Dem Langlaufathleten wird in Fünf-Minuten-Intervallen am Ohrläppchen Blut für einen Laktattest genommen, mindestens sieben Mal, bis zur Erschöpfung. | Foto: Gian Paul Lozza

Der Begriff Sport stammt vom lateinischen disportare, sich zerstreuen. Bis ins 19. Jahrhundert war sportliche Freizeitbetätigung denn auch meist jenen gesellschaftlichen Eliten vorbehalten, die Zeit dafür hatten. Erst nachdem breite Bevölkerungsschichten geregelte Arbeitszeiten, Freizeit und Ferien erhielten, gewann Sport als gesamtgesellschaftliches Phänomen an Bedeutung.

Auch die Wissenschaft setzte sich erst spät mit dem Sport auseinander. «Bis heute besteht in der Schweiz eine Distanz zwischen Akademie und Sport», sagt Achim Conzelmann, Professor für Sportwissenschaft an der Universität Bern. «Häufig herrscht die Ansicht vor, dass Praxiswissen zur Lösung von Problemen des Sports ausreichend ist.» Das zeigt: Physische Aktivität galt und gilt oft als Ausgleich zur geistigen Tätigkeit, nicht aber als Gebiet, das selbst eine geistige Tätigkeit erfordert. So waren auch die Anfänge der Sportwissenschaft stark praxisorientiert und dienten vor allem der Ausbildung von Lehrkräften für den Turnunterricht an Schulen.

«Bis heute besteht in der Schweiz eine Distanz zwischen Akademie und Sport.»Achim Conzelmann

Als die Universität Basel 1922 als erste Universität eine Sportlehrerausbildung etablierte, gab es über die praktische Lehre hinaus zwar auch eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Sport und Bewegung, diese wurde allerdings nicht als eigenständige akademische Disziplin angesehen, sondern war der medizinischen Fakultät angegliedert. «Pädagogik und Didaktik sowie sportpraktische Lehrveranstaltungen prägten die Ausbildung. Forschung hätte mehr Ressourcen und entsprechende Investitionen bedeutet», sagt Uwe Pühse, Vorsteher des Departements für Sport, Bewegung und Gesundheit an der Universität Basel. «Dazu war die Universität in Zeiten begrenzter Finanzmittel nicht bereit.»

Selbst als 1992 an der Universität Basel das Institut für Sport gegründet wurde, fristete die Forschung eher ein Schattendasein. «Forschung fand abends und am Wochenende statt. Ein akademischer Mittelbau fehlte gänzlich», erzählt Uwe Pühse, der bei der Institutsgründung eine von zwei akademischen Vollzeitstellen besetzte und damit die Herausforderungen der Etablierung der Sportwissenschaft als eigenständige wissenschaftliche Disziplin aus nächster Nähe miterlebt hat.

Zur Stärkung der Wehrkraft

Zudem war der Gestaltungsspielraum in der Ausbildung von Sportlehrkräften an den einzelnen Hochschulen eingeschränkt. «Turnen war im 20. Jahrhundert das einzige vom Bund vorgeschriebene Schulfach bei ansonsten kantonaler Schulhoheit», sagt Christian Koller, Historiker und Direktor des Schweizerischen Sozialarchivs, der sich intensiv mit der Geschichte der Sportwissenschaft in der Schweiz befasst hat. Die Universitäten bildeten also faktisch Turnlehrer im Auftrag des Bundes aus, die Diplome wurden vom Bundesrat und nicht, wie in anderen Fächern üblich, vom Dekan unterzeichnet. «Ein Grund dafür ist, dass Sport Ende des 19. Jahrhunderts als ein Mittel zur Stärkung der Wehrkraft gesehen wurde», sagt Koller. Das zeigte sich beispielsweise auch darin, dass die Anerkennung der Diplome durch das damalige Eidgenössische Militärdepartement erfolgte und die Turnlehrerausbildung an der ETH an die Militärwissenschaften angebunden war.

