Praktische Prüfung an der internationalen Chemie Olympiade 2023 in der Schweiz. | Foto: ETH Zürich / Luca Ferrari

Bereits im Alter von 14 Jahren begann Kathryn Hess ihr Studium an der University of Wisconsin-Madison in den USA. Das hat sie bis heute nicht bereut. Ihr IQ sei «hoch genug», meint Hess am Telefon scherzend, aktuell Professorin für Mathematik an der EPFL. «Die Universitäten in den USA sind sehr flexibel und zeigen grosses Interesse an begabten Studierenden», sagt sie. «Hätte ich damals in der Schweiz gelebt, wäre ich vielleicht einen anderen Weg gegangen.» Das musste etwa Maximilian Janisch tun, der einen IQ von über 149 hat. Sein Fall ging 2011 durch die Medien, als die ETH Zürich ihn nicht aufnahm, weil er mit 9 Jahren zu jung sei. Er studierte später im französischen Perpignan.


«Mathematikolympiaden sind nichts für mich»

  • Maximilian Janisch, 19
  • seit 2022 Doktorand an der Universität Zürich

«Ich habe schon früh mit Zahlen gespielt. Mein Vater, ein pensionierter Mathematikprofessor, unterrichtete mich täglich, seit ich sechs Jahre alt war. Mit neun Jahren bestand ich die Maturaprüfung in Mathematik und wollte schnell vorankommen. Warum sollte ich es nicht an der Universität versuchen? Die ETH Zürich wollte mich nicht aufnehmen, aber die Universität Zürich bot mir Privatunterricht bei Mathematiker Camillo De Lellis an – eine besondere Erfahrung. Damals sorgte mein Fall in den Medien für Aufregung, aber das war mir egal, ich mochte die Interviews sogar! Ich bin sehr dankbar, dass mich die Universität Perpignan im Alter von zwölf Jahren aufgenommen hat. Heute bieten die Hochschulen Programme für Schüler an, was gross­artig ist, aber vielleicht sollte das System flexibler sein. Andere nehmen an Mathematikolympiaden teil, das macht Spass, ist aber nichts für mich, weil es eine andere Art Mathematik ist als das, was man später in der Forschung macht. Heute, als Forscher, möchte ich mehr Wert auf Qualität als auf Geschwindigkeit legen.»

«Auch heute noch halten es gewisse Hochschulen für unnötig, sich um hochbegabte Studierende zu bemühen, denn sie haben bereits einen guten Ruf», meint Regula Haag, Geschäftsführerin der Stiftung für hochbegabte Kinder in Zürich. «Andere haben erkannt, dass es wichtig ist, solche Talente zu rekrutieren, weil diese sonst in die USA oder nach Grossbritannien abwandern.»

Im harten Wettbewerb um die klügsten Köpfe, die zu besseren Rankings und höheren Mitteln beitragen, zeigen inzwischen auch die Schweizer Universitäten ein wachsendes Interesse. Sie lancieren etwa Initiativen, um Hochbegabte anzuziehen und zu halten. Alle kontaktierten Fachleute sind sich ­jedoch einig, dass noch Optimierungspotenzial besteht.


«Von Mädchen wird erwartet, dass sie ruhig sind und nicht angeben»

  • Christina Gut, 27
  • Masterstudentin an den Universitäten Basel und Luzern

«Als Kind wurde bei mir Hochbegabung diagnostiziert, aber das half mir in der Schule nicht viel. Von Mädchen wird erwartet, dass sie ruhig sind und nicht angeben. Ich war laut und habe es gezeigt. Ich vermute, dass sich meine Mitschüler durch mein Wissen angegriffen fühlten und einige der Lehrpersonen auch. Das wirkte sich auf mich aus, an der Mittelschule liess meine Leistung nach. Es ist einfacher, eine Begabung in einem Fach wie Mathematik zu erkennen, meine Stärken liegen anderswo: beim Erkennen von Zusammenhängen, in der deutschen Sprache und im Schreiben. Leider gab es für mich an der Mittelschule keine Angebote, mit denen ich meine Grenzen ausloten konnte. Ich stillte meine Neugierde anderweitig, wurde eine begeisterte Leserin und verschlang am Wochenende 800 Seiten! An der Universität studierte ich Religion und Chemie, aber der organisatorische Teil überforderte mich, und ich begann an der Pädagogischen Hochschule Zug. Dort habe ich sehr gute Noten bekommen, Selbstvertrauen gewonnen, und jetzt bin ich wieder an der Universität.»

