Architektin und Immobilienökonomin Sibylle Wälty forscht und lehrt an der ETH Zürich zu haushälterischer Nutzung des Bodens in Siedlungsgebieten. | Foto: Sophie Stieger

Sibylle Wälty, was ist für Sie Stadt und was Land?

Wenn man es als Gegensatzpaar verstehen will: Land bedeutet viel motorisierten Individualverkehr aufgrund langer Wege zu Arbeit, alltäglichen Erledigungen und Freizeit. Stadt dagegen bringt hohe Nutzungsdichte mit sich und damit die Möglichkeit, alle wichtigen Tätigkeiten im Radius von zehn Minuten zu Fuss zu erreichen.

Die Realität im urbanisierten Teil der Schweiz sind aber eher lange Pendeldistanzen im öV, Verkehrsstaus und zersiedelte Landschaften.

Durch die Entwicklungen in den Zentrumsstädten werden Einwohnerinnen und Einwohner in die Agglomerationen oder sogar ins weitere Umland ausgelagert, anstatt dass in den Städten selbst für mehr Wohnraum gesorgt wird. Die Folge ist das ungebremste Verkehrswachstum in den letzten 20 Jahren. Von einer gesunden, dichten Wohnumgebung, in der Arbeitsplatz, Versorgungs- und Freizeiteinrichtungen zu Fuss oder mit dem Velo erreichbar wären, sind wir noch weit entfernt – auch in städtischen Gebieten.

«Wer zentrumsfern wohnt, tut das nicht immer freiwillig.»

Gibt es eine ideale städtische Dichte?

In meiner Dissertation habe ich zwei Kriterien entwickelt, mit denen die gesetzlich verankerte haushälterische Bodennutzung erfüllt würde. Erstens: Innerhalb eines Radius von 500 Metern um einen ÖV-Knotenpunkt müssen mindestens 10 000 Menschen wohnen. Zweitens: In ungefähr diesem Perimeter sollte das Verhältnis zwischen Einwohnenden und Vollbeschäftigten 2 zu 1 betragen. So entsteht eine durchschnittliche Fussdistanz von zehn Minuten zwischen Wohnung, Arbeit und Freizeit.

Wie weit sind unsere Städte von dieser Dichte entfernt?

Die Entscheidungstragenden in den Städten haben in den letzten Jahrzehnten viel dafür getan, Arbeitsplätze anzuziehen, aber nicht dafür gesorgt, genügend Wohnungen bereitzustellen. Wer zentrumsfern wohnt, tut das nicht immer freiwillig. Das erklärt auch die anhaltend hohe Nachfrage nach städtischem Wohnraum.

Die allerdings zu hohen Wohnungspreisen führt.

Weil das Angebot zu knapp ist. Paradoxerweise verhindern oft die Bauund Nutzungsordnungen ausreichenden Wohnungsbau in den Zentren. Zum Vergleich: Zürich fehlen heute theoretisch rund 300 000 Einwohnende für den lokalen Arbeitsmarkt.

«Es ist zwingend, dass die Anwohnerinnen und Anwohner miteinbezogen werden«.»

War es früher anders?

Das Gebiet entlang der Langstrasse in Zürich hatte einst ein Verhältnis zwischen Einwohnenden und Vollbeschäftigten von 2 zu 1, heute liegt es bei 1 zu 2. Die Raumplanung muss in gut mit dem öV erschlossenen Gebieten höhere Nutzungsdichten zulassen, damit trotz Bevölkerungswachstum der Motorfahrzeugverkehr nicht weiter wächst und die Zersiedlung gestoppt wird.

Sie plädieren für das urbane Ideal der Zehn-Minuten-Nachbarschaft. Eine realistische Vision?

Wir brauchen mehr Stadt in der Stadt. Diesem Ideal entsprechen etwa in Bern das Gebiet um den Breitenrainplatz oder in Zürich das Gebiet um den Brupbacherplatz. Es geht darum, in städtischen Nutzungsplanungen solche Kompaktheit überhaupt zuzulassen. Das muss nicht auf der Ebene bestimmter Areale angegangen werden, sondern quartierweit, und es ist zwingend, dass die Anwohnerinnen und Anwohner miteinbezogen werden.