Maschinenbauer Simon Bloem hat den Gullydeckel weggeschoben und holt nun Daten aus dem unterirdischen Abwasserstrom von Fehraltorf. | Fotos: Christian Grund

Auf den ersten Blick ist Fehraltorf ein Dorf wie jedes andere auch. Es gibt eine Metzgerei, zwei Bäckereien, vier Coiffeursalons, eine Migros und einen Coop. Morgens und abends um sechs staut sich der Verkehr auf der Hauptstrasse – mehr passiert hier nicht. Doch diese im wahrsten Sinne des Wortes oberflächliche Betrachtung stimmt nicht ganz: Unter dem Boden Fehraltorfs wird internationale Spitzenforschung betrieben.

Der 6000-Seelen-Ort im Zürcher Oberland ist weltweit das erste und einzige Freiluftlabor für Abwasserforschung. Seine offizielle Bezeichnung ist Urban Water Observatory. Von den Forschenden wird es liebevoll Uwo genannt. Lanciert wurde es 2016 vom Wasserforschungsinstitut Eawag in Dübendorf sowie von der ETH Zürich. Der aktuelle Projektleiter des Labors ist der Umweltingenieur Jörg Rieckermann. Er sagt, dass es hier im Grunde um eine einfache Frage gehe: Was passiert mit dem Inhalt des WCs, nachdem man die Spüle betätigt hat? «Die meisten Menschen kennen die Antwort darauf nicht, und nicht mal wir Forschende wissen es genau.»

Mobilfunksignale aus dem Gully

Die Frage ist höchst relevant, denn unter unseren Füssen fliesst eine potenziell gefährliche Mischung dahin. Sie besteht aus unseren Hinterlassenschaften, den in ihnen enthaltenen Viren und Bakterien, den Rückständen von Drogen und Hormonen, dem Abwasser von Waschmaschinen und Geschirrspülern, dem Duschwasser mit seinem Körperfett, seinen Hautzellen und Haaren. Dazu kommen noch der Reifenabrieb der Autos und die Pestizide von Vorgärten, Terrassen oder Äckern, die mit dem Regenwasser eingetragen werden.

Um herauszufinden, was mit diesem toxischen Cocktail passiert, bevor er in der Kläranlage ankommt und dort sozusagen entschärft wird, haben Rieckermann und sein Team in den Kanälen unter Fehraltorf Dutzende von Sensoren installiert. Zu einem davon will sich Simon Bloem gerade vorarbeiten. Der studierte Maschinenbauer ist der Techniker des Teams. Er schiebt den 50 Kilogramm schweren Gusseisendeckel eines grossen Gullys an der Bahnhofstrasse mit Hilfe eines Pickels zur Seite. Vor ihm klafft nun ein fünf Meter tiefes Loch. Weit unten rauscht ein Bach – das Abwasser von Fehraltorf.

Das Eawag-Team des Freiluftlabors für Abwasserforschung in Fehraltorf ist für alles gerüstet: garstiges Wetter, Waten in Bächen oder Arbeiten in der Kanalisation. Von links nach rechts: Gruppenleiterin Lena Mutzner, Techniker Simon Bloem, Elektroniker Christian Ebi und Projektleiter Jörg Rieckermann. | Fotos: Christian Grund

Für ihre Forschung steigt die Umweltingenieurin Lena Mutzner auch mal in Schächte hinab.

Eine Probe Schlamm aus dem Bach: In ihm tummeln sich kleine Wassertiere.

Unter unseren Füssen fliesst Tag und Nacht ein Abwasserstrom, der in Fehraltorf mit modernen Sensoren überwacht und untersucht wird. Maschinenbauer Simon Bloem beobachtet gerade die Daten daraus.

Projektleiter Jörg Rieckermann ist auf der Suche nach wirbellosen Wassertieren. Sie zeigen an, wie gesund der Bach ist.

Etwa einen Meter über dem Wasserstrom hängt eine Art Bügeleisen. «Das ist ein Dopplerradar », erklärt Bloem. «Es funktioniert ähnlich wie das Blitzgerät der Polizei, mit dem die Geschwindigkeit der Autos gemessen wird. Mit seiner Hilfe stellen wir die Fliessgeschwindigkeit und den Pegel des Abwassers fest.» Andere Sensoren messen dessen elektrische Leitfähigkeit. Diese kann Rückschlüsse auf den Nährstoffgehalt geben und damit auch auf die gerade transportierte Schadstoffmenge.

