Eszter Hargittai hat ihre erste Webseite 1995 eingerichtet und drei Jahre später die Domain eszter.com gekauft. | Bild: Manu Friederich

Sie sagt laut und deutlich: «Grüezi!» Und beginnt herzhaft zu lachen. Dieses Wörtchen begleite sie seit drei Jahren in ihrem Alltag in Zürich. Eszter Hargittai, die amerikanische Soziologin mit ungarischen Wurzeln, erforscht aber nicht etwa Mundart, sondern wie Menschen mit der Digitalisierung umgehen, was das Internet mit ihnen macht und ob es gesellschaftliche Ungleichheiten egalisiert. Sie konzentriert sich auf die Frage, wie Menschen mit unterschiedlichem sozialem Hintergrund von der Digitalisierung profitieren. Warum zum Beispiel Frauen und Männer über 60 das Internet nicht schlechter nutzen als jüngere. Aktuell arbeitet sie an einem internationalen Projekt mit Daten aus der Schweiz, Deutschland, Bosnien, Serbien, Ungarn und den USA, das sich um das Verstehen von Algorithmen dreht.

Online gegen Heimweih

Als Hargittai 2016 die Stelle als Professorin am Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung an der Universität Zürich antrat, sprach sie schon Deutsch. Sie hatte die Sprache als Schülerin in Ungarn gelernt. Ihre Eltern hatten damals beide eine Professur in Chemie in Budapest inne und durften trotz Leben am Eisernen Vorhang als Gastdozierende mehrmals in die USA ausreisen. Als dann im Jahr 1989 die allgemeine Reisefreiheit der Ungarn gelockert wurde, wollte Hargittai in den USA studieren. «Es war damals aber schwierig, zu evaluieren, welche Universität zu mir passte», erzählt die Professorin. «Zudem war es eine Frage des Geldes.»

Sie wählte schliesslich das Smith College in Northampton, Massachusetts, das grösste Frauencollege der USA und eines der angesehensten der Welt. Dort gab es nur leider keine Vorlesung in Kommunikation, in jenem Fach also, das sie interessierte. Auch Statistik zog sie besonders an, da sie die Möglichkeiten bietet, systematisch Informationen zu erfassen und Erfahrungen mit Theorien zu verknüpfen. «Also belegte ich den ersten Kurs in soziologischer Statistik. Wenn Sie so wollen, habe ich mich zufällig über Statistik für das Studium der Soziologie entschieden.»

Einmal USA und retour
Eszter Hargittai wurde 1973 in Ungarn geboren und lebte 25 Jahre in den USA. Sie hat an der Universität Princeton promoviert und bekam je ein Forschungsstipendium an den Universitäten Harvard und Stanford. Sie wurde 2003 Professorin an der Northwestern University in Evanston bei Chicago. Die Mediensoziologin ist die Nachfolgerin von Heinz Bonfadelli am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung IKMZ der Universität Zürich. Seit 2018 ist sie Mitglied des Forschungsrates des Schweizerischen Nationalfonds.

Mit 18 Jahren lebte Hargittai 6800 Kilometer von der Familie entfernt. «Die Reise nach Ungarn war zu teuer, um die Familie spontan besuchen zu können», erzählt Hargittai. «Nur im ersten Sommer fuhr ich nach Hause und arbeitete drei Monate als Reporterin bei einer der grössten Tageszeitungen in Budapest. Dank dieser Erfahrung wusste ich, dass ich nicht für das Schnelle geboren bin. Ich brauche Zeit, Dinge zu hinterfragen, zu erforschen und nach Lösungen zu suchen.» Damit war ihre akademische Laufbahn besiegelt. Und für das Heimweh gab es nun ein Heilmittel: «Meine Mutter schrieb bereits im Jahr 1992 E-Mails. Das war unsere Chance!», erinnert sich Hargittai. «Ich habe meine erste Webseite 1995 eingerichtet und drei Jahre später die Domain eszter.com gekauft.» Schon 2002 begann sie zu bloggen, zwei Jahre später eröffnete sie ihr Facebook-Konto und schrieb Kurznachrichten, sobald Twitter ans Netz ging. Die Soziologin begann sich schon früh für soziale Aspekte der Kommunikations- und Informationstechnologien zu interessieren.

«Meine Mutter schrieb bereits im Jahr 1992 E-Mails. Das war unsere Chance!»

Aus dem Wissenshunger der ungarischen Studentin in den USA wurde ein beeindruckendes akademisches Curriculum Vitae. Ein Zwischenjahr verbrachte sie an der Universität Genf und lernte den «Röstigraben » kennen. Im Jahr 2015 suchte die Universität Zürich eine Nachfolge für Medienwissenschaftler Heinz Bonfadelli. «Ich wollte nach 25 Jahren in den USA näher zu meiner Familie ziehen, und die Schweiz interessierte mich, da ich ja schon in Genf gelebt hatte», erzählt Hargittai. Sie träumte ausserdem vom Wandern. Heute wohnt sie zwar nicht in den Bergen, aber immerhin in einem Zürcher Quartier nahe am See und mit einem grossem Park zum Spazieren. Die Mittvierzigerin benutzt auf dem Weg zum Institut Zug und Tram und manchmal auch das Schiff. Zuverlässigkeit schätzt sie nicht nur beim öffentlichen Verkehr, sondern auch im Umgang mit Menschen.

Social Media ohne Druck

Das Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung IKMZ ist in einem Bürogebäude nah am Bahnhof Oerlikon untergebracht. Hargittai hat sich im Büro ihre persönliche Welt geschaffen: eine türkisfarbene Récamière am Fenster, Nippes zwischen Büchern. Zudem bevölkern Reptilien den Raum – modelliert, gestrickt, gezeichnet oder kunstvoll gefaltet. «Schildkröten begleiten mich seit meiner Kindheit», erklärt Hargittai. Es sind Aufmerksamkeiten von Freundschaften aus aller Welt, die auch dank den sozialen Medien eng bleiben. «Obwohl ich diese Medien sehr geniesse, lasse ich nicht zu, dass sie mein Leben bestimmen», sagt die Professorin. «Ich habe keine Benachrichtigungen für E-Mail oder Social Media eingerichtet.»

Auf dem Fensterbrett lehnen Aquarelle und Acrylbilder – manche abstrakt. Ein Klee vielleicht? Nicht doch. Hargittai greift selber zum Pinsel. Malen entspanne, mache den Kopf frei für neue Herausforderungen. Am Institut leitet Hargittai ein Team von sechs Frauen und einem Mann. Warum nur ein Mann? Das habe mit der Disziplin zu tun, Kommunikation sei weiblich geprägt. Wie die Situation der Frauen in weiten Teilen der akademischen Welt sonst aussieht, kann sie nicht akzeptieren. Und an Schweizer Hochschulen würden noch starre Hierarchien herrschen. «Warum muss man junge, motivierte und kluge Köpfe zuerst zum Punktesammeln in Vorlesungen schicken, anstatt ihnen schon früh Einblicke in den Forschungsalltag zu geben?» Für die Mediensoziologin sind hier noch viele Fragen offen.

Übrigens: Jeweils Ende Oktober wird es schaurig-schön in Hargittais Büro. Dann sagt die Professorin nicht mehr «Grüezi», sondern gut amerikanisch «Trick or Treat» – Halloween in Oerlikon.