Die Menschen müssen das Gefühl haben, dass es ihr eigener Entscheid ist, Sport zu treiben. Nur dann bleiben sie auch dran, erklärt Sportpsychologe Boris Cheval. | Foto: Hervé Annen

Boris Cheval, die positiven Effekte von körperlichen Aktivitäten sind Ihr Spezialgebiet. Ich stelle mir vor: Sie sind selbst sportlich?

Ja, ich jogge und spiele Fussball.

Ist dieser Drang nach Betätigung menschlich?

Unsere Beziehung zur Bewegung ist uralt: Im Laufe der Evolution ist die Menschheit irgendwann zu Streifzügen in die Umgebung aufgebrochen. Seither ist Bewegung Teil unseres Lebensstils. Wir gehören zu den wenigen Arten, die körperliche Aktivitäten brauchen – oder Sport, auch wenn ich selbst diesen Begriff vor allem für physische Aktivitäten in einem bestimmten Rahmen verwende, zum Beispiel in einem Klub. Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt 30 bis 60 Minuten Bewegung pro Tag. Menschenaffen hingegen sind kaum aktiv, trotzdem gefährden sie ihre Gesundheit nicht.

Ein Aktiver erforscht Faulheit
Boris Cheval, Neuro- und Sportpsychologe und Experte Sozialepidemiologie erforscht den Zusammenhang zwischen körperlicher Aktivität und Gesundheit. Seit zwei Jahren steht im Fokus seiner Forschung am Swiss Center for Affective Sciences an der Universität Genf das Thema Anstrengungsminimierung. Er will insbesondere erklären, weshalb viele Menschen zwar körperlich aktiv sein möchten, sich aber nicht dazu überwinden können. Er hat 2020 ein Buch mit dem Titel «Le syndrome du paresseux» (Das Faulheitssyndrom) veröffentlicht.

Auch wir tendieren trotzdem dazu, uns möglichst wenig zu bewegen.

Auch dafür gibt es eine evolutionsgeschichtliche Erklärung. Lange war es wegen des beschränkten Nahrungsangebots eine Frage des Überlebens, ob man überflüssige Anstrengungen vermeiden konnte. Das ist heute zwar nicht mehr der Fall, doch unser Gehirn wägt nach wie vor ab, ob ein Energieaufwand notwendig ist, und versucht ihn sonst zu vermeiden. Wir fühlen uns also zu Aktivitäten im Sitzen hingezogen, von denen uns leider immer mehr zur Auswahl stehen. Selbst bei körperlichen Aktivitäten tendieren wir stets zur Energieoptimierung. Zahlreiche Studien aus der Physiologie und der Biomechanik bestätigen dies. Bei gut trainierten Personen sind die Bewegungen viel effizienter als bei Anfängern.

Was motiviert uns denn zum Sport?

Wir benötigen einen starken Auslöser. Der gesellschaftliche Druck durch unser Körperbild und Gesundheitskampagnen können dazu beitragen, dass wir mit Sport beginnen. Sie sind aber in der Regel nicht entscheidend dafür, ob wir dabeibleiben. Die Menschen müssen nämlich das Gefühl haben, dass es ihr eigener Entscheid ist. Das ist am ehesten der Fall, wenn einem die Aktivität Spass macht, wenn man in einer Gruppe trainiert oder ein Ziel hat. Das sind Motivationen, die als innerer Antrieb für Sport funktionieren. Denn sie befriedigen grundlegende psychologische Bedürfnisse. Wenn diese durch den Sport gestillt werden, dann bleiben die Leute dran.

Haben Sie ein Beispiel dafür?

