Für eingewanderte Italienerinnen war Lohnarbeit in den Sechzigerjahren üblich – wie hier in der Konservenfabrik Hero 1962. | Bild: Keystone/Fotostiftung Schweiz/Hans Baumgartner

Für eingewanderte Italienerinnen war Lohnarbeit in den Sechzigerjahren üblich – wie hier in der Konservenfabrik Hero 1962. | Bild: Keystone/Fotostiftung Schweiz/Hans Baumgartner

Wie eine Zeitreise in die Vergangenheit erschien es der Mutter von Historikerin Francesca Falk, als sie in den Siebzigerjahren aus Norditalien in die Schweiz kam. Während in ihrer alten Heimat das Frauenstimmrecht unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführt und die Gleichstellung der Geschlechter 1948 in die Verfassung aufgenommen worden war, mussten die Frauen in ihrer neuen Heimat ihren Mann noch um Erlaubnis bitten, wenn sie arbeiten wollten.

Damit wurde Francesca Falk von der Universität Freiburg das Forschungsinteresse sozusagen in die Wiege gelegt: Sie untersucht den Einfluss von Migration auf die Gleichstellung der Geschlechter in der Schweiz, so auch in ihrem neuen Buch «Gender Innovation and Migration in Switzerland ».

Krippenplätze im ländlichen Wallis

Nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte hierzulande Hochkonjunktur, was dazu führte, dass viele Menschen auf der Suche nach Arbeit in die Schweiz kamen, zunächst vor allem aus Italien. Während es hier damals selbstverständlich war, dass Frauen zu Hause blieben und sich um die Kinder sorgten, war es in gewissen Gegenden Italiens – auch aus ökonomischen Gründen – normal, dass Frauen arbeiteten. «Die Frage nach der Vereinbarkeit von Beruf und Familie stellte sich damals neben unterprivilegierten Schweizer Familien vor allem für migrantische Familien», sagt Falk.

Dies zeigte sich beispielsweise in der Stadt Bern, wo die Anzahl der Kinder mit Migrationshintergrund in den städtischen Krippen Mitte der Sechzigerjahre auf 60 bis 70 Prozent anstieg – dies, obwohl Schweizer Kinder bei der Platzvergabe priorisiert wurden. Und auch im ländlichen Wallis sorgte die Zuwanderung dafür, dass mehr Krippenplätze benötigt wurden. Zusammen mit anderen Einflüssen sorgte die so entstandene Infrastruktur langfristig dafür, dass ausserhäusliche Kinderbetreuung auch für die Schweizer Mittelschicht immer normaler wurde. Frauen, die im Ausland gelebt hatten oder innerhalb des Landes migrierten, gehörten zudem zu den Pionierinnen im Kampf für das Frauenstimmrecht. Für die Feminismus-Ikone Iris von Roten waren die landesinterne Migration ins ländliche Wallis sowie ihr Aufenthalt in den USA prägend. Und nicht nur die ersten Studentinnen, auch die ersten Professorinnen in der Schweiz stammten häufig aus dem Ausland. Dazu gehört auch Anna Tumarkin, die 1909 erste Professorin an der Universität Bern wurde und die aus dem russischen Reich stammte.

Der weite Blick über die Grenzen

Dass Migration gesellschaftliche Innovationen vorantreiben kann, bestätigt die emeritierte Historikerin Regina Wecker, eine der entscheidenden Figuren für die Etablierung der Geschlechtergeschichte in der Schweiz: «Der Blick über die Grenzen und die grenzüberschreitende Migration sind eine Möglichkeit, das Spektrum der eigenen Lösungen zu erweitern.» Gleichzeitig betont sie aber, dass es für alle Verankerungen von gesellschaftlichen Neuerungen immer Schweizer Akteurinnen brauchte, die die Impulse aufnahmen und weiterverfolgten.

Auch Kulturwissenschaftler Walter Leimgruber von der Universität Basel sieht das Potenzial von Migration: «Grundsätzlich führt jeder Austausch mit anderen Vorstellungen und Lebensweisen dazu, dass die eigene gesellschaftliche Situation reflektiert, oft auch relativiert wird.» Für ihn besteht in der Schweiz bei der Gleichstellung der Geschlechter aber noch immer grosser Aufholbedarf, etwa in der Frage der Kosten der familienergänzenden Kinderbetreuung. Dies erfordere weitere Auseinandersetzung mit traditionellen Rollenbildern. «Die aktuelle Diskussion um Migration zeigt, dass wir heute zwar zu Recht Gleichstellung von Geschlechtern gegenüber Migranten, etwa islamischen Glaubens, einfordern, diese aber in vielen Bereichen selbst nicht erreicht haben.»

Migration nur als Erfolgsgeschichte für gesellschaftliche Innovation zu begreifen, greift für Francesca Falk zu kurz: «Migration an sich ist weder gut noch schlecht.» Wichtig seien die Rahmenbedingungen, in denen Zuwanderung stattfinde. Und diese würden mitunter dadurch beeinflusst, wie die gegenwärtige und die vergangene Migration wissenschaftlich betrachtet werden