Alle zwölf Stunden werden die Daten via Mobilfunk übertragen. Damit das durch Beton und Schachtdeckel geschwächte Signal an der Oberfläche erkannt wird, haben die Forschenden ein eigenes Funknetzwerk installiert. «Das ist einmalig in der Schweiz», so Bloem.

«In Fehraltorf wollte man aufgrund der Modellrechnungen grössere Rohre einbauen. Doch unsere Messungen zeigen, dass dies nicht unbedingt nötig ist».Jörg Rieckermann

Tatsächlich sind Abwasserflüsse, ihre Schwankungen und ihre Zusammensetzung noch wenig erforscht. Gemeinden und Städte müssen zwar alle zehn Jahre ihren Entwässerungsplan überprüfen und sicherstellen, dass die Brühe auch bei einem Starkniederschlag nicht aus den Gullys quillt. «Doch das basiert meistens nur auf Modellberechnungen ohne Vergleiche mit Messungen», sagt Rieckermann. Die meisten Gemeinden befinden sich also im Blindflug. Das fehlende Wissen kann zuweilen teuer werden. «In Fehraltorf wollte man aufgrund der Modellrechnungen an einer Stelle grössere Rohre einbauen. Das hätte rund 200 000 Franken gekostet. Durch unsere Messungen konnten wir jedoch zeigen, dass dies nicht unbedingt nötig ist», so Rieckermann.

Dass die Dörfer diese sogenannte Echtzeitbewirtschaftung des Abwassers nicht flächendeckend einführen, liegt unter anderem am Aufwand. Bloem nimmt den Kanalhaken zur Hand. Damit fischt er eine schwarze Box von der Grösse einer Schuhschachtel aus dem Schacht. «Das ist die Batterie. Die muss ich jeden Monat austauschen.» Also mit dem Auto vorfahren, Gebiet absperren, Kanaldeckel wegschieben … Dazu kommen die Kosten. Das Dopplerradar allein ist 10 000 Franken teuer. Die Wartungs- und Betriebskosten belaufen sich auf weitere 20 000 Franken. «Das lohnt sich für Gemeinden einfach noch nicht», sagt Rieckermann.

Bei Starkregen läuft Gift in den Bach

Darum zielt die Forschung in Fehraltorf auf die Weiterentwicklung der Sensoren ab. Als nächstes zieht Bloem eine schwarze Kapsel, so gross wie eine kleine PET-Flasche, aus dem Untergrund: «Da drin steckt unser neuer Sensor inklusive Elektronik und Batterie. Die hält eineinhalb Jahre.» Kostenpunkt: 2300 Franken pro Stück. «Damit wird in Zukunft die Überwachung für Gemeinden erschwinglich», sagt Bloem. Starkniederschläge sind im Übrigen nicht nur für die Dörfer und Städte, sondern auch für die Landschaft um sie herum ein Problem. Das zeigt sich einen Kilometer hangaufwärts ausserhalb des Dorfes. Ein umzäuntes Gelände – darin ein betonierter Platz mit Abdeckgittern. «Hier drunter liegt ein Überlaufbecken », erklärt Lena Mutzner, Umweltingenieurin, die auf Schadstoffe im Regenwasser spezialisiert ist.

Das Becken ist das Pendant eines Überdruckventils bei einem Dampfkochtopf. Wenn zu viel Regenwasser in die Kanäle fliesst, schwappt es hier über. Es läuft danach über einen Entlastungskanal direkt in den Dorfbach. So wird vermieden, dass das Regen-Abwasser- Gemisch im Dorf das Kanalnetz überlastet und die Strassen überschwemmt. Das bedeutet aber auch, dass ein Teil davon ungeklärt in den Bach und dann in den nächsten Fluss oder See gelangt. In der ganzen Schweiz gibt es rund fünftausend solcher Überläufe, weiss Mutzner.

«Das Warngerät zeigt einen Anstieg des CO2-Gehalts an oder auch andere Gase, die uns gefährlich werden könnten».Lena Mutzner

«Ich versuche herauszufinden, wie viele Schadstoffe wir vor dem Überlaufen noch zur Kläranlage befördern können. Und wie viele tatsächlich im Bach landen.» Zu den Schadstoffen zählen unter anderem der in vielen Schmerzmitteln enthaltene Wirkstoff Diclofenac, der schon bei geringen Konzentrationen Wasserorganismen schädigen kann. Ebenso das mit dem Regenwasser eingetragene Diuron, ein Herbizid aus der Landwirtschaft, das als sehr giftig für Wasserorganismen eingestuft ist. Welche Mengen davon durch die Überläufe in die Umwelt gelangen, wisse man derzeit noch nicht genau.

