Die Zeit steht auch im Kloster Einsiedeln nicht still. Pater Jean-Sébastien gehört zu den jüngeren Brüdern und hat seine Entscheidung, Mönch zu werden, sehr bewusst und reflektiert getroffen. | Bild: Christian Grund

Es ist ein grauer Morgen, bald neun Uhr. Der Historiker Ivo Berther geht über den weiten Platz vor dem Kloster Einsiedeln. Vorbei am Frauenbrunnen mit der kupfervergoldeten Statue der heiligen Maria; vorbei an der weltberühmten Stiftskirche. Durch ein Tor hinter die dicken Klostermauern. Im Abteihof kommt ein Mönch in schwarzer Kutte auf ihn zu.

Pater Jean-Sébastien ist seit über vier Stunden auf den Beinen und hat bereits zweimal gebetet. In der Kaligrafie-Werkstatt bietet er Berther einen Stuhl und eine Tasse Kaffee an. Der Forscher ist zum zweiten Mal angereist, um mehr über die Lebensgeschichte des 49-jährigen Benediktinermönchs zu erfahren. Im kleinen, kargen Raum, in dem sich auf Bücherregalen Papier zum Malen stapelt und auf grossen Holztischen Gläser voller Farbstifte stehen, gibt der Pater regelmässig Kaligrafie- Workshops für externe Besucher.

Das Kunsthandwerk hat er in den 1990er-Jahren an der Académie de Meuron in Neuenburg gelernt, wo er mit einer Arbeit über die buddhistisch- tibetanische Kunst abschloss. Danach entsagte er jedoch einer Karriere als Künstler genauso wie dem Zusammenleben mit Familie und Freunden und entschied sich als 27-Jähriger für ein Leben mit hundert gleichgesinnten Männern im 934 nach Christus gegründeten Kloster in der Schweiz. Trotz gelegentlicher Krisen habe er diesen Schritt nie bereut, erzählt er gut gelaunt.

Historiker Ivo Berther von der Universität Luzern führt für seine Doktorarbeit lange Gespräche mit Benediktinern, unter anderem mit Jean- Sébastien, Mönch in Einsiedeln. | Fotos: Christian Grund

Hinter der imposanten Erscheinung der Abteikirche von Einsiedeln liegen die Gebäude des Klosters – eine Welt, die nicht für alle zugänglich ist.

Der ehemalige Kunststudent Jean-Sébastien entwickelt eigene Schriften und entwirft Karten für den Klosterladen.

Ein Leben für den Glauben und die Kunst: Pater Jean-Sébastien hat im Kloster sein persönliches Atelier eingerichtet, wo er sich oft zum Malen zurückzieht.

Lebensgeschichte als Forschungsobjekt: Benediktinerpater Jean-Sébastien vom Kloster Einsiedeln erzählt, warum er Mönch geworden ist.

Berther setzt sich an den farbbefleckten Tisch. Er kramt ein Aufnahmegerät aus dem Rucksack und stellt es vor dem Pater auf den Tisch. Dann noch ein zweites daneben. Falls ein Gerät ausfallen sollte, hat er damit ein Back-up. Schliesslich sind die aufgezeichneten Gespräche das Herz seiner Doktorarbeit.

Seit August 2019 arbeitet er am Lehrstuhl für Kirchengeschichte der Universität Luzern an seiner Dissertation, die Teil des übergeordneten Forschungsprojekts «Lebensgeschichten von Benediktinerinnen und Benediktinern » ist. Er führt Interviews in Männerklöstern und interessiert sich vor allem für die Lebenswelt, Identität und die Konstruktion von Männlichkeit. Eine Lehrstuhlkollegin tut dasselbe in Frauenklöstern. Die Forschenden arbeiten dafür mit der Methode Oral History. In langen Gesprächen mit sehr offenen Fragen erschliessen sie die Lebenswelten der Nonnen und Mönche. Siebzig Interviews in 21 Klöstern, vorwiegend in der Deutschschweiz, sind bis Projektende im Jahr 2023 geplant.

«Mönche sind vor allem Suchende, ähnlich wie Forschende auch.»Pater Jean-Sébastien

In der Werkstatt zeigt nun ein rotes Licht, dass die Aufnahme läuft. Ivo Berther stellt seine erste Frage: «Pater Jean-Sébastien, warum bist du Benediktinermönch geworden und bist es immer noch?» Mit gewählten Worten beginnt der Mönch in einem leicht französisch gefärbten Hochdeutsch zu erzählen. «Das ist, wie wenn man Durst oder Hunger hat: Man sucht die Quelle, wo man trinken oder essen kann.»

