Wirtschaftspsychologin Anne Herrmann weiss: Viele kleinere Erlebnisse über das Jahr verteilt wirken sich positiver auf das Lebensglück aus als die grossen Ferien, bei denen die Erwartungen sehr hoch sind.| Foto: Lea Meienberg

Anne Herrmann, Geld interessiert mich nicht sehr. Was sagt das über mich aus?

Die Einstellung zum Geld wird durch die Erziehung geprägt. Waren Geld und Finanzen ein Thema im Haushalt? Wurde mit Bewunderung über vermögende Personen gesprochen? Oder gab es im Alltag Geldsorgen?

Dann stamme ich weder aus einer wohlhabenden noch einer armen Familie?

Es gibt auch Personen aus wohlhabenderen Schichten, die Geld nicht zum Thema machen. In Studien sagen heute viele Jugendliche, Geld zu verdienen sei ihnen nicht so wichtig. Sie stammen mutmasslich aus finanziell behüteten Familien, und ihnen ist gar nicht bewusst, wie viel es braucht, um den elterlichen Lebensstandard zu sichern. Geld wird in gut situierten Familien oft nicht thematisiert – nicht, weil es nicht wichtig ist, sondern weil es weniger als Argument bei Entscheidungen herangezogen wird. In weniger gut situierten Familien hören die Kinder dagegen häufiger, dass man aus finanziellen Gründen bestimmte Dinge nicht tun kann. Das prägt die Kinder.

Vielleicht hat dieses jugendliche Desinteresse auch mit dem Bild des rüpelhaften Reichen zu tun. Eine US-Studie besagt, dass Reiche im Strassenverkehr häufiger die Vorfahrt nehmen und mehr Kopierpapier stehlen. Verdirbt Geld den Charakter?

Das kann man so absolut nicht sagen. In den USA wird es ja auch bewundert, wenn Leute viel Geld verdienen. Zudem gilt umgekehrt auch nicht, dass alle armen Menschen gut sind. Auch Armsein kann zu Fehlverhalten führen, zum Beispiel, weil man sich einreden kann, man müsse sich Dinge unlauter beschaffen.

Expertin fürs Geldausgeben
Anne Herrmann ist Professorin für Wirtschaftspsychologie und Leiterin des Instituts für Marktangebote und Konsumentscheidungen an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Sie forscht über Konsumentscheide und Konsumverhalten und empfiehlt, beim Geldausgeben die Emotionen zu notieren: Haben wir uns gefreut? Hatten wir ein schlechtes Gewissen? War gar kein Gefühl dabei? Nach ein paar Wochen lernen wir so, unsere Beziehung zum Geld besser zu eruieren.

Viele Menschen in der Schweiz treibt die Angst vor sozialem Abstieg um – obwohl das Land im internationalen Vergleich reich ist. Warum ist das so?

Das ist ein interessantes Phänomen, weil die soziale Absicherung in der Schweiz stark ist. Man kann nicht so tief absteigen wie in anderen Ländern. Generell lässt sich sagen, dass Menschen emotional stärker auf Verluste reagieren als auf Gewinne. Man spricht von der Verlustaversion: Wer 800 Franken im Lotto gewinnt, freut sich zwar schon einen Moment lang. Aber wer 800 Franken verliert, wird sich deutlich länger und stärker darüber ärgern.

Die Fokussierung auf Verluste macht wohl tendenziell unglücklich?

Man kann das so sehen. Es kann einen aber auch motivieren, sich finanziell abzusichern. Davon leben die Versicherungen. Wir bezahlen lieber einen kleinen Betrag jährlich, um nicht in der Angst zu leben, grössere Beträge zu verlieren. Wir wollen unbedingt das Gefühl vermeiden, etwas verlieren zu können. Auch da treibt uns die Verlustaversion.

Der Ökonom Richard Easterlin hat 1974 aufgezeigt, dass die US-Gesellschaft trotz des damaligen konjunkturellen Booms nicht glücklicher geworden ist. Das Paradoxon wurde später in anderen Ländern bestätigt. Wie lässt sich das erklären?

Wir vergleichen unser individuelles Einkommen und unsere Lebenssituation mit unserem Umfeld. Wie stehe ich punkto Verdienst im Vergleich mit mir bekannten Personen da? Das ist es, was für uns zählt. Deshalb steigert es unser Glücksempfinden kaum, wenn sich unsere Umstände gegenüber früher verbessert haben oder wenn wir im Verhältnis zu Menschen in anderen Ländern besser dastehen.

«Wir gewöhnen uns an diese Annehmlichkeiten und nehmen sie als selbstverständlich an.»

Der Drang zum Vergleichen macht uns unzufrieden?

