Die Daten der Doktorandin sahen eigentlich grossartig aus. Nun stellt sie ihre Ergebnisse an einer Konferenz vor. Doch die Fachkollegen langweilen sich. Sie fällt bei ihnen durch. | Illustration: Melk Thalmann

Vor der Covid-19-Pandemie war Emma Hodcroft eine «durchschnittliche Postdoktorandin», wie sie selbst sagt. Die Epidemiologin arbeitete an der Universität Basel zusammen mit Kolleginnen und Kollegen an der öffentlichen Softwareplattform Nextstrain. Diese analysiert das Genmaterial von neu auftauchenden Virenmutationen und bereitet die Daten grafisch auf. Trotz der Relevanz dieser Forschungsarbeit änderte sich nichts am Status von Hodcroft. Bis sie anfing zu twittern.

Postdocs bilden neben den Doktorierenden den grossen Pulk der Nachwuchsforschenden. Sie wandern von einer befristeten Stelle zur anderen und sammeln Forschungsresultate und Publikationen, um sich irgendwann um eine Assistenzprofessur zu bewerben. Schliesslich soll diese Laufbahn zu einer ordentlichen Professur führen. «Allerdings klappt das nur für wenige, denn auf die riesige Anzahl an Doktorierenden und Postdocs gibt es nur einen Bruchteil an Professorenstellen», sagt Michael Hill, stellvertretender Abteilungsleiter Strategie beim SNF. Also gleicht der Wissenschaftsbetrieb einer bauchigen Weinflasche: unten die grosse Masse an Aspiranten, die, um eine Position als Professor oder Professorin zu erlangen, oben durch einen engen Flaschenhals passen müssen. Welche Erfolge machen hier den Unterschied?

Egal, in welchem Journal

«Natürlich ist der Anspruch da, die Besten auszuwählen», sagt Hill. Doch er ist skeptisch: «Was das ausmacht, darauf gibt es viele mögliche Antworten.» Bisher wurden akademische Leistungen fast ausschliesslich an der Anzahl Publikationen gemessen, vor allem solcher in renommierten Fachzeitschriften. Doch diese Bewertungskriterien ändern sich zurzeit. Zwei Initiativen treiben diesen Wandel voran: erstens die Dora-Deklaration, die neu definiert, wie wissenschaftliche Leistungen gewichtet werden sollen, wenn es um die Besetzung von Positionen oder um die Vergabe von Geldern geht. Zweitens die Open-Science-Kampagne, die für mehr Sichtbarkeit und Transparenz sorgen will.

«Wir müssen das Thema Dora in den Rekrutierungsprozessen einfach immer wieder ansprechen.»Ambrogio Fasoli

Dora steht für das englische «Declaration of Research Assessment» und wurde 2013 von Redaktoren wissenschaftlicher Fachjournale ins Leben gerufen. Die Deklaration kritisiert, dass akademische Leistungen seit jeher mit Publikationen in renommierten Fachzeitschriften gleichgesetzt wurden. Insbesondere sollen Entscheide in Bewerbungsverfahren nicht länger vom mächtigen Journal Impact Factor abhängen, der darauf beruht, wie viele Zitierungen Artikel in diesem Journal im Durschnitt erhalten haben. Dieser Durchschnittswert sagt per Definition nichts über die Qualität eines einzelnen Forschungsartikels aus.

Stattdessen soll gute Forschungsarbeit honoriert werden, egal, in welchem Journal sie erscheint. Zudem sollen neu auch andere wissenschaftliche Leistungen gewürdigt werden, etwa wichtige Computermodelle oder Datensätze oder Einflussnahmen auf die Politik. Auf diese Weise sollen Auswahlprozesse fairer werden – vor allem für Forschende am Anfang ihrer Karriere.

Für die Alten hat sich das System bewährt

Längst haben die meisten Schweizer Hochschulen die Dora- Deklaration unterzeichnet, und der SNF unterstützt die Initiative finanziell. Allerdings: Dora in die Sitzungsräume und Büros der Gruppenleitenden zu bringen, ist einfacher gesagt als getan. Denn um in Bewerbungsverfahren eine erste Vorauswahl zu treffen, müssen Entscheidungsträgerinnen stark filtern. Und dafür sind Messgrössen wie der Journal Impact Factor oder der Name von Fachzeitschriften ungemein praktisch. Zudem hat sich für jene, die heute entscheiden, also Gruppenleiter, Professorinnen und Mitglieder von Evaluationskomitees, das bisherige System bewährt.

