Die Sgraffiti an den Häusern von Ardez sind Teil der modernen Vorstellungen von Idylle, die das Ursprüngliche hochhalten.| Illustration: Nico Kast

Anfang Dezember im Unterengadiner Ardez auf 1467 Metern über Meer. Wer an diesem prächtigen Donnerstagmittag aus der Rhätischen Bahn steigt, versinkt knietief im Neuschnee. Über einen halben Meter hat es in wenigen Tagen hingelegt, die Bergbahnen in Scuol werden zwei Tage darauf bei besten Bedingungen ihren Winterbetrieb aufnehmen. Im 400-Seelen-Dorf mit Engadinerhäusern aus dem 16. und 17. Jahrhundert hat man einen bezaubernden Ausblick auf die verschneiten Bündner Bergspitzen.

Hektisch wird es hier auch in der lukrativen Weihnachtszeit nicht, denn Ardez bietet weder Bergbahn noch Après- Ski-Tipis, keine Jacuzzis, Austernbars oder Shoppingmeilen. Nur einen mobilen Kinderskilift gibt es, der jeweils im Dezember am Dorfrand installiert wird. Wer hier Ferien macht, fährt Tourenski, geht auf Schneeschuhwanderungen, Wander- oder Klettertouren.

«Schau dir unser Dorfzentrum an, niemandem wäre es je in den Sinn gekommen, eines der historischen Häuser abzureissen.»Roger Schorta

Roger Schorta führt das Hotel Alvetern im Zentrum. «Wir haben hier nie erlebt, wie viel Geld eine Bergbahn bewegen kann», sagt er. Und das sei auch besser so. Es gebe eine lange Tradition des Bewahrens. «Schau dir unser Dorfzentrum an, niemandem wäre es je in den Sinn gekommen, eines der historischen Häuser abzureissen.» Genau deshalb kämen die Leute nun – und wegen der einzigartigen Landschaft. «Unsere Gäste spazieren abends durchs Dorf, geniessen die unglaubliche Ruhe und spüren die Kraft der umliegenden Berge», so Schorta. Ein Ausbau des Angebots sei nicht geplant. «Wir wollen diese Ruhe erhalten.»

So entspannt und zuversichtlich wie Schor- ta sind aktuell nur wenige, die vom Wintertourismus leben. «Vor allem mittelgrosse Bergbahngebiete unter 2000 Metern haben es sehr schwer», sagt Monika Bandi, Leiterin der Forschungsstelle Tourismus der Universität Bern. Skigebieten wie Aletsch, Saanenland, Meiringen, Sörenberg oder Melchsee-Frutt schmilzt die Lebensgrundlage davon. «Manche Gebiete benötigen heute rund 50 Prozent der Gesamtenergie für die künstliche Beschneiung.»

Bergbahnen bald Service public?

Die Klimakrise hat drastische Folgen für den Alpentourismus. Seit Messbeginn 1864 hat sich die Schweiz im Durchschnitt um zwei Grad Celsius erwärmt. Besonders betroffen sind höhere Lagen. Die Nullgradgrenze hat sich bereits um 300 bis 400 Meter nach oben verschoben. Meteorologinnen zählen im Winter weniger Schnee-, dafür mehr Regentage. Unter 800 Metern ist der Schneefall um 50 Prozent zurückgegangen, über 2000 Metern um 20 Prozent. Simulationen des Bundes zeigen, dass je nach Emissionsszenario und Höhenzone die Wintersaison im Jahr 2035 einen halben bis einen Monat später beginnen und einen bis drei Monate früher enden wird.

«Die Wirtschaftlichkeit von Wintersportdestinationen nimmt deswegen fast überall ab», sagt Bandi. «50 bis 70 Prozent der Bergbahnen sind heute kaum mehr rentabel und können Investitionen nicht mehr selbst finanzieren. » Viele könnten nur noch dank Subventionen von Bund, Kantonen und Gemeinden erhalten werden oder durch private Spenden. Es stellt sich zunehmend die Frage, ob Bergbahnen zum Service public werden sollen, der von der Allgemeinheit getragen wird. «Für viele Regionen sind sie schlicht ‹too big to fail›, weil damit ein ganzes wirtschaftliches Ökosystem verbunden ist», erklärt Bandi. An ihnen hängen Hotels, Skischulen, Dorfläden und Restaurants. Vor allem aber der Immobilienmarkt, weil ein Chalet mit Bergbahnanschluss bedeutend mehr wert ist als eines ohne. Das führt dazu, dass viele Destinationen mit Subventionen eine Infrastruktur am Leben halten, die längst nicht mehr profitabel ist, geschweige denn nachhaltig.

«50 bis 75 Prozent der Gesamtemissionen im Tourismus fallen bei der An- und Abreise an.»Monika Bandi

Monika Bandi hat 2021 einen Bericht zu strategischen Optionen für den Tourismus im Jahr 2030 im Hinblick auf klimatische Veränderungen verfasst. Er zeigt, dass sich viele Destinationen in einem Teufelskreis befinden: Unsichere Schneeverhältnisse bremsen die Motivation für den Wintersport, warmes Wetter und weniger Schnee verkürzen die Saisons, es kommen weniger Gäste, während der Betrieb mehr Aufwand generiert, was auf die Einnahmen drückt.

