Emotionen waren in der Geschichtswissenschaft lange eine Leerstelle, sagt Bettina Hitzer, die in Berlin zur «Geschichte der Gefühle» forscht.

Emotionen waren in der Geschichtswissenschaft lange eine Leerstelle, sagt Bettina Hitzer, die in Berlin zur «Geschichte der Gefühle» forscht. | Bild: Saied Sharifi

Seit zehn Jahren wird am Max- Planck-Institut für Bildungsforschung die Geschichte der Gefühle erforscht. Im Zentrum stehen das 18., 19. und 20. Jahrhundert. Die Forschenden wollen den gesellschaftlichen Normen auf die Spur kommen, die Gefühle prägen, und zeigen auf, wie sich Gefühle im Verlauf der Geschichte verändern. Von Anfang an mit dabei war Bettina Hitzer, Leiterin des Forschungsschwerpunktes «Gefühl und Krankheit. Geschichte(n) einer komplizierten Beziehung».

Bettina Hitzer, fühlen Menschen heute anders als vor 100 Jahren?

Ja, das ist meine Überzeugung. Auch wenn Psychologen und Neurowissenschaftler argumentieren würden, Gefühle seien eine universale Konstante. Für die neuronalen Aktivitäten mag das stimmen. Für mich als Historikerin sind Gefühle aber erst vorhanden, wenn sie vom Subjekt wahrgenommen werden. Und hier kommt immer der kulturelle und historische Kontext dazu.

Wie kann sich ein Gefühl verändern?

Über Angst wird gesagt, sie habe einen evolutionären Sinn, weil sie uns vor Gefahren warnt. Doch die Objekte der Angst verändern sich. Ende des 19. Jahrhunderts zum Beispiel hatten viele Angst, lebendig begraben zu werden. Heute hat man eher Angst davor, dass der Gehirntod festgestellt wird, Organe zur Transplantation entnommen werden und man doch noch einen Rest Bewusstsein hat. Diese Veränderung hängt mit technischen Entwicklungen zusammen. Aber auch das Gefühl der Angst selbst hat sich geändert. Weil die Art, wie wir sie moralisch bewerten und über sie reden, sich verändert hat. Und dies hat Rückwirkungen auf das Gefühl selbst.

Inwiefern?

Wie Erziehungsratgeber zeigen, dominierte Ende des 19. Jahrhunderts die Auffassung, dass ein wohlerzogenes Kind mit gut ausgebildetem Charakter bestimmte Ängste wie etwa die Furcht vor der Dunkelheit leicht und ohne grosse Hilfe überwinden kann. Wenn dies nicht gelang, schämte es sich dafür und setzte alles daran, nicht darüber zu sprechen. Dadurch konnten die Ängste noch grösser werden. Heute hat sich diese Haltung – zumindest in der westlichen Gesellschaft – vollständig geändert. Man ermuntert die Kinder geradezu, über Angst zu sprechen. Sie ist deutlich weniger schambesetzt.

«Ab den 1980er-Jahren wurden Gefühle nicht mehr als irrational oder pathologisch angesehen.»

Man liest oft, im Mittelalter und in der frühen Neuzeit sei die Trauer über den Tod eines Kindes für die Eltern weniger schlimm gewesen.

Es gibt viele Quellen, die eine andere Sprache sprechen und von grosser Trauer der Eltern erzählen. Trotzdem hat sich die Trauer wohl anders angefühlt als heute, weil ein Kindstod als selbstverständlicher galt. Und man eingebettet war in bestimmte Denkund Glaubenshorizonte, in denen der Tod eines Kindes positiv bewertet werden konnte: das unschuldige Wesen, das heimgeht zu Gott. Diese Sicht teilen heute vermutlich nur wenige Menschen. Die Frage nach der Stärke von Gefühlen kann kaum beantwortet werden. Die Emotionsgeschichte misst nicht die Quantität, sondern erforscht qualitative Aspekte der Emotionen.

Gibt es Gefühle, die mal wichtig waren und heute nicht mehr beachtet werden?

Ja, oder die zumindest sehr im Hintergrund bleiben. Ute Frevert, die diesen Forschungsbereich gegründet hat, spricht von «lost and found emotions». Zum Beispiel ist die Empathie eine erst in jüngerer Zeit neu erfundene Emotion. Und Anfang des 20. Jahrhunderts sprach man sehr viel unbefangener darüber, wenn man sich vor etwas oder vor jemandem ekelte. Heute dagegen ist Ekel tabubehaftet.

Sind wir zu politisch korrekt dafür?

Das ist etwas zu stark ausgedrückt. Wenn wir Ekel gegenüber anderen Menschen empfinden, gilt er als asoziale Emotion. Weswegen er oft verschwiegen wird. Zwischen den Zeilen taucht er aber auf, etwa in Sprachbildern. Ein Beispiel: Wenn Obdachlose auf bestimmte Art und Weise beschrieben werden, etwa als verwahrlost, dann ist jeder Person klar, dass man sich eigentlich ekelt.

Das war früher anders?

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde Ekel oft ausdrücklich benannt. So wollte man etwa in den Zwanzigerjahren Patienten mit fortgeschrittenen Tumoren nicht auf die normalen Stationen legen, weil die Absonderungen ihrer Körper als ekelerregend empfunden wurden. Zugleich diskutierte man relativ offen darüber, was getan werden könnte, damit der Ekel weniger gross ist. Heute sind kaum noch so weit fortgeschrittene Tumore zu sehen, aber bei Mund- und Kieferkrebs ist Ekel noch ein Thema. Darüber sprechen Ärztinnen und Pfleger allerdings fast nur fachintern, weil es öffentlich kaum vermittelbar ist.