Als hochbegabt gilt ein Kind, das in einem oder mehreren Fächern intellektuell überdurchschnittliche Leistungen erbringt, was sich in der Regel mit einer Punktzahl von über 130 in einem IQ-Test niederschlägt. «Diese Kinder wollen tiefer in Themen eintauchen und schneller lernen», erklärt Haag. Es besteht deswegen das Risiko, dass ihnen langweilig wird, sie depressiv werden oder schlechte Leistungen erbringen. Deshalb kann es sinnvoll sein, dass sie Klassen überspringen und bereits als Teenager eine Hochschule besuchen.

In den letzten zehn Jahren haben die hiesigen Hochschulen damit begonnen, Programme für Maturitätsschulen anzubieten, die für solche Jugendlichen attraktiv sind. Die EPFL lancierte etwa den Euler Course, einen Mathematikkurs für rund 30 überdurchschnittliche, aber nicht zwingend hochbegabte Schülerinnen und Schüler.

«Wir achten sehr auf Gleichbehandlung, was auch richtig ist, aber in Ausnahmefällen könnten wir die Regeln grosszügiger aus­legen.»Kathryn Hess

Die Universitäten Zürich, Bern, Basel, Luzern und Genf bieten spezielle Programme namentlich in Natur- und Ingenieurwissenschaften, Technik und Mathematik. Oft erhalten die Jugendlichen die Möglichkeit, am jeweiligen Institut Credits zu erwerben und das erste Jahr eines Bachelor-Studiums zu absolvieren.

Es ist jedoch schwierig, begabte Jugendliche aus allen Gesell­schafts­schichten zu erreichen. Bei der Hochbegabtenförderung sind Mädchen untervertreten. «Jungs sind eher wettbewerbsorientiert, Mädchen eher geneigt, sich anzupassen und ihre Freundschaften nicht zu verlieren, als anzugeben oder Klassen zu überspringen», erklärt Katarina Farkas, Begabungsforscherin an der Pädagogischen Hochschule Zug. Kathryn Hess von der EPFL weist darauf hin, dass die speziellen Programme eher Jugendliche aus dem akademischen Umfeld ansprechen, andere dagegen gar nicht auf die Idee kommen, diese zu belegen. Sie plädiert deshalb für ein vielfältiges Angebot und gezielte Sensibilisierungsprogramme.


«Ältere Studierende haben ähnliche Interessen wie ich»

  • Mathys Douma, 16
  • zweites Bachelorjahr an der EPFL

«Ich war ein sehr neugieriges Kind und konnte schon vor dem Kindergarten lesen. In der Schule liebte ich Mathematik und das Lernen. Ich lernte schneller und tiefer als die anderen und übersprang bis zur siebten Klasse zwei Klassen. Bald werde ich mein Bachelorstudium beginnen, direkt im zweiten Jahr. Dank des Euler-Kurses an der EPFL habe ich bereits die Prüfungen für das erste Jahr absolviert – in den letzten sechs Jahren bin ich einmal pro Woche für fünf Stunden zur EPFL gependelt. Die Dozierenden sind grossartig, sie unterrichten eine coole Form der Mathematik, die meine mathematische Intuition fördert. Ich habe auch an der Schweizer Mathematikolympiade teilgenommen, an der ich zweimal Gold und einmal Silber gewonnen habe. Ich mache mir keine Sorgen, das Studium mit 16 Jahren zu beginnen: Ich kenne den Ort und fühle mich wohl bei älteren Studierenden. Ich kann mich besser mit ihnen unterhalten, wir haben ähnliche Interessen! Ein Mentoring könnte gut für Hochbegabte sein, die sich unsicher fühlen.»

Für ein Studium an einer Schweizer Universität müssen Hochbegabte wie alle anderen die Zulassungskriterien erfül­len. Zwar gibt es in der Regel keine Altersbeschränkung, die Maturität ist jedoch Voraussetzung. «Wir achten sehr auf Gleichbehandlung, was auch richtig ist, aber in Ausnahmefällen könnten wir die Regeln grosszügiger aus­legen», findet Hess.