Dass sich der Sinneswandel nicht automatisch vollzieht, hat vor zwei Jahren eine Ausschreibung eines Gruppenleiters der ETH Zürich gezeigt. Er hatte für eine Postdoc- Stelle dezidiert Bewerbende mit Publikationen mit hohem Journal Impact Factor gesucht, obschon sich die Hochschule damals Dora längst verschrieben hatte. Immerhin: Die offensichtliche Missachtung der Prinzipien wurde über Twitter von der Forschendencommunity stark kritisiert. Der betreffende Gruppenleiter musste die Ausschreibung umformulieren und sich entschuldigen.

«Durch meine Sichtbarkeit haben sich neue Forschungszusammenarbeiten ergeben.»Emma Hodcroft

«Wir müssen das Thema einfach immer wieder ansprechen », sagt dazu Ambrogio Fasoli, Associate Vice President für Forschung an der EPFL. Er hat schon etliche Komitees für die Ernennung von neuen Assistenzprofessorinnen sowie für die Berufung zu Professuren geleitet. «In diesen Prozessen machen wir schon vieles richtig.» Fasoli räumt aber auch ein, dass viele seiner Kollegen noch sehr am Impact Factor hängen. Und dass er keine Möglichkeit hat, zu kontrollieren, wie die rund 250 Professorinnen und Professoren der EPFL ihre Gruppenmitglieder rekrutieren.

Zurück zu Emma Hodcroft. Vor der Pandemie hatte ihr Twitterkanal 800 Follower. «Mir fiel bald auf, dass viele meiner Bekannten mir die gleichen Fragen zum Virus und zu seiner Verbreitung stellten», erzählt die Epidemiologin heute. Darum begann sie, diese Fragen in Twitter-Threads zu beantworten – schmissig und verständlich. Heute folgen ihr über 65 000 Menschen. Inzwischen ist sie in unzähligen Fernsehinterviews und Medienartikeln aufgetreten. Zweifelsohne hat sie den öffentlichen Diskurs um das Virus entscheidend mitgeprägt. Doch: Hilft ihr das auch in ihrer Karriere? Einerseits ja, sagt Hodcroft, die inzwischen an der Universität Bern eine Postdoc-Stelle hat. «Durch meine Sichtbarkeit haben sich neue Forschungszusammenarbeiten ergeben.»

Andererseits lässt sich diese Sichtbarkeit nicht in einen akademischen Lebenslauf übertragen – nicht auf eine Weise, die den damit zusammenhängenden Aufwand und Einfluss abbildet. Hodcroft benötigte für ihre erfolgreichsten Threads, die einige zehntausend Male retweetet und gelikt wurden, je rund sechs Stunden Arbeit – Zeit, die sie nicht für die Forschung eingesetzt hat. So bleibt trotz Dora die Unsicherheit, wie stark solche Leistungen gewichtet werden, vor allem im Vergleich mit der Publikationsliste.

Sei sichtbar oder verschwinde

Eingebettet ist diese angestrebte Öffnung dessen, was als wissenschaftliche Leistung gelten soll, in einen weiteren Trend: Open Science. Wissenschaftliche Publikationen und Daten, so die Idee, sollen für alle frei zugänglich sein. Open Access bezeichnet die öffentliche Verfügbarkeit von Publikationen, Open Research Data jene wissenschaftlicher Daten. «Beides verschafft Forschenden eine grössere Sichtbarkeit », sagt Luis Velasco-Pufleau, Musikwissenschaftler an der Universität Bern und Mitglied der Jungen Akademie, wo er sich mit Open Access befasst. Damit wachse aber auch der Druck, tatsächlich sichtbar zu sein, sagt Velasco- Pufleau. «Der wissenschaftliche Anspruch ‹publish or perish› hat sich verschoben zu ‹publish and be visible or perish›», erklärt er.

«Wir sind nun nicht mehr ausschliesslich von den grossen Publikationshäusern abhängig.»Luis Velasco-Pufleau

Für ihn überwiegen dennoch klar die Vorteile von Open Access und der Philosophie öffentlicher wissenschaftlicher Resultate, vor allem für junge Forschende. Denn mit der wachsenden Zahl solcher Zeitschriften gibt es mehr Möglichkeiten, zu publizieren. «Wir sind nun nicht mehr ausschliesslich von den grossen Publikationshäusern abhängig, die zuvor das Monopol über solche Veröffentlichungen besassen.»

