lang beim Chindgsialltag dabei.

Auch Doktorandin Felizitas Juen befindet sich oft mitten im Geschehen. Diese Art der Feldforschung nennt sich teilnehmende Beobachtung.

Die Haselnuss mit dem Stiefel zertreten oder mit dem Stein zerhauen? Die Forscherinnen von der PH Zürich untersuchen, welchen Einfluss Materialien oder Objekte auf die Handlungsfähigkeit der Kleinen haben.

Persönlichkeitsschutz ist essenziell, wenn Wissen so nahe am Menschen gewonnen wird. Deswegen bleiben die Kinder in dieser Reportage anonym.

Dabei befinden sich die Ethnologinnen selbst mitten im Geschehen, das sie untersuchen. Sie versuchen, möglichst nahe an ihr Objekt heranzukommen, ohne dabei die analytische Distanz zu verlieren. Das sei mitunter ein Balanceakt. «Wir werden schon auch mal zum Schuhebinden eingespannt», sagt Unterweger, die zusammen mit Sieber das Projekt leitet. Auch Gespräche mit Kindern würden sich immer wieder ergeben. «Meistens sind wir jedoch in der beobachtenden Haltung.» Die Kinder scheinen sich jedenfalls nicht daran zu stören. Sie spielen unbekümmert weiter, wenn die Forscherinnen mit dem Notizblock neben ihnen im Holzhaus kauern oder vor ihren Bauklötzen knien.

Es sind grosse Fragen, die durch die Observation der Kleinen beantwortet werden sollen. In welcher Beziehung stehen die Kinder zur Natur? Wie treten sie mit nichtmenschlichen Dingen und Wesen in Kontakt und wie nehmen diese Kontakt zu ihnen auf? Dahinter steht die Absicht der Forschungsgruppe, die starre Unterscheidung von Natur und Kultur aufzubrechen. Sie orientieren sich an einer aktuellen, posthumanistischen Theorie, die nicht nur den Menschen, sondern auch Objekte und die Natur selbst als Handelnde in den Fokus nimmt. «Die meisten Theorien werden bisher vom Menschen aus gedacht», sagt Unterweger. «Uns interessiert, wie Mensch und Natur miteinander verwoben sind.»

«Es ist nur eine Pfütze, aber sie kann durch ihr Dasein verschiedene Handlungen in Gang bringen.»Felizitas Juen

Insgesamt begleitet die Forschungsgruppe drei Kindergärten während eines Jahres. Alle befinden sich im Kanton Zürich – einer in der Stadt, einer in der Agglomeration und der dritte hier, in einem Dorf im Zürcher Oberland. Es ist der ländlichste Kindergarten von allen, durch das Fenster sind weidende Kühe zu sehen und ein Weiher, umgeben von Hecken und Bäumen. Um den Persönlichkeitsschutz der Kleinen zu wahren, müssen der genaue Ort sowie die Namen der Kinder und der Kindergärtnerin in diesem Text anonym bleiben.

Planschen oder durchfahren?

Dass der Kindergarten naturnah liegt, sage noch nichts über die Beziehung der Buben und Mädchen zur Natur aus, erklären die Forscherinnen. Ihnen würden aber andere Möglichkeiten angeboten als Kindern in einem städtischen Umfeld. So konnten sie zum Beispiel kurz vor den Sommerferien einen Schafbauer besuchen. Sie waren beim Scheren dabei, haben mitgeholfen, die Wolle zu waschen und zu trocknen.

Jetzt steht im Kindergartenzimmer eine Kardiermaschine, an deren Kurbel ein Mädchen mit hellblauen Augen und Ponyfrisur mit aller Kraft dreht, um die Wolle zu striegeln. «Solche Möglichkeiten gibt es in der Stadt eher nicht», sagt Unterweger. «Dafür schaffen die Kindergärtnerinnen dort auf andere Weise einen Bezug zur Natur, etwa durch Ausflüge in den Wald oder in den Tierpark.»

«Um Lösungen für grosse gesellschaftliche Herausforderungen zu finden, ist es sinnvoll, nicht immer alles nur vom Menschen aus zu denken.»Gisela Unterweger

Eine Rolle spielt dabei die sogenannte relationale Handlungsfähigkeit, die einen Schwerpunkt der Forschung in diesem Projekt bildet. Sie beschreibt, welchen Einfluss die Umgebung, Materialien oder Objekte auf die Handlungsfähigkeit der Kinder haben. Ein Beispiel hat die Doktorandin Felizitas Juen auf Video aufgenommen. Es zeigt eine Pfütze auf dem Pausenhof. Ein Ball rollt hindurch. Ein Kind springt hinein.

Ein anderes fährt mit dem Tretauto durch das Wasser. «Es ist nur eine Pfütze», sagt Juen. «Aber sie kann durch ihr Dasein verschiedene Handlungen in Gang bringen.» Ein anderes Beispiel für Agency vom Pausenhof: Juen steht bei einer Gruppe Kindern, die vor einem Haselstrauch die heruntergefallenen Nüsse knacken. Ein Kind haut mit einem Stein drauf, die anderen zerstampfen sie mit ihren Gummistiefeln oder Turnschuhen. Ein Mädchen hat es geschafft und eine weissliche Nuss herausgeschält. Unsicher fragt es ein Kind, das bereits einige Nüsse geknackt hat: «Kann man die essen?» – «Ja.»