Berther hat keinen Fragenkatalog und kein Papier für Notizen vor sich, er konzentriert sich ganz auf die Antworten des Mönchs und versucht, an dessen Aussagen anzuknüpfen. Innert Minuten dreht sich die Erzählung um die grossen Fragen des Lebens: Wahrheit, Liebe, Glaube und Toleranz. Für Pater Jean-Sébastien sind Mönche vor allem Suchende – «ähnlich wie Forschende auch».

Ohne Vertrauen geht es nicht

Nach dem rund einstündigen Interview lädt der Mönch den Forscher zum Mittagsgebet und zum anschliessenden Mittagessen ein. Plaudernd gehen sie über die weitläufige Klosteranlage mit eigener Schule, Feuerwehr, Weinkellerei und Pferdeställen. Nur selten kreuzen andere Mönche ihren Weg – aber wenn, dann ist die Begrüssung freudig und höflich, ganz so, als wäre jedem jederzeit bewusst, dass man die gelebte Gemeinschaft pflegen muss. Auf dem Weg zur Kirche spricht der Benediktinerpater mehr über die Welt als über Gott. Zum Beispiel über die Serie Game of Thrones, die ihm gut gefallen hat, oder über einen Besuch am Cern in Genf. Er interessiere sich sehr für die Quantenphysik, weil damit alternative Erklärungen für natürliche Phänomene möglich seien, so der Mönch.

«Bis jetzt habe ich vor allem unglaublich neugierige, witzige und teils auch sehr progressive Menschen erlebt.»Ivo Berther

«Wie die meisten hatte auch ich Vorurteile, dass Mönche weltabgewandt und verschlossen sind», gesteht Ivo Berther. «Doch bis jetzt habe ich vor allem unglaublich neugierige, witzige und teils auch sehr progressive Menschen erlebt. » Der Forscher hat mehrmals in Klöstern übernachtet, um am Tagesablauf teilzunehmen. Die Erfahrungen helfen ihm, die Erzählungen der Mönche besser zu verstehen und Aussagen zu kontextualisieren. «Aber noch wichtiger ist, dass ich Vertrauen aufbauen kann», sagt Berther. Ohne Vertrauen sei Oral History nicht möglich.

Es ist kurz nach elf Uhr; bald beginnt die Mittagsmesse. Berther begleitet den Pater in die barocke Stiftskirche. Drinnen verliert sich der Blick sofort im Meer der biblischen Darstellungen. Pater Jean-Sébastien hat sich umgezogen und trägt nun ein langes, weisses Gewand, die Tunika, geschmückt mit einem samtroten Schulterumhang, der Stola. Mit sechs Mitbrüdern platziert er sich im Zentrum des hinteren, der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Teils des Kirchenschiffs. Bald wird der riesige Raum vom Gesang der Mönche erfüllt – und vom Weihrauch, den zuvor Messdiener mit kleinen, schwingenden Behältern an Metallketten verteilt hatten. Dann setzt die Orgel ein, und es folgen gemeinsame Gesänge.

Der Forscher Ivo Berther darf mit ins Refektorium, wo die Brüder Mittag essen. Der Fotograf darf zwar auch mit, aber Aufnahmen sind nur von aussen erlaubt. | Fotos: Christian Grund

Der Innenraum der Abteikirche von Einsiedeln erstrahlt noch immer in alter Pracht, während neben ihr das Kloster immer leerer wird.

In Pater Jean-Sébastiens Atelier steht eine Buddha-Statue. Das passt, denn die Brüder seien nicht weltabgewandt und verschlossen, sondern neugierig und progressiv, sagt Historiker Ivo Berther.

Eine einst begehrte Lebensweise wird immer rarer. Die Forschende zeichnen die Lebensgeschichten der Mönche auch auf, um die Kultur der Orden für die Zukunft zu bewahren.

In der weitläufigen Klosteranlage gibt es unter anderem eine Schule, eine Feuerwehr, eine Weinkellerei und eigene Pferdeställe. Unterwegs zwischen den Gebäuden trifft man nur selten jemanden an.