Die eidgenössischen Turn- und Sportlehrerdiplome wurden erst im Jahr 2005 abgeschafft und durch Bachelorund Masterdiplome ersetzt, was zu einer Neuausrichtung des Fachs führte. Der Systemwechsel brachte eine integrativere wissenschaftliche Erforschung des Gebiets Sport mit sich und trug dazu bei, dass sich Sport in der Schweiz als eigenständiges akademisches Fachgebiet etablierte. «Bis zu diesem Zeitpunkt war in der Schweiz die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Sport auf spezifische Fachrichtungen, wie Biomechanik oder medizinische Disziplinen, beschränkt», sagt Christina Spengler, Vizepräsidentin der Sportwissenschaftlichen Gesellschaft der Schweiz und Professorin für Bewegungswissenschaften an der ETH Zürich.

«Das Ansehen der Sportwissenschaft ist in den letzten Jahren erheblich gestiegen.»Uwe Pühse

Wichtig für die erfolgreiche Institutionalisierung der Sportwissenschaft an Universitäten war auch der gesellschaftliche Bedeutungsgewinn des Sports in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der sich unter anderem in der Verankerung eines Sportartikels in der Bundesverfassung 1970, der anschliessenden Verabschiedung des Sportförderungsgesetzes und 1998 in der Einrichtung des Bundesamts für Sport (BASPO) in Magglingen manifestierte. Die Gründung des BASPO spielte auch insofern eine Rolle, als das Bundesamt Forschungsgelder für sportwissenschaftliche Projekte vergibt. Massgebend war aber auch das Engagement von Einzelpersonen, die sich hartnäckig dafür einsetzten, dass die Notwendigkeit sportwissenschaftlicher Forschung von den Universitätsleitungen wahrgenommen wurde.

Zwischen 2005 und 2010 etablierten schliesslich zahlreiche Universitäten in der Schweiz eigenständige Lehrstühle für Sportwissenschaft. Die damit verbundene Förderung des akademischen Nachwuchses mit Promotions- und Habilitationsrecht, die Forschungsaktivitäten, die Einwerbung von Drittmitteln sowie Publikationen in renommierten Fachzeitschriften trugen zur Anerkennung der Sportwissenschaft als eigenständige wissenschaftliche Disziplin bei. «Das Ansehen der Sportwissenschaft ist in den letzten Jahren erheblich gestiegen», sagt Uwe Pühse. Dies bestätigt auch Achim Conzelmann: «Vergleicht man den wissenschaftlichen Output der Sportwissenschaft mit anderen sozial- und verhaltenswissenschaftlich orientierten Fächern, so brauchen wir heute keinen Vergleich zu scheuen.»

Eine Wissenschaft zweiter Klasse?

Sportwissenschaft beleuchtet ein breites Spektrum an Themen, die von psychischer Stressreduktion durch Sport über Mobilität nach einem Schlaganfall bis hin zur Frage reichen, ob es schädlich ist, im Fitnessstudio eine Hygienemaske zu tragen. Viele dieser Fragestellungen könnten auch aus der Sicht etablierter akademischer Disziplinen wie etwa der Psychologie oder der Medizin beantwortet werden. Warum also braucht es die Sportwissenschaft als eigenständige wissenschaftliche Disziplin?

Achim Conzelmann sieht sich oft mit dieser Frage konfrontiert. Denn auch nach ihrer akademischen Institutionalisierung blieb die Sportwissenschaft unter Rechtfertigungszwang, wurde oft als eine Wissenschaft «zweiter Klasse» gesehen. Damit ist die Sportwissenschaft allerdings nicht allein: «Alle weniger traditionellen Fächer haben ihre gesellschaftliche Relevanz zu belegen», so Conzelmann.