Er macht einen jedenfalls nicht zufriedener. Zudem ist es selektiv und irrational, was wir bei anderen wahrnehmen. Wenn der Nachbar ein teures Auto kauft, denken wir, dass es ihm besser gehen muss als uns selbst. Dabei hat er soeben sehr viel Geld für ein Auto ausgegeben und gerade weniger Geld zur Verfügung. Wenn wir uns anhand gewisser Statussymbole mit anderen vergleichen, kann uns das unzufriedener machen. Das hängt aber auch von unserer Werthaltung ab: Es macht uns vor allem dann unglücklicher, wenn wir der Überzeugung sind, dass solche Statussymbole uns glücklicher machen würden.

Also machen steigendes Wachstum und mehr Konsum die Leute auf die Dauer nicht glücklicher?

Für die westliche Konsumgesellschaft trifft das heute zu. Das war noch vor ein paar Jahrzehnten anders: In den Fünfziger- und Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts hat uns das Wirtschaftswachstum mehr Lebensqualität gebracht. So konnten sich zunehmend mehr Menschen Annehmlichkeiten wie Kühlschränke oder Farbfernseher leisten. Die Freude darüber war aber ziemlich begrenzt. Zum einen, weil – wie vorhin erwähnt – man sich damit schon bald nicht mehr von anderen abhob. Zum anderen machte sich die sogenannte Hedonic Adaptation bemerkbar: Wir gewöhnen uns an diese Annehmlichkeiten und nehmen sie als selbstverständlich an. Daher lösen sie keine Glücksgefühle mehr aus.

Glücklicher als Investitionen in Konsumgüter machen laut Glücksforschung Investitionen in Erlebnisse. Warum?

Es gibt ja den Spruch: «Wenn dich dein Geld nicht glücklich macht, gibst du es nur nicht richtig aus.» Erlebnisse und Aktivitäten machen uns glücklicher als materielle Güter, weil wir nicht nur die Freude an der Aktivität selber haben, sondern auch die Vorfreude davor und die schönen Erinnerungen danach. Meist sind diese Erfahrungen auch noch mit sozialen Erlebnissen mit Menschen gekoppelt, die einem wichtig sind. Das ist die Kombination der beiden glücksfördernden Prinzipien «positive Erlebnisse schaffen» und «Social spending», das Teilen des Glückserlebnisses mit anderen. Viele kleinere Erlebnisse über das Jahr verteilt wirken sich dabei positiver auf das Lebensglück aus als die einen grossen Ferien, bei denen die Erwartungen sehr hoch sind.

«Es lohnt sich, seine Bankbelege regelmässig auf unnötige Ausgaben zu prüfen.»

Seit Covid boomt das elektronische Geldausgeben und wir haben keinen sogenannten Schmerz des Bezahlens mehr, wie Sie es einmal ausgedrückt haben. Verleitet uns das elektronische Bezahlen zu unverhältnismässigen Ausgaben?

Wir geben tatsächlich leichter Geld aus, wenn der Schmerz des Bezahlens fehlt. Dank des elektronischen Bezahlens können wir aber auch im Nachhinein nachvollziehen, wofür wir Geld ausgegeben haben. So wird für uns ersichtlich, warum die Ausgaben gestiegen sind. Und wir können unser Verhalten entsprechend anpassen, etwa indem wir weniger spontan im Internet einkaufen. Es lohnt sich, seine Bankbelege regelmässig auf unnötige Ausgaben zu prüfen. Aber wer seine finanzielle Situation wirklich verbessern will, sollte sich vor allem die grossen Ausgaben anschauen und sich fragen, welche Prioritäten er oder sie setzen will: Wie gross muss die Wohnung sein? Muss es ein Neuwagen sein? Brauche ich überhaupt ein Auto? Sind alle meine Versicherungen auch sinnvoll?

Gewisse Geldinstitute bieten Kreditkarten an unter dem Motto: «Heute kaufen, später bezahlen». Ist das eine Schuldenfalle?

Solche Angebote sind nie umsonst, weil man Verzugszinsen bezahlt. Daher sollte man sich gut überlegen, welchen Einfluss so ein Angebot auf das eigene Konsumverhalten hat. Aus psychologischer Perspektive geht es darum, das eigene Lebensumfeld so zu gestalten, dass man positive Entscheide trifft. Das könnte für manche bedeuten, bewusst auf solche Dienste zu verzichten, weil man weiss, dass man für Spontankäufe anfälliger ist.

Wir steuern auf die bargeldlose Gesellschaft zu. Wie wird das die Gesellschaft verändern?

Menschen sind sehr unterschiedlich, auch im Umgang mit Geld. Für die einen ist es praktischer, kein Bargeld mehr verwenden zu müssen. Das Zahlungsformat verändert ihr Ausgabenverhalten nicht: Sie kaufen auch dann nur, was sie brauchen. Andere lassen sich durch bargeldloses Zahlen leichter in Versuchung bringen. Sie müssen Strategien entwickeln, um trotzdem gute Entscheidungen zu treffen – zum Beispiel indem sie bestimmte Limiten für ihre elektronischen Zahlungsmittel festlegen.