Das Naturalienkabinett des Klosters Einsiedeln ist über hundert Jahre alt, seine Ursprünge sind aber viel älter. Klöster und Adlige legten einst solche Sammlungen aus Begeisterung für die Natur und die Schöpfung an.

Nach dem Abschlussgebet gehen die Mönche ins Refektorium. Heute ist ein besonderer Tag für die Brüder, das «Fest der Kreuzerhöhung » findet statt. So essen sie in einem festlich dekorierten Saal Griesssuppe, Hacktätschli, Ratatouille und Kartoffelstock, und ein Mönch liest aus den griechischen Mythen zum Kreuz vor. Die Stimmung ist feierlich und andächtig zugleich. Nach der Lesung wird dann geschwatzt. Das ist aber eine Ausnahme, normalerweise essen die Brüder schweigend.

Ivo Berther hat bereits mit dem Auswerten seiner Beobachtungen und Interviews begonnen. Dabei folgt er dem sozialwissenschaftlichen Ansatz der Grounded Theory. Er ordnet die Inhalte der Transkripte bestimmten Kategorien zu, wie zum Beispiel «Jugend», «Krisen » oder «Eintrittsmotivation», und macht so Textteile aus den Transkripten vergleichbar. Ziel ist es, aus den subjektiven Erfahrungen soziale Phänomene abzuleiten und allmählich zu einer Theorie zu gelangen. Seine vorläufigen Ergebnisse deuten auf einen Generationenbruch hin: «Jüngere Mönche kommen meist aus dem Berufsleben heraus. Sie haben ihre Wahl, ins Kloster zu gehen, sehr bewusst und reflektiert getroffen.»

«Was die Raupe Tod nennt, nennt der Weise Schmetterling.».»Pater Jean-Sébastien

Bei älteren Mönchen hingegen sei der Entschluss vielfach bereits nach der Klosterschule in noch jungen Jahren gefallen. «Besonders für Schüler aus ärmeren Verhältnissen war dies oft der einzige Zugang zu einem Studium.» Auch beim Selbstverständnis der Mönche beobachtet der Historiker einen Unterschied zwischen den Generationen: «Zum Beispiel haben jüngere Mönche wieder damit begonnen, auch in der Öffentlichkeit ihre schwarze Mönchskutte zu tragen.» Das sei für ältere Brüder nur schwer nachvollziehbar, da viele von ihnen in den 1960er-Jahren für Reformen gekämpft hatten. Unter anderem auch für das Aufheben des Kuttenzwangs in der Öffentlichkeit.

Nach Abschluss des Forschungsprojekts werden die anonymisierten Transkripte in den Klosterarchiven aufbewahrt und den Nonnen und Mönchen zur Verfügung gestellt. Damit soll die Kultur des Ordens lebendig gehalten werden. Denn seit den 1970er-jahren leiden die meisten Klöster an einem drastischen Mitgliederschwund. Als Pater Jean-Sébastien vor 22 Jahren ins Kloster Einsiedeln eintrat, in den grössten Benediktinerkonvent in der Schweiz, lebten dort rund hundert Mönche. Heute sind es noch vierzig. Gesamthaft zählt der Orden in der Schweiz noch 230 Personen, wobei die meisten über siebzig Jahre alt sind.

Von Klostersterben und der Ewigkeit

«Es ist absehbar, dass in den kommenden fünfzig Jahren viele Klöster entweder schliessen, fusionieren oder sich transformieren müssen», sagt Berther. Die Schrumpfung habe schon heute schwerwiegende Folgen: «Fast ein Drittel der bislang interviewten Mönche erzählte mir von psychischen Problemen aufgrund der Arbeitsbelastung.» Weil die Klostergemeinschaften kleiner werden, fällt die Arbeit zum Unterhalt der Klöster und für den Dienst an der Allgemeinheit auf immer weniger Schultern.

Ivo Berther hatte Pater Jean-Sébastien auch auf das Klostersterben angesprochen und ihn gefragt, ob ihm diese Entwicklung Angst mache. Dieser hatte gelächelt und mit einem Sprichwort aus Asien geantwortet: «Was die Raupe Tod nennt, nennt der Weise Schmetterling.» Der Benediktinermönch hat ein entspanntes Verhältnis zur Vergänglichkeit. Er weiss: Alles hat seine Zeit. «Nichts ist für immer – ausser die Ewigkeit.»