Stellen Sie sich ein Kleinkind vor, das zu laufen beginnt. Es will gar nicht mehr aufhören. Es muss sich anstrengen, hat aber ein Ziel: zu lernen. Sobald es laufen kann, lässt es sich dann aber lieber tragen – kein Wunder, denn es spart damit viel Energie! Eltern machen noch eine andere Erfahrung: Auf dem Weg zum Spielplatz muss man die Kinder antreiben. Sobald sie dort sind, rennen, hüpfen und verausgaben sie sich dann von sich aus. Das scheint widersprüchlich, ist es aber nicht: Das Spazieren auf dem Weg ist ein unnötiger Energieverbrauch, auf dem Spielplatz hingegen bringt das Herumtoben positive Emotionen und soziale Erlebnisse. In einer solchen Situation fällt es einfach, sich anzustrengen.

«Selbst bei körperlichen Aktivitäten tendieren wir stets zur Energieoptimierung.»

Und was motiviert Sie selbst, Sport zu treiben?

Der Spass und das Wohlbefinden, die ich dabei erlebe. Ich gehe auch joggen, wenn ich merke, dass mein Kopf einen Neustart braucht. Ich denke zwar auch an meine Gesundheit, das ist für mich aber nicht der Antrieb, dreimal pro Woche zu joggen.

Welche positiven Effekte hat Sport überhaupt auf die Gesundheit?

Bei den meisten Leuten ist ein Nutzen zu beobachten. Mehrere Studien zeigen, dass Bewegung einen positiven Einfluss auf depressive Symptome hat und die kognitiven Fähigkeiten verbessert, zum Beispiel das Gedächtnis, die Konzentration, das Denkvermögen oder die räumliche Orientierung. Sport wirkt sich auch positiv auf die körperliche Gesundheit aus, weil Bewegung die Anfälligkeit für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, gewisse Krebsarten oder auch Diabetes verringert. Der Nutzen ist ausserdem in jedem Alter festzustellen. Wer bereits als Kind aktiv ist, baut sich ein grösseres Gesundheitskapital auf. Gewisse Forschungsarbeiten zeigen sogar, dass Bewegung bei schwangeren Frauen positive Effekte auf den Fötus hat. Bei Kranken hilft physische Aktivität, die Müdigkeit und Nebenwirkungen von Behandlungen zu bewältigen. Aktuellere Studien zeigen, dass Bewegung auch das Risiko für einen schweren Covid-Verlauf senkt.

«Bei Sport kann es zu einer Abhängigkeit kommen.»

Kann man diesen Nutzen quantifizieren?

Die Weltgesundheitsorganisation gibt an, dass 2020 weltweit fünf Millionen Todesfälle auf fehlende körperliche Bewegung zurückzuführen waren.

Kann Sport auch negative Auswirkungen haben?

Es kann zu einer Abhängigkeit kommen. Dies ist bei rund zwei bis drei Prozent der körperlich aktiven Personen der Fall. Gewisse Studien weisen darauf hin, dass diese das «Runner’s High» besonders ausgeprägt erleben. Dieses positive Gefühl empfinden sie so intensiv, dass sie die Anstrengung deswegen wiederholen, und zwar immer intensiver. So entsteht eine Abhängigkeit, die man auch bei anderen Verhaltensweisen erlebt. Zudem kann das übermässige Sporttreiben auch Verletzungen, gesellschaftliche Isolation und Entzugserscheinungen verursachen.

Man kann nicht nur Freude empfinden, wenn man selbst joggt. Vielen Leuten bereitet es auch Spass, einen Fussballmatch zu schauen, auch wenn sie dabei eher passiv sind.

Ja, das ist eine sehr alte Tradition. Bereits die Römer liebten das Spektakel. Sie sahen in den Vorstellungen Leute sterben und konnten damit vielleicht auch gewisse Triebe befriedigen. Heute kann man in einem Fussballstadion freier als sonstwo seine Freude oder seinen Hass kundtun. Abgesehen vom persönlichen Effekt auf die Gesundheit kann Sport auch einem politischen oder pädagogischen Zweck dienen. Sie können damit ein sehr grosses Publikum erreichen.