Er nimmt den unbürokratischsten Weg, um die Erwartungen von Patientinnen zu erfüllen. Grégoire Courtine führt einige seiner Versuche mit Makaken in China durch und bringt seine Technologie mit einem in den USA gegründeten Start-up auf den Markt. | Foto: Sébastien Agnetti

Grégoire Courtine tritt nonchalant und selbstbewusst auf. Das halblange Haar mit silbergrauen Strähnen und der Dreitagebart verleihen ihm die Aura des Abenteurers. In seinem Büro am Campus Biotech in Genf ertönt leise Housemusik mit Jazz. Courtine ist im Stress und bittet um Geduld: «Ich stecke in den letzten Zügen zweier grosser Forschungsanträge. Die Deadline ist heute Nachmittag.»

Wenige Minuten später beginnt er zu erzählen: Als Kind habe er mit seinem Vater nächtelang durch ein Teleskop in die Sterne geguckt. Diese Erfahrung trug zu seiner Entscheidung bei, Astrophysiker zu werden. Während des Studiums in Mathematik und Physik habe er sich dann gelegentlich mit einem Neurowissenschaftler zum Klettern getroffen. Dieser habe ihm von den komplexen Interaktionen zwischen Gehirn und Bewegungsapparat erzählt – davon, was sich beim Festhalten mit Fingern und Zehen an der Felswand in unserem Kopf abspielt. «Ich entwickelte eine unglaubliche Faszination für neurologische Vorgänge», erinnert er sich. So kombinierte er in seiner Doktorarbeit die alte Leidenschaft mit der neuen: Er erforschte die neurologische Basis für das Wiedererlangen des Gehvermögens von Astronauten nach einer Weltraummission.

Er pendelt zwischen Labor und Klinik
Grégoire Courtine ist seit 2019 Professor an der EPFL und forscht zu neuen Therapien bei Störungen des zentralen Nervensystems, ­insbesondere bei Rückenmarkverletzungen. Gemeinsam mit der Neurochirurgin Jocelyne Bloch leitet der Franzose das Zentrum Neurorestore, das von Logitech-Gründer Daniel Borel finanziert wurde. Über 50 Mit-arbeitende entwickeln dort neue chirurgische und neurologische Ansätze. Involviert sind die EPFL, das CHUV und die Universität Lausanne. Courtine erklärt: «Bei Neurorestore arbeiten wir extrem translational – wir gehen von der Grundlagenforschung in die Klinik und mit Fragen aus der Klinik wieder zurück ins Labor.» Aktuell arbeite sein Team an sechs klinischen Studien parallel, auch für neue Therapieansätze nach Schlaganfällen und bei Parkinson.

Als er deren Ergebnisse 2003 auf einer Konferenz in Stockholm vorstellte, sass im Publikum auch Reggie Edgerton, Professor für Neurobiologie an der University of California Los Angeles – ein Pionier der Entwicklung von Therapien bei Rückenmarkverletzungen. Courtine hatte viele seiner Studien gelesen und sprach ihn an: «Reggie sagte damals nur: ‹Young french man, ich habe zwar keinen blassen Schimmer, was du sagst, aber ich mag deine Forschung!›» Drei Monate später flog Courtine nach Los Angeles, um als Postdoc in Edgertons Labor zu arbeiten. Dort sei er erstmals direkt mit Para- und Tetraplegikern in Kontakt gekommen. «Die Begegnung mit Menschen, die sich nicht mehr bewegen konnten, hinterliess bei mir einen starken Eindruck.»

Mann mit Lähmung kann wieder gehen

Nach drei Jahren kehrte Courtine 2008 in die Schweiz zurück und baute als Assistenzprofessor an der Universität Zürich seine eigene Gruppe auf. Bald folgten mehrere Erfolge: Zum ersten Mal gelang dem Team eine Rehabilitation bei Ratten mit einer Rückenmarkverletzung. Nach monatelangem Training konnten sich die Tiere, unterstützt durch ein Förderband und später einen Roboter, der einen Teil des Körpergewichts trägt, wieder bewegen. Noch bevor die dazugehörigen Publikationen veröffentlicht wurden, holte der damalige EPFL-Direktor Patrick Aebischer, selbst ein Mediziner und Neurowissenschaftler, Courtine nach Lausanne und brachte ihn mit Neurochirurgin Jocelyne Bloch vom Universitätsspital Lausanne (CHUV) in Kontakt. «Das war von Beginn an ein perfect match!», schwärmt Courtine. «Wir arbeiten sehr komplementär, ergänzen uns ideal und stehen nicht in Konkurrenz.»

«Wir erhalten für die Teilnahme an unseren klinischen Studien zwischen 20 und 30 Anfragen pro Tag.»