Investitionen in eine nachhaltige Transformation bleiben deshalb oft aus. «Wir haben bei unserer Untersuchung gesehen, dass zwar viele Destinationen begonnen haben, in die Klimaanpassung zu investieren », sagt Bandi. Also etwa in neue Lawinenverbauungen, in Sicherung von Hängen, in Regenauffangbecken. Ganz anders sieht es jedoch bei der Reduktion von Emissionen durch den Tourismus aus. «Dort sind wir nach wie vor im tiefroten Bereich.» Wo hier der grösste Hebel liege, sei längst klar: «50 bis 75 Prozent der Gesamtemissionen im Tourismus fallen bei der An- und Abreise an.» Für einen nachhaltigeren Tourismus seien Regulierungen nötig, etwa eine Kerosinsteuer.

Zwischen Nationalpark und Halligalli

Wer sich bei Fachleuten nach Pionieren im nachhaltigen Alpentourismus erkundigt, landet im Unterengadin und im Val Müstair. Die «Tourismus Engadin Scuol Samnaun Val Müstair AG» mit der langen Abkürzung TESSVM, die für die touristische Vermarktung von fünf Gemeinden im Unterengadin verantwortlich ist, setzt seit zehn Jahren auf ökologische Verantwortung. Es ist die einzige Schweizer Destination, die durch Tourcert zertifiziert ist, das strengste deutsche Label für Nachhaltigkeit und Unternehmensverantwortung im Tourismus.

Zugleich hat sie von Schweiz Tourismus die höchste Auszeichnung für Nachhaltigkeit erhalten. Mit dem 1914 gegründeten Nationalpark, dem ersten in den Alpen, verfügt die Region über ein starkes Aushängeschild für Naturschutz. Aber auch die Antithese gehört dazu: Samnaun, das mit dem österreichischen Ischgl verbunden ist, hat sich einen Namen als Halligalli- Skiort und Zollfrei-Enklave gemacht.

«Das Unterengadin ist betreffend nachhaltigen Alpentourismus ein Vorreiter.»Stefan Forster

Ein wichtiges Instrument für die Weiterentwicklung sei der Nachhaltigkeitsrat, erklärt Sven Berchtold, Nachhaltigkeitsverantwortlicher bei der Vereinigung TESSVM. 25 Vertreter von Bergbahnen, Kulturorganisationen, Gemeinden, Hotels und Unternehmen treffen sich halbjährlich und definieren Massnahmen, zum Beispiel, dass mehr regionale Produkte in den Restaurants angeboten werden. Man setzt auf Dialog und ist auch in Kontakt mit der Stiftung Pro Terra Engiadina, die sich für den Landschaftsschutz im Unterengadin einsetzt. Konflikte zwischen Naturschutz und Tourismus, die andernorts zu Grabenkämpfen führen, versucht man so zu verhindern.

«Das Unterengadin ist betreffend nachhaltigen Alpentourismus ein Vorreiter», sagt auch Stefan Forster, Professor am Institut für Umwelt und Natürliche Ressourcen der ZHAW. Am Center da Capricorns nahe dem Naturpark Beverin arbeitet seine Forschungsgruppe eng mit Partnerinnen aus der Praxis zusammen, auch ausserhalb des Kantons Graubünden. «Die Landschaft ist das Kapital des Tourismus. Sie ist für die Gäste zentral, zeigen unsere Befragungen », so Forster. «Trotzdem werden die Landschaftswerte in den strategischen Überlegungen vieler Tourismusorte noch zu wenig berücksichtigt.» Forster und sein Team entwickeln auch Konzepte, um die Schneeabhängigkeit der Destinationen zu reduzieren. Zum Beispiel durch Ausbau eines kulturellen Programms, so wie man es von der «Klangwelt» im Toggenburg kennt.

Forster brachte vor sieben Jahren auch die Idee der sogenannten Bergsteigerdörfer ins Unterengadin. Die internationale Initiative der Alpenvereine in Österreich, Deutschland, Italien, Slowenien und der Schweiz (SAC) beruft sich auf die Konvention zum Schutz der alpinen Bergregion. Merkmale von Bergsteigerdörfern sind unter anderem intakte Landschaften, ein harmonisches Ortsbild, gelebte Traditionen und starke Alpinkompetenz, also viel Wissen über Bergsport. Im ausführlichen Kriterienkatalog ist definiert, welche Entwicklungen verboten und welche zulässig sind.

«Ich halte nicht viel von Labels. Aber dieses passt exakt zu unserer Philosophie.»Roger Schorta

Forsters Gruppe hat eine Vorstudie gemacht, um das Konzept in die Schweiz zu holen, und bei der Erarbeitung der Dokumentation mitgeholfen, auch im Rahmen von Diplom- und Masterarbeiten von Studierenden. «Im Projekt Bergsteigerdörfer haben wir Grundlagen erarbeitet, um solche alternativen Angebote mittelfristig aus der Nische zu heben», sagt er. «Solche Angebote schaffen neue Bilder, die handlungsleitend sind und zu Imageträgern für grössere Destinationen werden.» Heute gibt es in den Alpen 38 solcher Bergsteigerdörfer, zwei davon in der Schweiz: Lavin sowie Guarda und Ardez, die als ein Dorf gelten.

Das Hotel Alvetern in Ardez ist einer von acht Partnerbetrieben der Bergsteigerdörfer. Hotelier Schorta hält eigentlich nicht viel von solchen Labels. «Aber dieses passt exakt zu unserer Philosophie.» Vor wenigen Tagen habe ein Gast in Bezug auf das Label gefragt, welche Neuerungen denn geplant seien. «Keine», habe er geantwortet. «Die Auszeichnung ist dazu da, um das zu bewahren, was wir haben.»