«Viele möchten Sportlehrerinnen werden, nicht Akademikerinnen. Das rechtfertigt eine Überprüfung der physischen Kompetenzen.»Roberta Antonini Philippe

Die Sportwissenschaft habe den grossen Vorteil, dass sie einen gesellschaftlich hoch relevanten Gegenstand bearbeite. Die Fragen seien facettenreich und Sport ein komplexes Phänomen, was eine interdisziplinäre Herangehensweise erfordere. «Genau darin liegen die Stärke und die Legitimation der Sportwissenschaft.» Die Sportwissenschaft geht davon aus, dass es sich bei sportlicher Tätigkeit um eine komplexe biologische, soziale und psychologische Aktivität handelt, die einer gesamtheitlichen Betrachtung aus wissenschaftlicher Sicht bedarf. «Sport fördert die motorische Entwicklung von Kindern, ist fester Bestandteil des Bildungs- und Erziehungswesens, erfüllt beispielsweise mit Sportvereinen wichtige soziale Funktionen und trägt zu einem gesunden Lebensstil bei», so Uwe Pühse. Auch ETH-Professorin Christina Spengler betont: «Die verschiedenen Facetten des Sports müssen als ein Ganzes betrachtet werden.» Dies sei auch für eine prominentere Wahrnehmung des Sports in akademischen Kreisen unabdingbar.

Die Nachfrage nach einem sportwissenschaftlichen Studium zeigt, dass sich das Fach einer grossen Popularität erfreut – im Studienjahr 2020/21 sind gemäss Bundesamt für Statistik über 2000 Studierende an Schweizer Universitäten und Fachhochschulen eingeschrieben. Im Vergleich zu Boomfächern wie Wirtschaft mit rund 23 000 Studierenden sind das zwar wenige. Dennoch: Einige Hochschulen haben gar Eignungstests eingeführt, einerseits, weil die Anmeldungen für den Studiengang beispielsweise in Basel die Platzkapazitäten übersteigen. Andererseits, weil viele Interessenten und Interessentinnen nach wie vor Sport unterrichten möchten und dafür gewisse motorische Fähigkeiten aufweisen sollen.

In Zukunft noch wichtiger

Doch entgehen den Universitäten durch Eignungstests, die physische Fähigkeiten prüfen, nicht viele potenziell begabte Nachwuchswissenschaftler und -wissenschaftlerinnen? «Nein», findet Roberta Antonini Philippe, Spezialistin in Sportpsychologie an der Universität Lausanne, die im Vorstand der Sportwissenschaftlichen Gesellschaft der Schweiz für Nachwuchsförderung zuständig ist. «Ein Grossteil der Studierenden möchten Sportlehrerinnen werden, nicht Akademikerinnen. Das rechtfertigt eine Überprüfung der physischen Kompetenzen.» Und Christina Spengler betont, dass die Sportwissenschaft alles andere als ein Nachwuchsproblem habe – im Gegenteil: «Viele unserer Doktorierenden betreiben nach der Promotion ausseruniversitäre wissenschaftliche Forschung, beispielsweise an Kliniken oder in Rehabilitationszentren. Es gibt an den Hochschulen nicht genügend Stellen für wissenschaftliche Nachwuchskräfte.»

Sportwissenschaft ist eine schnell wachsende Disziplin. Und obwohl sie als vergleichsweise junges Fachgebiet immer wieder Skepsis erntet, stehen die gesamtgesellschaftlichen Vorzeichen gut: Die eminente Bedeutung von Bewegung für die Gesundheit wird gerade in Anbetracht des steigenden Durchschnittsalters der Bevölkerung immer deutlicher. Gleichzeitig gilt Bewegungsmangel als eine der grössten gesundheitlichen Herausforderungen der Gegenwart, und Sport hat das Potenzial, wie eine Medizin für die physische und psychische Gesundheit zu wirken. Diese Phänomene und Zusammenhänge weiter zu erforschen, wird in Zukunft von wachsender Bedeutung sein.