Einfache Massnahmen unterstützen die Biodiversität: Auf intensiv bewirtschafteten Flächen können Streifen und Inseln für wildes Blühen gelassen werden. | Bild: Markus Jenny

Um die Insektenwelt sei es schlecht bestellt, berichten Forschende aus der ganzen Welt. Doch wie ist die Lage in der Schweiz? In dem Land, in dem Wölfe gezählt und Vögel genaustens inventarisiert werden, gibt es nur wenig verlässliche Zahlen zu Insekten. In den Roten Listen werden nur 2500 Arten geführt, wovon 40 Prozent gefährdet sind – darunter viele Schmetterlinge und Käfer. Wie es aber um die anderen der geschätzt 28 000 in der Schweiz ansässigen Insektenarten steht, weiss niemand genau. Auch vom Biodiversitäts- Monitoring, das im Jahr 2001 gestartet ist, sind nicht viele Daten zu erwarten. Wegen Mangels an Experten und des hohen Aufwands wurde damals beschlossen, sich auf Tagfalter und Wasserinsekten zu konzentrieren.

Lässt sich angesichts des gravierenden Datenmangels überhaupt eine allgemein gültige Aussage zum Zustand der Schweizer Insektenwelt machen? Für Wolfgang Nentwig, emeritierter Professor für Ökologie an der Universität Bern, ist die Lage eindeutig: «Jeder kann den Insektenschwund beobachten. Es fliegen weniger Insekten nachts um die Strassenlaternen, man sieht seltener grosse Schmetterlinge, Marienkäfer oder Heuschrecken. Noch mehr Monitoring halte ich für völlig überflüssige Alibiforschung, die uns in 20 Jahren diejenigen Antworten gibt, die wir heute bräuchten.»

«Jeder kann den Insektenschwund beobachten.»Wolfgang Nentwig

Man müsse die Lage differenzierter betrachten, meint dagegen der Entomologe Ladislaus Reser vom Natur-Museum Luzern. Seit 50 Jahren beobachtet er Nachtfalter: «Nach meinen Beobachtungen findet in den letzten Jahren kein plötzliches, grossflächiges Massensterben der Nachtfalter in der Schweiz statt.» Er könne an einem natürlichen, gut geeigneten Ort und in einer witterungsmässig gut geeigneten Nacht mehr als 200 Nachtfalterarten zählen. Die Betonung liegt auf «gut geeignetem Ort». Denn je ungestörter ein Lebensraum, desto mehr Arten und Individuen können dort leben. «Man kann deshalb etwaige negative Fundergebnisse nicht pauschal verallgemeinern. Die Nachtfalter – und wohl auch andere Insekten – verschwinden zum Teil lediglich aus den beeinträchtigten Gebieten, und zwar allmählich, mindestens schon seit mehr als 100 Jahren», so Reser.

Mehr Lebensraum, weniger Pestizide

Diese Erfahrung macht auch der Biologe Georg Artmann-Graf, der seit über 30 Jahren Insekten im Jura inventarisiert. «Ich habe über 5000 Arten erfasst. Hier hat sich die Artenzahl und auch die Menge an Insekten insgesamt über die vielen Jahre kaum verändert. Doch ich erachte die Verarmung der Natur, die ich in den vergangenen rund 65 Jahren im Schweizer Mittelland erlebt habe, als dramatisch.»

Problem Nummer eins für Insekten ist also der Verlust von Habitaten durch Urbanisierung, Rodung von Wäldern und vor allem durch die Landwirtschaft. Selbst auf eher extensiv bewirtschaftetem blumenreichem Grünland leben weniger Arten, als man annehmen möchte. Eine Ursache dafür liegt in der frühen Mahd. Verschiebt man das Mähen um vier Wochen auf Mitte Juli oder lässt jedes Mal Pflanzenstreifen bis zur nächsten Mahd stehen, steigt die Artenzahl und auch die Biomasse an bestäubenden und pflanzenfressenden Insekten deutlich an, wie Raphaël Arlettaz und Kollegen vom Institut für Ökologie und Evolution der Universität Bern beobachteten.

«Ich erachte die Verarmung der Natur als dramatisch.»Georg Artmann-Graf

Ein weiteres Problem für Insekten ist der Einsatz von Pestiziden. Zwar sank ihr Gebrauch zwischen 1990 und 2004, ist aber jetzt wieder beim Wert von vor zwanzig Jahren angelangt – bei rund 2200 Tonnen pro Jahr. Nentwig fordert deshalb: «Wir müssten die Mengen an Pestiziden begrenzen. Hier ist eindeutig die Politik gefragt.» Doch der Bundesrat lehnte letztes Jahr die Volksinitiative «Für eine Schweiz ohne synthetische Pestizide» ab. Nentwig sieht die beste Option für weniger Insektizide in der Verwendung insektenresistenter Pflanzen, die man durch gentechnische Veränderung erreichen kann: «Leider aber ist Gentechnik hier wie in Deutschland und Österreich nicht erwünscht.» Eine Alternative wäre die klassische Züchtung mit Unterstützung gentechnischer Methoden, wofür aber erst einmal passende natürliche Resistenzgene gefunden werden müssten.

Wie können Bauern das Überleben von Tieren und Pflanzen auf landwirtschaftlichen Flächen unterstützen? Landwirte müssen seit den 90er-Jahren bis zu sieben Prozent ihrer Flächen extensiv bewirtschaften. Doch das reiche nicht, um den Verlust an Biodiversität zu stoppen, sagt Sibylle Stöckli vom Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL). «Es geht nicht nur um die Quantität, die ist sogar erreicht. Es geht um die Qualität, den richtigen Standort, die Pflege, die Verteilung der Flächen.»

Massnahmenkatalog für Bauern

Um dies zu fördern, entwickelten die FiBL-Wissenschaftler und die Schweizerische Vogelwarte Sempach im Rahmen des Projekts «Mit Vielfalt punkten – Bauern beleben die Natur» einen Katalog von 30 Massnahmen. Davon konnten die am Projekt teilnehmenden Landwirte diejenigen umsetzen, die am besten zu ihrem Betrieb passten. In Form spezifischer Beratungen vor Ort boten die Forschenden hierbei Hilfe an. Ausserdem entwickelten sie ein neuartiges Punktesystem, anhand dessen Landwirte feststellen können, wie ausgeprägt der Artenreichtum auf ihrem Betrieb ist und wie Massnahmen wirken, ohne dass dafür eine vollständige Inventur von Pflanzen- und Tierarten nötig ist. Wie Stöckli berichtet, zeigte dies Wirkung: «Die beratenen Betriebe setzten im Vergleich zu Betrieben ohne Beratung mehr Massnahmen um und erreichten auch viel mehr Punkte.» Die Idee einer solchen naturfreundlichen Produktion wollen die Forschenden nun künftig noch mehr bei Landwirten, politischen Entscheidungsträgern und in der Bevölkerung bekannt machen.

Wie naturschonende Landwirtschaft gelingen kann, zeigt ein schon fast zwanzig Jahre dauerndes Experiment auf der Hope Farm in der Nähe von Cambridge (England). Dort wird Landwirtschaft konventionell betrieben, aber gleichzeitig wurden beispielsweise Hecken und Gras- und Blühstreifen gepflanzt, die Vögeln mehr Nistgelegenheiten und Nahrung verschaffen sollten. Über die Jahre nahm tatsächlich trotz intensiver Landwirtschaft die Anzahl von Vogelarten und Brutpaaren zu. Nimmt man das als Indiz für zurückkehrende Artenvielfalt, dann geht es auf den HopeÄckern auch den Insekten besser.