So entstehen neue Quellen: Historiker Dominik Streiff Schnetzer (rechts) befragt den Journalisten Stefan Keller für das Oral-History-Projekt Journalistory. Sein Ziel ist es, ein audiovisuelles Archiv zum Qualitätsjournalismus ab den 1960er-Jahren zu erstellen. | Bild: Peter Hammann

Dominik Streiff Schnetzer, stellen wir uns vor: Eine Zeitzeugin wurde diskriminiert oder als Angehörige einer Minderheit verfolgt. Warum braucht es die Oral History, um solche Themen aufzuarbeiten?

Sie sind Journalistin, ich Kurator im Historischen Museum Thurgau. Wir gehören zu einer Elite, die sich Öffentlichkeit verschaffen kann. Ein zentraler Kern der Oral History ist nun eben, Gruppen eine Stimme zu geben, die sonst keine haben. Diese brauchen eine Instanz, die sie nicht instrumentalisiert.

«Es ist ein zentraler Kern der Oral History, Gruppen eine Stimme zu geben, die sonst keine haben.»

Wer würde sie denn instrumentalisieren?

Nehmen Sie beispielsweise den aktuellen Thurgauer Forschungsfall Roland Kuhn, unter dessen Ägide ab den 1950er-Jahren in der damaligen Psychiatrischen Klinik Münsterlingen Medikamentenversuche an Menschen durchgeführt wurden. Als Journalistin könnten Sie nun mit der These ins Interview gehen, dass Kuhn alles richtig gemacht habe, und den Zeitzeugen entsprechende Fragen stellen. Eine Oral Historian hingegen instrumentalisiert diese nicht für eine These, sondern zeichnet die Vielschichtigkeit der Erinnerung auf.

Was können subjektive Quellen über die Vergangenheit allgemein aussagen?

Oral History erhebt nicht den Anspruch, ganze Epochen abzubilden. Durch Anwendung der Methode entstehen allerdings neue Quellen. Historikerinnen und Historiker arbeiten diese auf und vergleichen sie mit anderen Zeugnissen aus derselben Zeit; etwa mit Urkunden, Fotografien oder Gerichtsakten. Danach ziehen sie ihre Schlüsse. Es gibt keine objektiven Quellen.

Mündliches festhalten
Oral History, also die systematische Befragung von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen für geschichtswissenschaftliche Zwecke, entstand im englischsprachigen Raum in den 1930er-Jahren. Die Methode macht Erfahrungen sichtbar, die nicht schriftlich festgehalten wurden.

Auf dem europäischen Kontinent setzt sich die Methode seit etwa 20 Jahren durch. Der Verein Archimob realisierte das bisher grösste mit öffentlichen Geldern geförderte Oral-History-Projekt der Schweiz. Von 1999 bis 2001 wurden 555 Interviews zu Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg auf Video aufgezeichnet. Der SNF unterstützt derzeit rund 30 Forschungsprojekte, welche die Methode anwenden.

Werden Menschen mit verletzenden Erfahrungen durch solche Interviews nicht retraumatisiert?

Das ist ein Dilemma. Tatsächlich fokussieren wir in der Geschichtswissenschaft gern auf Konfliktfelder und Brüche. Menschen mit schwierigen Erfahrungen sind gleichzeitig besonders schützenswert. Uns Historikern fehlt aber die fachliche Kompetenz, solche Menschen psychologisch versiert zu befragen. In diesem Bereich hat die Oral History noch Entwicklungspotenzial, denn die Zusammenarbeit mit der Psychologie wird selten gesucht.

Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit ein Oral-History-Interview wissenschaftlich korrekt durchgeführt wird?

Es braucht drei Teilprojektgruppen: Eine leitet die Vorbefragungen, um herauszufinden, wer überhaupt für ein Interview geeignet ist. Eine andere führt das eigentliche Interview durch, sonst denkt die befragte Person ständig: Das habe ich schon erzählt! Schliesslich wertet eine dritte Facheinheit das Interview aus. Die Interviewführenden können das nicht tun, weil sie durch die Nähe zum Zeitzeugen persönlich befangen sind. Zudem muss man sich bewusst sein: Subjektive Erinnerungen sind immer beeinflusst von Diskursen und kollektiver Erinnerung. Unter anderem auch deshalb wird die Oral History im deutschsprachigen Raum zögerlich angewendet. Im angelsächsischen Raum gibt es weniger Beisshemmung.

Das klingt kompliziert.

Oral History ist sehr anspruchsvoll. Auch technisch gesehen. Die Interviews sollten wegen Gestik und Mimik audiovisuell aufgenommen werden, was manche Forschende an den Anschlag bringt. Videodateien müssen schliesslich transkribiert und nachhaltig gespeichert werden, am besten in einem Archiv. Wegen all dieser ressourcenintensiven Bedingungen findet sich die professionell angewandte Oral History eher bei grossen Projekten wie Archimob (siehe Kasten unten). Ernst nehmen sollen Projektleitende die Oral History aber immer. Schliesslich gehören Zeitzeugenerinnerungen zu unserem kulturellen Gedächtnis.