Die Kooperation mit Bloch eröffnete dem Neurowissenschaftler neue Wege: Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er seine Technologie nur im Modell mit Zebrafischen, Mäusen, Ratten und Makaken erforscht. Nun konnte er den Sprung zum Menschen wagen. Im Oktober 2016 implantierte Bloch am CHUV erstmals einem Patienten das von Courtines Gruppe entwickelte System. Im Unterleib ein Schrittmacher und bei den Lendenwirbeln, etwas unterhalb der beschädigten Stelle des Rückenmarks, ein Band mit 16 Elektroden. Dort gibt es eine Art zweites Kontrollzentrum für die Steuerung der Beine, das weitgehend unabhängig vom Gehirn funktioniert. Nach einer Verletzung ist dieses Zentrum traumatisiert und inaktiv, kann jedoch mithilfe von elektrischen Impulsen wieder aktiviert werden.

Zur Studie publizierten Courtine und Bloch ein Video: David Mzee, der seit einem Sportunfall 2011 an einer partiellen Rückenmarkverletzung leidet und seither nicht mehr gehen konnte, erhebt sich aus seinem Rollstuhl und beginnt mit einer Gehhilfe zu laufen. Die Bilder des Durchbruchs gingen um die Welt.

Weltweit sind jährlich zwischen 250 000 und 500 000 Menschen neu von einer Querschnittlähmung betroffen; für die Schweiz wurde die Anzahl querschnittgelähmter Erwachsener in einer Studie der Schweizer Paraplegie-Forschung von 2012 auf 6000 geschätzt. Die Hoffnung der Betroffenen, durch eine Operation, Implantate und hartes Training wieder eine gewisse Mobilität zurückzugewinnen, ist gross. «Wir erhalten für die Teilnahme an unseren klinischen Studien zwischen 20 und 30 Anfragen pro Tag», sagt Courtine. «Und wir haben mittlerweile Tausende Menschen auf unserer Warteliste.»

Strenge Regulierung als Hindernis

Der Forscher will die Technologie deshalb so schnell wie möglich auf den Markt bringen. Dafür gründete er 2014 das Start-up Onward, das über 300 Patente besitzt, die in Courtines Labor entwickelt wurden. Heute betreibt es Büros in Lausanne und Boston mit 80 Mitarbeitenden. Die Börsenkapitalisierung betrug beinahe 500 Millionen Euro. Bis heute ist der Professor Miteigner und Berater von Onward. Interessenkonflikte sieht er dabei keine. «In der Forschung erarbeiten wir das Grundlagenwissen, und das Unternehmen kann die Innovation schnellstmöglich auf den Markt bringen – wieso also nicht eng zusammenarbeiten?»

Für die Weiterentwicklung des Systems bleibt das Tiermodell zentral. 2018 berichtete «24 heures», dass Bloch mehrmals im Jahr nach Peking fliege, um dort Makaken durch Gehirnimplantate wieder zum Laufen zu bringen. Solche Versuche werden von Tierschutzorganisationen, wie dem Genfer Verein LSCV, stark kritisiert. Courtine erklärt: «Im Rahmen einer Forschungskooperation arbeiteten wir eng mit chinesischen Partnern zusammen – deshalb haben wir auch in China operiert.» Er sei überzeugt, dass dieselben Versuche auch an der Universität Freiburg möglich wären, wo die Experimente seiner Gruppe mit Makaken hauptsächlich stattfinden. Er räumt jedoch ein, dass diese in der Schweiz aufgrund des Tierschutzes deutlich aufwendiger sind als in China. In den strengen Regulierungen der Schweiz sieht Courtine vor allem ein Hindernis für biomedizinische Innovationen. Sein Team unternehme heute schon viel, um die Anzahl benötigter Tiere für Experimente kontinuierlich zu reduzieren.

«Nach Arbeit fühlt es sich nur an, wenn ich Förderanträge schreiben muss.»

Hat der umtriebige Pionier auch noch Zeit für anderes als Forschung? «Durchaus!», versichert Courtine. Er spiele Piano, treibe viel Sport, koche oft und verbringe Zeit mit seiner Frau und den zwei Kindern – das dritte ist unterwegs. Dafür schlafe er wenig: «Fünf Stunden pro Tag reichen mir. Vielleicht habe ich deswegen ein kurzes Leben, aber dafür eines mit sehr viel Spass.» Wissenschaft ist für Courtine in erster Linie Leidenschaft, «nach Arbeit fühlt es sich nur an, wenn ich Förderanträge schreiben muss», sagt er, lacht und bedeutet mit einem Blick auf seine Rolex, dass es an der Zeit ist, das Gespräch zu beenden. Es bleiben noch 30 Minuten Zeit bis zur Abgabe.