Vielfach würden gerade in jüngerer Zeit gegründete Open-Access-Journale Nachwuchsforschende aktiv bei der Publikation ihrer Resultate unterstützen, sagt Velasco- Pufleau, der selbst in der Redaktion von zwei internationalen Open-Access-Zeitschriften sitzt. Ausserdem bietet sich die Möglichkeit, online auch andere Leistungen als die Publikationen zu präsentieren – etwa zur Verfügung gestellte Datensätze oder Einflussnahmen auf Politik und Öffentlichkeit, wie bei Emma Hodcroft.

«Für die meisten jungen Forschenden ist es selbstverständlich, Open Access zu publizieren.»Micaela Crespo Quesada

«Für die meisten jungen Forschenden ist es selbstverständlich, Open Access zu publizieren», sagt denn auch Micaela Crespo Quesada, Open-Access-Verantwortliche an der Universität Lausanne. Doch längst werden noch nicht alle Forschungsresultate frei zugänglich publiziert. Bei der Universität Lausanne sind es inzwischen 56 Prozent, wenn man alle Publikationen – auch Bücher – miteinbezieht. «Der OA-Anteil steigt kontinuierlich an, allerdings langsam», sagt Crespo Quesada.

Ältere, etablierte Forschende hätten manchmal Mühe mit dem Gedanken und dem Aufwand, der damit verbunden ist. Bei den Journalen haben sich ganz verschiedene Modelle für Open Access entwickelt. Eines der teuersten hat das renommierte Nature: Um ihren jüngsten Forschungsartikel Open Access zu schalten, musste auch Emma Hodcrofts Arbeitsgruppe rund 10 000 US-Dollar hinblättern.

Am Anfang eines Kulturwandels

Noch komplizierter wird es, wenn es im Sinn von Open Research Data darum geht, wissenschaftliche Daten offenzulegen. Diese, so die Idee, sollen von vielen Forschenden für verschiedenste Untersuchungen genutzt werden können. «Zudem erhöht das Offenlegen der Daten das Vertrauen in die Wissenschaft», sagt Matthias Töwe, Leiter der Gruppe Forschungsdatenmanagement und Datenerhalt bei der ETH-Bibliothek. «Daten zu teilen, sollte eigentlich ganz selbstverständlich zu guter Wissenschaft dazugehören.»

In manchen Forschungsfeldern sei das bereits der Fall, sagt Töwe, etwa in den Geo- und Klimawissenschaften, wo sich die Forschenden naturgemäss auf die gleichen Datensätze stützen. Doch andernorts sträuben sich viele noch, aus Angst, ihren Konkurrenten einen Vorteil zu verschaffen, und wegen der Ressourcen, die sie dafür einsetzen müssen.

«Wir müssen Wege finden, um Leistungen im Bereich Open Research Data in den akademischen Lebenslauf einzubinden.»Matthias Töwe

Denn damit die Daten für andere nutzbar werden, müssen sie aufbereitet, standardisiert und umfassend beschrieben sein. Dazu ist viel Arbeit vonnöten. «Um Open Research Data zu fördern, braucht es Hilfsmittel für die Forschenden sowie Anreize dafür, die nötigen Ressourcen aufzuwenden», sagt Töwe. Vorstellbar wäre es etwa, Grants für solche Projekte auszuschreiben. «Wir müssen Wege finden, diese Leistungen im Dienst der Wissenschaft entsprechend anzuerkennen und in den akademischen Lebenslauf einzubinden.» Bis es aber so weit ist, dessen ist sich Töwe bewusst, bleibt es gerade für junge Forschende schwierig, die nötige Zeit und Arbeit in die Datenöffnung zu investieren. Auch hier ist das Ideal also noch zu wenig in der Realität angekommen.

All diese Trends – Dora, Open Access und Open Research Data – öffnen im Prinzip den Horizont für das, was als wissenschaftliche Leistung gilt. In Richtung einer Würdigung von Datensätzen, Computermodellen oder Kommunikationsleistungen – nebst guten Forschungspublikationen. Doch wir stehen erst am Anfang dieses Kulturwandels.