Sie sieht sich selbst nur als ein Rädchen im Uhrwerk der Aufarbeitung. Doch hat die Forschung der Historikerin Loretta Seglias dem Leid vieler Menschen endlich eine offizielle Geschichte gegeben. | Foto: Ladina Bischof

«Für das Leid, das Ihnen angetan wurde, bitte ich Sie im Namen der Landesregierung aufrichtig und von ganzem Herzen um Entschuldigung. » Den historischen Satz sprach Bundesrätin Simonetta Sommaruga 2013 am Gedenkanlass für ehemalige Verdingkinder und Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen. Bis es so weit kam, waren Betroffene, Politiker und Wissenschaftlerinnen bereits einen weiten Weg gegangen. Eine von ihnen war die Historikerin Loretta Seglias. Sie erinnert sich, wie ihr klar wurde: «Jetzt passiert wirklich etwas. Wir stehen an einem ganz anderen Ort als noch vor zehn Jahren.»

«Es gab schon Momente, in denen ich mir gewünscht hätte, dass meine Gesprächspartnerinnen aus der Politik sich ein bisschen eingelesen hätten.»

Bereits als Anfang der 2000er-Jahre erste politische Vorstösse durch den Nationalrat gingen – unter anderem zur Aufarbeitung von Zwangssterilisationen –, unterstützte Seglias die Politikerinnen mit ihrem Wissen. «Ich hatte aber kein politisches Mandat. Und bis heute habe ich ganz bewusst kein Parteibuch.» Was zunächst kaum Gehör fand, rollte etwa zehn Jahre später wie eine Welle durch die Medien und erschütterte Politik und Gesellschaft: Bis in die 1980er-Jahre waren hierzulande Menschen, die nicht den sozialen Normen entsprachen, stigmatisiert und weggesperrt worden. Kinder aus solchen Familien wurden fremdplatziert.

Von der Pionierin zur Expertin

Mit der erhöhten Aufmerksamkeit für das Thema stieg auch die Anerkennung von Pionierarbeiten in dem Bereich, wie jener von Seglias (siehe Kasten unten). Als Mitglied der Unabhängigen Expertenkommission des Bundes (UEK) zu den administrativen Versorgungen leistete sie einen wichtigen Beitrag zur Rehabilitation der Betroffenen. Sie selbst formuliert das so: «Ich bin nur ein Rädchen in diesem Uhrwerk. Es waren ganz viele Leute mitbeteiligt. Die historische Forschung insgesamt war ein wichtiger Player.» Die Zusammenarbeit mit der Politik und den Medien sei meistens gut gelaufen: «Es gab aber schon Momente, in denen ich mir gewünscht hätte, dass meine Gesprächspartnerinnen sich ein bisschen eingelesen hätten. Vielleicht ist das aber einfach die bekannte déformation professionelle.» Seglias lacht.

Im Einsatz für fremdplatzierte Kinder
Loretta Seglias (1975) ist im Kanton Zürich aufgewachsen. Ihre Lizenziatsarbeit schrieb sie über Kinder aus dem armen Bergkanton Graubünden, die sich im frühen 20. Jahrhundert bei Bauern in Süddeutschland verdingten. 2015 publizierte sie zusammen mit Marco Leuenberger das Buch «Geprägt fürs Leben», in dem sie die Geschichten von fremdplatzierten Kindern aufarbeiteten. Das Werk gilt als Pionierstück. Als Mitglied und Forschungsleiterin in der Unabhängigen Expertenkommission Administrative Versorgungen gestaltete Seglias die bundesweite Aufarbeitung der früheren Schweizer Sozialpolitik mit. Danach untersuchte sie die Geschichte der Fürsorgepolitik des Fürstentums Liechtenstein. Im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms «Fürsorge und Zwang» eruiert sie derzeit, wie Kinder und Eltern die Verfahren der Kindesschutzbehörden erleben. Ausserdem hat sie Partizipationsprojekte mitinitiiert, dazu gehört etwa «Gesichter der Erinnerung».

Die Historikerin war kurz nach ihrem Lizenziat Mutter geworden und hat erst mit 38 Jahren promoviert. Sie hat an Instituten in Zürich und Basel sowie für den Bund geforscht, immer in Teilzeitanstellungen, daneben arbeitete sie stets auch als freischaffende Forscherin und Wissensvermittlerin. «Ich habe nie eine klassische akademische Karriere geplant, sondern mich immer von meiner Neugier auf ein Thema leiten lassen. Das kann ich als freie Historikerin besser einhalten.»

Seglias bekommt seit vielen Jahren in langen Interviews schwierige Lebensgeschichten zu hören. «Dass ich diese Perspektiven miteinbeziehen kann, gefällt mir an meiner Forschung besonders gut.» Die Erzählungen lösen jedoch Emotionen aus. «Ich komme mit einem Forschungsinteresse. Trotzdem bin ich berührt von diesen Biografien. Vor allem aber von der Offenheit der Menschen. Ich staune immer wieder, wie sie mir als unbekannter Person so viel anvertrauen können. Ich habe aber schon von manchen gehört: So ist es einfacher. Sie gehen ja wieder.»

