Forschen in der Krisenzone

Matti Barthel von der ETH Zürich ist ein Schnappschuss gelungen: Im Nationalpark Virunga in der Demokratischen Republik Kongo sammelte er Bodenproben. Gleichzeitig kämpfen dort Parkwächter gegen Aufständische und Wilderer. | Bild: Matti Barthel/ETH Zürich

Syrien, Jemen, Ukraine – Berichte über Kriegstote aus diesen Ländern sind an der Tagesordnung. Doch diese Regionen sind bei Weitem nicht die einzigen: Insgesamt 372 Konflikte weltweit, davon 213 gewaltsam, zählte das Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung 2018. Zahlen, die die Bedeutung der akademischen Friedens- und Konfliktforschung belegen. Diese sucht nach Grundmustern, Ursachen und Dynamiken von Auseinandersetzungen, um diese in der Zukunft zu verhindern oder abzuschwächen.

Wer Konflikte quantitativ untersuchen möchte, kann dies teilweise vom Schreibtisch aus realisieren – beispielsweise durch die Analyse von Zeitungsartikeln, Online- Portalen oder Satellitenbildern. Ebenso wichtig ist jedoch die Forschung in den betroffenen Gebieten selbst. Für Oliver Jütersonke vom Zentrum für Konflikt, Entwicklung und Friedensförderung am Graduate Institute in Genf ist die Forschung vor Ort beispielsweise dann zentral, wenn man die Lage der Individuen in einem unsicheren Gebiet verstehen will: «Die Frage, wie ein Bürger im Nordirak seinen Alltag unter der Herrschaft des IS empfand, kann aus der Distanz nicht beantwortet werden.»

«Feldarbeit ist ein ethisches und politisches Minenfeld.»Rahel Kunz

Doch die Feldforschung in von gewaltsamen Auseinandersetzungen geprägten Gebieten ist anspruchsvoll, weil der Zugang zu Interviewpartnern häufig erschwert ist. «Es ist sehr schwierig, grosse Umfragen zu machen», sagt Jütersonke, der früher auch für die Weltbank in Osttimor zu urbaner Gewalt forschte. «Wenn wir in gewissen Stadtvierteln auf Leute zugegangen sind, hat sich oft niemand getraut, detaillierte Aussagen zu machen.»

Der Kalte Krieg und die Forschung
Die Friedens- und Konfliktforschung etablierte sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts als eigenständige wissenschaftliche Disziplin. Mit der Auflösung der Sowjetunion und dem damit verbundenen Ende der Ost-West- Konfrontation erlebte sie einen Umbruch, der das Forschungsgebiet bis heute prägt. Vor 1991 lag der Fokus auf der nuklearen Aufrüstung und auf spieltheoretischen Analysen von Sicherheitsdilemmata.
Nach dem Kalten Krieg rückten neue Konfliktarten in den Vordergrund. Neu wurden innerstaatliche Konflikte, Terrorismus und Guerillakriege vermehrt untersucht. Auch die Fragen nach den Ursachen wurden neu losgelöst von Ost-West-Ideologien analysiert und betrachten beispielsweise auch das Klima oder Minderheitenprobleme.

Zudem stellt sich in der Feldforschung in Konfliktgebieten eine Reihe von ethischen Problemen. Denn die Wissenschaftler können ihre Auskunftspersonen durch ihre Arbeit in eine physische oder psychische Bedrohungslage bringen und damit zu einem Teil des Problems werden. «Feldarbeit ist ein ethisches und politisches Minenfeld», sagt Rahel Kunz, die an der Universität Lausanne lehrt und in verschiedenen Post- Konflikt-Situationen, unter anderem im Rahmen eines SNF-Projekts in Liberia und Nepal, zu Gleichstellungsfragen forschte.

Störvariable Forschung

Es ist allgemeine Herausforderung für die Sozialwissenschaftlerinnen, dass sie, wenn sie sich zu Forschungszwecken in ein gesellschaftliches Gefüge begeben, selbst zu Akteurinnen werden, die den Forschungsgegenstand durch ihre Präsenz verändern. Obwohl es zu den Grundlagen der empirischen Sozialforschung gehört, diese Situation zu reflektieren, bleibt die Forschung in Konfliktgebieten aussergewöhnlich: Sie wird schnell existenziell. Zum Beispiel für Interviewpartner, die für ihre Teilnahme an Forschungsprojekten bestraft werden. Oder Frauen, die über häusliche Gewalt Auskunft geben und sich damit dem Risiko aussetzen, noch mehr Gewalt zu erfahren. Zudem sind Menschen in Konfliktgebieten oft traumatisiert. Durch ihre Teilnahme an einem Forschungsprojekt setzen sie sich dem Risiko einer Retraumatisierung aus.