Intelligenz ist das eine. Doch sind Kinder einem erwachsenen Umfeld sozial und psychologisch gewachsen? «Jeder Fall ist anders, aber wenn das Kind von der Schule unterstützt wird und Selbstständigkeit zeigt, ist das Alter kein Problem», ist Haag überzeugt.


«Mir war in der Schule nie langweilig»

  • Evelyn Ebneter, 17
  • 11. Klasse des Gymnasiums Oberwil

«Ich liebe Mathematik, Informatik und Naturwissenschaften, sie liegen mir einfach. Meine Lehrpersonen schlugen mir vor, Klassen zu überspringen, aber ich wollte in meiner Altersgruppe bleiben und meine Freundschaften nicht verlieren. Mir war nie langweilig, ich bekam Zusatzaufgaben, und ab der 6. Klasse nahm ich an Mathematikwettbewerben teil. In der Schule haben mich alle unterstützt, und ich wurde nie anders behandelt als die Jungen. Die Schule hat mir sogar einen Lehrer zugewiesen, damit ich mich auf die Mathematikolympiade vorbereiten konnte. Ich mache bei der ETH Math Youth Academy und bei der Junior Euler Society mit, was mir auch bei der Vorbereitung auf die Wettbewerbe hilft. Ich habe eine Bronzemedaille bei der Mitteleuropäischen Mathematikolympiade und zweimal eine lobende Erwähnung bei der European Girls’ Mathematical Olympiad erhalten. Diese Wettbewerbe machen mir wirklich Spass. Ich liebe es, Teil eines Teams zu sein. Später werde ich wahrscheinlich Informatik an der ETH Zürich studieren, ich bin aber noch offen für anderes.»

Eine Studie der US-Universität Vanderbilt aus dem Jahr 2021 untersuchte die psychologischen und sozialen Auswirkungen der beschleunigten Schullaufbahn über einen Zeitraum von 35 Jahren und fand keinen Grund zur Besorgnis. In der Regel erbringen die Hochbegabten gute Leistungen und schneiden sozial ähnlich gut ab wie andere Studierende. Die älteren Studierenden scheinen keine Probleme mit jüngeren Hochbegabten zu haben: «Die wenigen Leute, die wussten, dass ich jünger war, fanden das cool», erinnert sich auch Hess.

Trotzdem sollte man der Situation dieser Jugendlichen besondere Aufmerksamkeit schenken, findet Farkas: «Wenn das Kind Mühe hat, müssen wir es professionell unterstützen.» Sie schlägt vor, den Betroffenen eine Mentorin zur Seite zu stellen. Haag erinnert sich an «sehr begabte Studierende, die an der ETH Zürich bei der ersten Prüfung durchfielen, weil sie nicht wussten, wie man lernt – einfach, weil sie zuvor nie lernen mussten!» Viele wären zudem glücklicher, wenn sie selbst auf Tertiärniveau Basislektionen überspringen könnten, weil auch diese für sie langweilig sind. Einige US-Universitäten bieten deswegen massgeschneiderte Kurse und frühe Forschungsmöglichkeiten an. Doch im Schweizer Bologna-System sind Studiengänge standardisiert und schwierig abzuändern.

«Begabte Menschen können zur Lösung der Probleme unserer Gesellschaft beitragen.»Katarina Farkas

Bisher werden hierzulande Coaching und Ad-hoc-Kurse nur nach dem Bachelor angeboten. «Auf der Suche nach dem nächsten Nobelpreis konzentrieren sich die Hochschulen auf die Förderung ab Doktoratsstufe», erklärt Claus Beisbart, Koordinator des Begabtenförderungsprogramms an der Universität Bern. «Wir sollten uns jedoch früher Gedanken dazu machen.»

Eine grosse Hürde sind Ressourcen und Personal. Regula Haag ist überzeugt, dass bereits kleine Veränderungen helfen könnten: Sie schlägt vor, auf Hochbegabtenförderung spezialisierte Mentoren in die Leitungsgremien von Hochschulen aufzunehmen. Talente zu fördern, ist nicht nur gewinnbringend für die Betroffenen, sondern auch für die Hochschulen und die Gesellschaft. «Begabte Menschen können zur Lösung der Probleme unserer Gesellschaft beitragen, wenn wir sie nicht vernachlässigen und ihre Entwicklung unterstützen», ist Farkas überzeugt.