«Ich setze mich nach den Gesprächen mit den Betroffenen barfuss hin, um mich bewusst zu erden, um wieder ganz bei mir anzukommen.»

Besonders beschäftigen Seglias Geschichten von Menschen, die mehrfach traumatisiert wurden, «wenn Ereignisse ihr Leben noch immer massiv beeinflussen». Die Gespräche können bei den Forschenden etwas triggern, weswegen es Räume gibt für die Verarbeitung. «Darauf achte ich bei meinen Mitarbeitenden. Das war mir in der UEK ein Anliegen.» Dort unterstützten etwa Supervisorinnen den Prozess. «Ich selbst habe kleine Rituale entwickelt: Ich setze mich nach den Gesprächen barfuss hin, um mich bewusst zu erden, um wieder ganz bei mir anzukommen.»

Bei den Betroffenen haben die Begegnungen erst recht emotionale Wirkung. «In dem Moment, wo ich Kontakt aufnehme, löse ich etwas aus. Das eigentliche Interview braucht dann viel Kraft. Deswegen mache ich es meistens bei den Leuten zu Hause, ausser sie wollen das nicht.» Forschende hätten die Verantwortung, sorgsam mit den Befragten umzugehen. Die Teilnahme müsse «absolut freiwillig» sein und die Zusage zum Interview könne jederzeit zurückgezogen werden. Seglias ist aber überzeugt: «Es machen nur Leute mit, die bereit sind für diesen Schritt.»

«Gewisse Leute sind enttäuscht, wenn ich nicht weiter dabei bin. Manche finden auch, ich sei zu diplomatisch.»

Dass ihre Forschung direkt auf das Leben der Betroffenen wirkt, beweisen die Briefe, die Seglias manchmal viele Jahre nach den Interviews bekommt. Sie erinnert sich an ein Beispiel: «Die Tochter einer Zeitzeugin hat mir geschrieben, sie würde es schön finden, wenn ich an die Beerdigung ihrer Mutter käme. Nach dem Gespräch mit mir hätten sie in der Familie angefangen, miteinander zu reden.» Es gebe aber auch kritische Reaktionen. «Die Bedürfnisse sind unterschiedlich. Manche Betroffene sagen: Jetzt müssen wir weitermachen, die Geschichte ist politisch nicht abgeschlossen. Gewisse Leute sind dann enttäuscht, wenn ich nicht weiter dabei bin. Manche finden auch, ich sei zu diplomatisch.»

Dabei macht Loretta Seglias in einem anderen Sinn immer weiter: Nachdem sie fast in der ganzen Deutschschweiz Geschichten von systematischen Diskriminierungen und staatlichen Zwangsmassnahmen ans Licht geholt hatte, tat sie dasselbe auch in Liechtenstein. Eine weitere Form der Fortsetzung sei «Gesichter der Erinnerung», eine Online-Plattform, die noch in Arbeit ist, «mein Herzensprojekt». Darauf erzählen Betroffene von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen. Diese sind für das Projekt gleichberechtigt mitverantwortlich. Unter anderem mit solchen Citizen-Science-Projekten wird Seglias demnächst den Schritt wagen, ganz als freie Historikerin zu arbeiten.

Betroffenheit in eigener Familie

Seglias ist am Zürichsee aufgewachsen, hat aber Wurzeln in Graubünden. Zwei ihrer Grosseltern haben früh einen Elternteil verloren. «Im einen Fall konnte die Familie zusammenbleiben. Ein Grossvater dagegen ist woanders aufgewachsen.» Auch in ihrer Familie gab es also Armut und Bevormundungen durch den Staat. Das sei aber nicht der Grund für ihre Forschungen gewesen. Wie ihre Grosseltern aufgewachsen waren, sei zwar nie ein Geheimnis gewesen, «aber die Geschehnisse wurden nicht kritisch hinterfragt, nicht als Teil eines Systems eingeordnet, auch von mir nicht. Am Anfang meiner Forschungstätigkeit war mir das Ausmass der strukturellen Ungleichheiten überhaupt nicht klar.»

«Als Bürgerin dieses Landes geht mich das Leben der Betroffenen etwas an.»

Hunderte Leidensgeschichten, Betroffenheit in der eigenen Familie, Mitarbeit in politischen Prozessen – treibt der Kampf gegen Ungerechtigkeiten Seglias’ Forschung an? Einerseits bejaht das die Historikerin, schliesslich hat sie schon als Studentin die Geschichte der Frauen in der Black-Panther-Bewegung analysiert. Andererseits sei ihre Aufgabe als Historikerin gerade, beim Blick in die Vergangenheit vielfältige Perspektiven einzubeziehen. «Als Bürgerin dieses Landes geht mich das Leben der Betroffenen etwas an.» Auch die Sicht der Entscheidungstragenden gehöre für sie jedoch zur historischen Rekonstruktion, denn diese «lebt vom Gegensätzlichen».