Bei der Forschung in Konfliktgebieten ist es zudem schwierig, die wissenschaftliche Objektivität aufrechtzuerhalten. Zum Beispiel, wenn Forschende Mitleid mit den von ihnen befragten Personen haben oder wütend werden. Oder wenn sie von der einen oder anderen Seite instrumentalisiert werden. Oliver Jütersonke hat dies in Madagaskar erlebt: «Wenn man als Forscher in ein von Konflikten geprägtes Land kommt und sich mit bestimmten Personen anfreundet, kann es schon sein, dass man in eine politische Ecke gedrängt wird.» Dann gelte man schnell nicht mehr als unabhängig und neutral, sondern werde als parteiisch wahrgenommen, was das Verhalten der Auskunftspersonen natürlich beeinflusse.

Keinen Schaden anrichten

Diese Herausforderungen zeigen, dass Forschende sich immer dem lokalen Kontext anpassen und konfliktsensitiv vorgehen müssen. So sollten sie sich der verschiedenen Interessen in den Auseinandersetzungen und der spezifischen Gegebenheiten vor Ort bewusst sein und sich darüber Gedanken machen, wie dies ihre Forschungstätigkeit beeinflussen kann. «Das oberste Handlungsprinzip von Forschenden in einem Konfliktgebiet muss heissen: ‹do no harm›», sagt Lars-Erik Cederman. Er forscht an der ETH Zürich über die Zusammenhänge struktureller Ungleichheit und gewaltsamer Konflikte und erhielt 2018 den Schweizer Wissenschaftspreis Marcel Benoist.

Sehr wichtig für einen solchen konfliktsensitiven Ansatz sind Partnerschaften mit Wissenschaftlerinnen, NGOs und anderen Stakeholdern vor Ort. «Lokale Forschungspartner ermöglichen den Zugang zu Interviewpartnern, unterstützen bei Bedarf in der linguistischen und kulturellen Übersetzung und erlauben auch ein langfristiges Engagement vor Ort», sagt Rahel Kunz.

«Wenn man sich als Forscher mit bestimmten Personen anfreundet, kann es schon sein, dass man in eine politische Ecke gedrängt wird.»Oliver Jütersonke

Lohnt sich in Anbetracht der methodologischen und ethischen Herausforderungen die risikoreiche Forschung in Konfliktgebieten? Welchen konkreten Nutzen bringt die Friedensforschung in der politischen Realität? Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Forschungsresultate in die Praxis zu übertragen. So können Forschende versuchen, mit ihren empirischen Erkenntnissen politische Entscheidungsträger zu beeinflussen. Sie können zudem in internationalen Expertenkommissionen zur Konfliktmediation Einsitz nehmen oder versuchen, mit Öffentlichkeitsarbeit Diskussionen anzuregen.

Ob die Friedensforschung tatsächlich Konflikte verhindern und die Welt zu einem friedlicheren Ort machen kann, ist allerdings schwierig herauszufinden. Denn die Dynamik gewaltsamer Konflikte ist komplex, und es mangelt an verfügbaren Daten. «Es ist in den meisten Fällen kaum möglich, den genauen Einfluss unserer Forschung auf Friedens- und Konfliktprozesse zu messen», sagt ETH-Professor Lars-Erik Cederman.

Wie Cederman weiter ausführt, ist der Einfluss der akademischen Konfliktforschung auf das Handeln politischer Entscheidungsträger selten direkt. «Sie trägt aber dazu bei, die Debatte über Massnahmen von Staaten und Organisationen zu beeinflussen.» Gerade im Zeitalter von Fake News sei eine evidenzbasierte Entscheidungsfindung mit Fakten zu Konflikttrends und -ursachen sehr wichtig. Ähnlich sieht das auch Laurent Goetschel, Direktor der Schweizerischen Friedensstiftung Swisspeace: «Wenn wir Erkenntnisse mit Umsetzungspotenzial generieren und dafür sorgen können, dass ein Thema auf die Verhandlungsebene gebracht wird und die richtigen Akteure am Verhandlungstisch sitzen, ist schon viel erreicht.» Beispielsweise unterstützt Swisspeace die syrische Zivilgesellschaft darin, ihren Anliegen Gehör zu verschaffen und im Friedensverhandlungsprozess mitzuwirken. «Mit unserer Arbeit möchten wir auch dazu beitragen, den am Konflikt beteiligten Akteuren andere Wege als Gewalt aufzuzeigen.»