Für die Messungen werden in regelmässigen Abständen Proben gezogen. Diese Aufgabe übernimmt ein Gerät von der Grösse eines Kühlschranks: der Probennehmer. Er ist durch einen Schlauch mit dem Abwasserstrom verbunden. An Daten zu kommen ist aber nicht immer so einfach. Mutzner arbeitet auch mit sogenannten Passivsammlern. Diese sehen aus wie kleine Papierstücke, die zwischen zwei Metallplatten eingeklemmt werden. Das Papier saugt sich mit den Schadstoffen voll und kann später im Labor ausgewertet werden. Um diese Sammler zu platzieren, muss Mutzner in den Untergrund des Überlaufs hinabsteigen. Das mutet wie Höhlenforschung an. Ausgerüstet mit Helm, Sicherungsgurt und Gaswarngerät geht es den Schacht hinab. «Das Warngerät zeigt einen Anstieg des CO2-Gehalts an oder auch andere Gase, die uns gefährlich werden könnten», erklärt sie.

Umweltingenieur Jörg Rieckermann führt Wartungsarbeiten an einer Regenmessstation des urbanhydrologischen Feldlabors in Fehraltorf durch. | Fotos: Christian Grund

Im Untergrund: Jörg Rieckermann begutachtet ein Regenüberlaufbecken.

Ein eigenes Funknetzwerk sendet die Messdaten aus dem Freiluftlabor an die Eawag.

Gruppenleiterin Lena Mutzner füllt eine Abwasserprobe für die spätere Analyse im Labor in einen Behälter ab.

Ein Bachflohkrebs aus dem Dorfbach. Er reagiert äusserst sensibel auf Gewässerverschmutzungen.

Dieser automatische Probennehmer saugt Abwasserproben an und füllt sie nach und nach in verschiedene Röhrchen in seinem Innern ab.

Der Schacht mündet in eine Art Luftschutzbunker für Zwerge. Die Höhe beträgt etwa 1,3 Meter. Nur in der Hocke geht es voran. Eine herbe Note nach verdorbenem Wein liegt in der Luft. Mutzner erreicht eine Verankerung. Dort schraubt sie die Metallplatten fest. «Beim nächsten Niederschlag ist hier alles bis unter die Decke voll mit Abwasser.» Dabei werden auch die Passivsammler überflutet. Der Ausflug in den Untergrund zeigt, wie schwierig Abwasserforschung ist.

«Es braucht Schutzausrüstung, Material und Wissen, wie man sich sicher bewegt», sagt Rieckermann. «Hier haben wir die einmalige Chance, das alles einer weltweiten Forschendengemeinde zur Verfügung zu stellen.» Seit der Gründung des Uwo haben schon Experten aus einem halben Dutzend Ländern im Fehraltorfer Freiluftlabor gearbeitet. Darunter aus Deutschland, England, Österreich und China.

«Die Bälle mit Elektronik und Sensoren werden oben in den Schacht geworfen, und unten bei der Kläranlage fischt man sie wieder raus».Christian Ebi

Ab und zu schafft ein am Uwo entwickeltes Produkt den Sprung in den internationalen Markt. Christian Ebi, der Elektroniker im Team, stellt den Squid vor. Das ist ein schwimmfähiger Kunststoffball, etwa so gross wie eine Orange. Er ist vollgepackt mit Elektronik und Sensoren, die Temperatur, Säuregrad und Leitfähigkeit des Abwassers messen. «Die Bälle werden oben in den Schacht geworfen, und unten bei der Kläranlage fischt man sie wieder raus.»

Auf ihrem Weg durch die unterirdischen Kanäle zeichnen sie Daten auf. Das international tätige Abwasser- und Recycling-Unternehmen Suez inspiziert mit diesen Bällen die Abwassernetze von Städten auf Lecks, Abflussmengen und Nährstoffgehalt und sorgt so für Sicherheit für Mensch und Umwelt. Das alles begann unter dem Boden von Fehraltorf.