Auch Rotznasen verbinden mit Natur

Unterweger erklärt: «Es sind die Kinder selbst, die entscheiden, was sie mit dem umliegenden Angebot machen.» Gleichzeitig gäbe es Regeln und Normen, die von aussen auf sie einwirkten. Wie etwa bei den Sandkästen. «Jeder Kindergarten hat einen, und die Kinder lieben ihn», sagt Sieber. Man könne darin matschen oder ganze Gebilde erschaffen. Gleichzeitig sei er mit vielen Normierungen behaftet: «Der Sand darf nicht herumgeworfen oder hinausgeschaufelt werden. Und er stört, sobald er ins Haus gelangt.» Eine wichtige Rolle spiele dabei auch die Kindergärtnerin. Wie viel interveniert sie? «In diesem Kindergarten müssen die Kleinen nicht immer alles sofort wieder aufräumen, sie können auch mal etwas stehen lassen», beobachtet Sieber. «Das gibt ihnen mehr Möglichkeiten für die freie Gestaltung.»

Tatsächlich hält sich die Kindergärtnerin meistens im Hintergrund und gibt nur wenige, aber klare Anweisungen. Seit über vierzig Jahren ist sie in diesem Beruf tätig. Vermutlich auch deswegen lässt sie sich von den rund 25 Kindern nicht aus der Ruhe bringen. Wenn man erst einmal die Brille der Forscherinnen aufsetzt, sieht man die Naturbeziehungen plötzlich überall: die Papierblumen, die am Fenster kleben, das Igelkostüm, das sich ein Kind beim freien Spiel übergestülpt hat. Das Puppenhaus aus Holz oder die vielen Stofftiere der Kinder und ihre Zuneigung zu ihnen. «Sogar Rotznasen und Zecken werden plötzlich interessant», sagt Sieber. Sie seien ein weiterer Ort, wo Natürliches wie Bakterien oder Tiere mit den Kindern verflochten sind.

Sturm auf die Garderobe, im Kindergarten das Verbindungsstück von drinnen und draussen. | Fotos: Stephan Rappo

Doktorandin Felizitas Juen erklärt den Mädchen und Buben auch hin und wieder, was sie eigentlich im Chindsgi macht.

Wenn die Kindergärtnerin eher wenig interveniert, bleibt den Kleinen mehr Gestaltungsfreiheit.

Die Naturbeziehungen sind im Chindgsi überall sichtbar, etwa bei den Papierblumen am Fenster.

Die Kinder spielen meistens unbekümmert weiter, wenn die Forscherinnen mit dem Notizblock neben ihnen knien.

Ist es Kultur oder Natur, wenn mit Holzklötzen gespielt wird? Die Anthropologinnen möchten diese starre Unterscheidung aufbrechen.

«Wir sammeln ganz viele Spuren», sagt Unterweger. Vieles werde man wieder verwerfen, die Forschung stehe am Anfang. Erste Resultate sind frühestens 2024 zu erwarten. Doch wozu das alles? «Wir möchten mit den Ergebnissen zeigen, dass sich Mensch-Umwelt-Verhältnisse in verflochtenen Beziehungen entwickeln », so Unterweger. So will das Projekt einen Beitrag zu den wissenschaftlichen Debatten rund um das Anthropozän leisten, jenes Zeitalter also, in dem der Mensch zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren der Erde geworden ist. «Um Lösungen für grosse gesellschaftliche Herausforderungen zu finden, ist es sinnvoll, nicht immer alles nur vom Menschen aus zu denken», sagt Unterweger. «Wir hoffen, dass unsere Forschung dazu beiträgt, aus alten Sehgewohnheiten herauszukommen und neue Perspektiven zu gewinnen.»

«Wer die Maus spürt, darf hinausgehen.»Kindergärtnerin

Ganz konkret könnten die Ergebnisse als Reflexionsgrundlage für den Schulunterricht dienen, etwa für das Fach Bildung für nachhaltige Entwicklung. «Um zu überlegen, wie man den Kindern beispielsweise den Wert des Rezyklierens beibringt, könnte man künftig einen Ansatz wählen, der auch ihre Erfahrungswelt berücksichtigt», sagt Sieber. Gehe es nach ihr, brauche es eine andere Herangehensweise, um etwa die Klimakrise dereinst bewältigen zu können. «Wir müssen nach Alternativen suchen und Altes sprengen.»

Am Ende ist es ein Tier, das die Kinder in die Mittagspause entlässt. Eine grosse, graue Stoffmaus. Die Kleinen stehen auf ihren Stühlen im Kreis, mit dem Rücken zueinander. «Wer die Maus spürt, darf hinausgehen», sagt die Kindergärtnerin. Es ist noch einmal mucksmäuschenstill im Raum. Langsam geht sie im Kreis herum und streicht den Kindern mit der Maus über die Hände, den Nacken oder die Fussgelenke. Nacheinander steigen diese von ihren Stühlen hinunter und verschwinden in die Garderobe, den Zwischenraum, bevor sie nach draussen stürmen.