Für die Philosophin Suzann-Viola Renninger ist die Würde der Kreatur klar ein anthropozentrisches Konzept. | Foto: Vera Hartmann

Suzann-Viola Renninger, Sie haben zwei Spatzen aufgepäppelt. Als Mitglied der Tierversuchskommission bewilligen Sie Tumorexperimente bei Mäusen. Wie halten Sie diese Spannung aus?

In beiden Fällen sorge ich mich um das Wohl der Tiere. Doch wenn es um die Therapie oder die Heilung schwerer Krankheiten geht, ist mir das Wohlergehen von Menschen wichtiger. Deshalb befürworte ich – unter bestimmten Bedingungen – Tierversuche für Medizin und Grundlagenforschung und somit auch die Verpflanzung von Tumoren in Mäuse.

Wie funktioniert die Kommission?

Wir setzen den Auftrag der Verfassung um: Sie garantiert die Forschungsfreiheit und verlangt gleichzeitig, der Tierwürde Rechnung zu tragen. Diese Grundsätze stehen bei Tierversuchen in Spannung zueinander. Bei Anträgen klären wir zuerst alle fachlichen Fragen. Etwa: Ist die Forschung auf dem neuesten Stand? Werden die Tiere gut behandelt und gehalten? Gibt es eine genügende Schmerzbehandlung? Oft gehen die Anträge mit unseren Fragen bis zu zwei Mal an die Forschenden zurück. Erst wenn wir aus fachlicher Sicht zufrieden sind, machen wir die Güterabwägung.

Philosophin mit Sinn fürs Praktische
Nach dem Studium der Biologie und der Promotion in Philosophie ging Suzann-Viola Renninger (61) in die Privatwirtschaft. Sie gründete eine Softwarefirma, arbeitete auf der Redaktion der NZZ und war Mitherausgeberin der Zeitschrift Schweizer Monat. Seit 13 Jahren ist sie Dozentin für Wissenschaftsphilosophie und Ethik an der Universität Zürich. Daneben gibt sie Philosophievorträge für die breite Bevölkerung, publizierte ein Buch zur Freitodbegleitung und sitzt seit 2018 in der Tierversuchskommission des Kantons Zürich.

Wie funktioniert eine Güterabwägung? Ist das ein moralischer Bauchentscheid?

Wenn Sie mit Bauchentscheidung meinen, dass die gesamte Lebenserfahrung mit einfliesst, dann ja. Allerdings ist es eine informierte Bauchentscheidung. Wir haben das Gesuch jeweils genau studiert und das Pro und Kontra diskutiert. Wenn alle Parameter stimmen und es im Versuch darum geht, einen Baustein zum Verständnis von Demenz oder Krebs zu liefern, dann spricht das meines Erachtens für den Versuch. Für andere ist es ein Kontra, da für sie die Anwendung, also die Heilung dieser Krankheiten, noch in zu weiter Ferne liegt. Bei der Güterabwägung ist dann jedes Kommissionsmitglied auf sich gestellt. Zum Schluss gilt der Mehrheitsentscheid.

Sie vergleichen Äpfel mit Birnen: die Belastung von realen Versuchstieren mit dem Erkenntnisgewinn für die Menschen.

Nicht nur für die Menschen. Es resultiert auch ein Nutzen für die Veterinärmedizin und den Umweltschutz. Aber ja, das Grundproblem bleibt bestehen. Wir können Belastung der Tiere und Erkenntnisgewinn nicht mit einer Skala messen und numerisch vergleichen. Daher sprechen wir ja auch von Güterabwägung und nicht von Güterabwiegung. Es ist ein moralischer und kein mechanischer Entscheid.

«Wer glaubt, dass eine Kommission mit Laien eher gegen die Gesuche entscheiden würde, muss bedenken, dass zu den Laien auch Angehörige von schwerkranken Personen gehören würden.»

Die Tierschützenden bemängeln, dass sich die Ablehnungsraten im tiefen einstelligen Prozentbereich befinden.

Die Qualität der Güterabwägung bemisst sich nicht an der Ablehnungsrate. Die meisten Gesuche sind gut formuliert, und für die Mehrheit der Kommission gibt es daher auch gute Gründe, sie zu genehmigen.

An der Universität Linz und in Schweden sind Laiinnen an der ethischen Bewertung beteiligt. Wäre das nicht auch ein gutes Modell für die Schweiz?

Es wäre eine anspruchsvolle Aufgabe für Laien, da es Fachwissen braucht. Man muss etwa beurteilen können, ob es eine tierfreie Alternative gibt, ob man die Anzahl der Tiere reduzieren oder ihre Lebensumstände verbessern kann. Natürlich könnten Laien die Kommission ergänzen. Wer glaubt, dass eine Kommission mit Laien eher gegen die Gesuche entscheiden würde, muss bedenken, dass zu den Laien auch Angehörige von schwerkranken Personen gehören würden.