Wie stark beeinflusst die Wissenschaft Gefühle?

Sie ist im Rückblick auf die letzten 150 Jahre sehr wichtig, allen voran die Psychologie, die Psychoanalyse und die Physiologie. Diese Wissenschaften haben Modelle dafür entwickelt, wie bestimmte Gefühle funktionieren und wie man besser mit ihnen umgehen kann. Man denke etwa an die verschiedenen Spielarten der Psychotherapie, die Gefühle in einer ganz bestimmten Art und Weise erklären und behandeln.

«Meine Emotionen haben mir geholfen eine bessere Historikerin zu sein.»

Gab es eine andere Zeit, in der die Wissenschaften die Wahrnehmung von Emotionen stark verändert haben?

In den Kulturwissenschaften wird der Begriff «emotional turn» verwendet, der in Gesellschaft und Wissenschaft der Achtzigerjahre stattgefunden hat. Sein wesentlicher Aspekt ist: Emotionen wurden nicht mehr als irrational oder pathologisch angesehen. Und als rationaleres Phänomen wurden sie für die Wissenschaften zugänglicher. Das kann man auch kritisieren und von einer Rationalisierung der Gefühle reden, die Gefühle und Kognition fast ununterscheidbar macht. Erste Ansätze einer Hinwendung zur Emotion als wissenschaftlichem Objekt gab es allerdings schon in den späten Sechzigerjahren in der kognitiven Psychologie. Man erkannte damals, dass Emotionen Entscheidungen erst möglich machen. Sie fanden später auch Eingang in die positive Psychologie und die Idee der emotionalen Intelligenz.

Was veränderte der «emotional turn» in der Gesellschaft?

Die neuen sozialen Bewegungen der Siebziger- und Achtzigerjahre wie die Frauenbewegung, die Friedensbewegung und die Umweltbewegung entdeckten Emotionen einerseits als Beleg für Authentizität und brachten sie andererseits in Frontstellung zu einer öffentlichen Debatte, die mit kühler Mentalität argumentierte: etwa mit Risikokalkulationen oder Sicherheitspolitik. Gefühle wurden einer als spiessbürgerlich empfundenen Gesellschaft gegenübergestellt. Eine wichtige Forderung der Jugendunruhen der Achtzigerjahre in Zürich lautete: Mehr Wärme in der kalten Stadt!

Inzwischen wird breit zu Emotionen geforscht. Sind die Gefühle der Forschenden dabei wichtig?

Ja. Als Historikerin habe ich mich mit der Emotionsgeschichte der Krebskrankheit beschäftigt. Und wie sie durch räumliche Konstellationen und technische Apparate geprägt ist. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren hat eine technische Entwicklung dazu geführt, dass es plötzlich sehr grosse Bestrahlungsgeräte gab. Die Patienten wurden für diese Behandlung in abgeschottete Räume gebracht. Es war nicht einfach herauszufinden, wie sie sich dabei gefühlt haben. Darum habe ich mir Fotos von Menschen in solchen Situationen angeschaut und mir vorgestellt, wie ich es empfinden würde, unter dem Apparat zu liegen. Wie das Gefühl ist, wenn er um mich herumgreift und sich die Liege bewegt.

Wie hat Ihnen das bei der Forschungsarbeit geholfen?

Meine Gefühle zu den Bildquellen wiesen mich auf Details hin, die mir sonst vielleicht entgangen wären und auf die ich dann später auch in den Patientenunterlagen stiess. Meine Emotionen haben mir also eine Spur gewiesen und mir geholfen, eine bessere Historikerin zu sein. Dennoch: In einem zweiten Schritt musste ich meine eigenen Emotionen reflektieren und mich fragen, wie stark sie von meinem heutigen kulturellen Kontext geprägt sind.

Welche Entdeckungen im Forschungsprojekt «Geschichte der Gefühle» haben Sie am meisten überrascht?

Am Anfang war ich skeptisch, ob diese Forschung nicht nur an der Oberfläche würde kratzen können. Doch im Verlauf der Arbeit habe ich festgestellt: Es sind nicht nur die sogenannten Ego-Dokumente wie Tagebücher oder Briefe, die über Emotionen Auskunft geben, sondern jegliche Arten von Quellen wie Patientenberichte, Gerichtsurteile, Fotos und so weiter, auch wenn Emotionen dort nicht explizit erwähnt werden. Es ist so anspruchsvoll wie erhellend, diese Quellen in Verbindung miteinander zu bringen.

Eine persönliche Frage zum Schluss: Warum das Interesse für Emotionen?

Erstens war das lange eine Leerstelle in der Geschichtswissenschaft, und wir verstehen Geschichte besser, seit wir sie erforschen. Zweitens hat die Beschäftigung mit den Emotionen mir sehr deutlich gemacht, dass meine spontanen Gefühle viel stärker, als ich gedacht hätte, mit meiner Erziehung und dem kulturellen Kontext, in dem ich mich bewege, zu tun haben. Vieles, was ich für selbstverständlich gehalten habe, ist gar nicht so universal, sondern von Moral und Sozialisierung bestimmt.