Fachkommission für Gewissensentscheide
Jeder Tierversuch im Kanton Zürich muss vom kantonalen Veterinäramt bewilligt werden. Dieses stützt sich auf die Empfehlung von elf vom Regierungsrat gewählten Personen – davon drei Vertreterinnen von Tierschutzorganisationen. Insgesamt prüfen zurzeit sechs Tierärztinnen, zwei Mikrobiologen, eine Juristin, ein Biostatistiker und eine Philosophin die Anträge darauf, ob es keine andere Möglichkeit gibt, zur gleichen Erkenntnis zu kommen, und ob die Belastung der Versuchstiere gerechtfertigt werden kann. Die Zürcher Tierversuchskommission ist die grösste der Schweiz und hat mit ihren Entscheiden eine nationale Signalwirkung.

In der Zürcher Kommission sitzen auch drei Vertreter des Tierschutzes. Steht es am Schluss stets alle gegen drei?

Die Tierschutzorganisationen müssen laut Gesetz angemessen vertreten sein. Die Besonderheit von Zürich ist, dass drei Personen aus der Kommission einen Rekurs gegen die Entscheidung der Kommission erheben können. Es ist ein Korrektiv, das vertiefte und wichtige Diskussionen anwerfen kann.

Forschende beklagen sich über die grosse Bürokratie bei Anträgen.

Ja, für die Forschenden wird der Aufwand immer grösser. Sie müssen die Versuche sehr genau planen und sie in vielen Aspekten darstellen. Sie müssen zudem schon selbst die Güterabwägung vornehmen. Dass dies für sie zeitraubend und daher lästig sein kann, kann ich nachvollziehen. Aber es ist ein Prozess für das Tierwohl, mit dem sie leben müssen. Je sorgfältiger sie ihre Gesuche formulieren, desto weniger Rückfragen haben wir und desto schneller ist der Antrag bearbeitet.

«Je sorgfältiger Forschende ihre Gesuche formulieren, desto weniger Rückfragen haben wir und desto schneller ist der Antrag bearbeitet.»

Neben Schmerz, Stress und Schäden muss die Kommission auch die sogenannte nicht pathozentrische Belastung bewerten. Worum geht es dabei?

Das ist keine leichte Frage. Der Begriff Würde der Kreatur befindet sich seit 1992 in der Verfassung. Daraus wurde das Konzept des Eigenwerts des Tieres abgeleitet und daraus wieder, dass auch die nicht pathozentrische Belastung berücksichtigt werden muss. Eine solche Belastung liegt nach dem Tierschutzgesetz vor, wenn das Tier übermässig instrumentalisiert wird. Das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen erwähnt als Beispiel die Parabiose, bei der etwa die Körper von zwei Mäusen zusammengenäht werden.

Ein krasses Beispiel! Ist ein Versuchstier denn nicht immer instrumentalisiert?

Sie legen den Begriff weit aus. So gesehen werde auch ich im Augenblick als Interviewpartnerin instrumentalisiert – und auch ein Tier, das gegessen wird, oder ein Zoo- und ein Haustier. Ob übermässig oder nicht, ist eine andere Frage. Bei den Versuchstieren ist das für manche Personen bereits bei der Züchtung der Fall. Übermässige Instrumentalisierung ist ein Begriff, der leicht zu Missverständnissen führt. Denn der Gesetzgeber meint damit nicht, dass der Versuch automatisch abgelehnt werden muss. Dieses Konzept führte zu intensiven Diskussionen in der Kommission.

«Der Gesetzgeber meint mit dem Begriff ‹übermässige Instrumentalisierung› nicht, dass der Versuch automatisch abgelehnt werden muss.»

Was kam dabei heraus?

Wir haben Kriterien entwickelt, die alle Beteiligten – die Forschenden, die Kommission und die Öffentlichkeit – heranziehen können, um zu beurteilen, ob eine übermässige Instrumentalisierung vorliegt. Können, nicht müssen! Die Gründe für einen moralischen Entscheid lassen sich nicht vorschreiben.

Ist die Würde der Tiere nicht ein anthropozentrisches Konzept, das vom eigentlichen Leiden der Tiere ablenkt?

Klar ist das anthropozentrisch. In der Kommission können die Tiere ja nicht mitbestimmen. Ein Tier leidet wohl eher unter Schmerzen als unter einer Würdeverletzung. Wir Menschen sind es, die stellvertretend für die Würdeverletzung des Tieres leiden. Ausserdem macht das Konzept der Würde der Kreatur die Begutachtung nicht schlanker und kann tatsächlich vom eigentlichen Leiden ablenken.

«Das Konzept der Würde der Kreatur macht die Begutachtung nicht schlanker und kann tatsächlich vom eigentlichen Leiden der Tiere ablenken.»

Könnten die ethischen Entscheidungen der Kommission transparenter werden?

Wie der Prozess von der Antragstellung bis zum Entscheid vor sich geht, welche Informationen wir von den Forschenden brauchen und wie eine Güterabwägung erfolgt, ist für alle im Internet zugänglich – auch der Kriterienkatalog für die übermässige Instrumentalisierung. Die Kommissionssitzungen sind vertraulich, damit wir frei und sachgerecht diskutieren können. Sie werden jedoch protokolliert, damit bei einem Rekurs unsere Entscheidungen nachvollziehbar sind.