Im Val di Piora hat Raffaele Peduzzi schon viel verändert, und er hat noch Pläne für die Zukunft: die Schaffung eines Hauses der Nachhaltigkeit. | Foto Claudio Bader

Imposant, weitläufig, wild: Das ist das Val di Piora, eine Hochebene mit unzähligen kleinen Bergseen auf rund 2000 Metern, ein Seitental der Leventina und eine der ursprünglichsten Landschaften im Kanton Tessin. Im Schatten der steilen Hänge hat Raffaele Peduzzi seine Wurzeln. Und auch nach 79 Jahren zieht ihn diese Umgebung noch immer in den Bann. Das Tal hat den Weg des Forschers geprägt und seine Neugierde immer wieder von Neuem geweckt – dank der vielfältigen Geologie und der reichen Tier- und Pflanzenwelt.

Als Kind träumte er nicht davon, Löwen zu zähmen, Astronaut oder Feuerwehrmann zu werden, sondern von einem Leben in Kontakt mit der Natur: «Dort oben in Piora gibt es Steinböcke und Gämsen. Ich bewundere diese Säugetiere, weil sie anpassungsfähig sind und sich in unzugänglichem, unwirtlichem Gelände mühelos bewegen.» Ausserdem gebe es die seltenen weissen Murmeltiere sowie Schneehasen, Tannenhäher, Blaukehlchen und manchmal sogar Alpensalamander zu entdecken, aber auch Pflanzenarten wie den Gletscherhahnenfuss, der eine Art Frostschutzmittel produziert und auch bei eisigen Temperaturen überlebt. «Ein ganzes Universum! » Diese Leidenschaft verband der Biologe mit einer weiteren Berufung: dem Unterrichten und der Weitergabe von Wissen.

Am Gotthard verwurzelt
Raffaele Peduzzi wurde 1942 in Airolo geboren. Er forschte beim Wasserforschungsinstitut Eawag in Dübendorf (ZH) und Kastanienbaum (LU) über Mikroorganismen in Seen. Nach seiner Promotion 1970 übernahm er die Leitung der praktischen Lehre in Mikrobiologie an der Universität Genf. Er unterrichtete an verschiedenen Schweizer Universitäten wie Neuenburg, der Università della Svizzera italiana (USI), der EPFL und der ETH Zürich sowie an ausländischen Unis wie Paris, Mailand und Varese. Heute ist er Präsident der Stiftung des Zentrums für Alpine Biologie in Piora, und er hat noch etwas vor: In Zusammenarbeit mit der USI möchte er ein Haus der Nachhaltigkeit unterstützen.

Wie viele Tessinerinnen und Tessiner damals erwarb der junge Peduzzi zunächst ein Lehrerdiplom und unterrichtete an der Mehrstufenschule in Madrano, einem kleinen Weiler von Airolo. Doch die Aufgaben in der Schule stillten seinen Wissensdurst nicht, weshalb er sich zu einem Studium an der Universität Genf entschloss. Damit konnte sich Peduzzi jahrzehntelang den Themen widmen, die ihm am Herzen liegen: Mikrohydrobiologie, Bakteriologie und Virologie, Wasserbiologie und vor allem alpine Biologie, zuerst als Student, später als Professor.

Auch weit weg vom Gotthard blieb er seiner Heimat verbunden: So durchforstete er die wissenschaftliche Literatur und andere Quellen zu der von piemontesischen Ärzten er-wähnten sogenannten Tunnel-Krankheit, einer mysteriösen Blutarmut der Bergleute, die Ende des 19. Jahrhunderts am Gotthardtunnel arbeiteten. Es stellte sich heraus, dass die Bergleute sich barfuss im Wasser bewegten, das beim Abbau aus dem Gestein sprudelte, und es manchmal sogar tranken. Dieses Wasser enthielt die Eier von Würmern der Gattung Ancylostoma: Die winzigen Eier drangen durch die Haut der Füsse in den Körper ein und setzten sich dann im Darm fest.

Im Feld statt im Labor

In den Vorlesungssälen, Laboren und Bibliotheken wurde es dem Tessiner allerdings bald zu eng: Er verschrieb sich dem Motto «sortez, marchez, sentez, herborisez!» des Pädagogen und Naturforschers Jean-Jacques Rousseau und führte praktische Kurse in Form von Exkursionen ein, natürlich auch in «sein» Val di Piora. Zunächst sammelten die Studierenden Fels- und Wasserproben, die sie dann im Labor der Universität untersuchten. «Das ergab aber nicht wirklich Sinn», erklärt Peduzzi. «Die Natur muss man vor Ort untersuchen, Phänomene müssen in ihrem ursprünglichen Habitat betrachtet und analysiert werden. Wir können diese Dinge nicht isoliert begreifen.» So steckte er Ende der 1980er- Jahre seine Energie in ein neues Projekt: den Bau eines Zentrums für alpine Biologie in Piora. Inspirieren liess er sich dabei von zwei französischen Einrichtungen für Forschung und Lehre: Roscoff und Banyuls-sur-Mer.

Der Tessiner Grosse Rat übertrug Peduzzi 1989 die Leitung des Projekts, das fünf Jahre später realisiert werden konnte. Im Val di Piora wurden dafür zwei sogenannte Barc restauriert, das sind typische ländliche Gebäude aus dem 16. Jahrhundert. Sie beherbergen drei Labors, eine Aula, zwei Mensen, eine Bibliothek mit Archiv und Schlafsäle mit insgesamt 65 Betten. Forschenden und Studierenden eröffnet sich dort eine neue Welt, in der sich die an Artenvielfalt reiche Natur – 1732 Pflanzenarten und 780 Tierarten besiedeln das Val di Piora – mit dem Leben auf der Alp verbindet.

«Ich hatte immer eine ausgezeichnete Beziehung zu ihnen, nicht zuletzt dank des Privilegs, dass wir uns in einem Umfeld ausserhalb der Universität näher kennenlernten.»

Von besonderem Interesse ist dabei der Lago di Cadagno, ein natürliches sogenanntes meromiktisches Becken, das Forschende aus aller Welt anzieht: Der See hat drei Wasserschichten, die sich nicht vermischen. Sie enthalten wertvolle Informationen über die Artenvielfalt: Die untere Schicht wird durch Quellen am Grund des Sees gespeist und mit Salzen aus dem Dolomitgestein angereichert. Dadurch ist sie schwerer und bleibt sauerstofffrei. Die oberste Wasserschicht enthält Granitmineralien und ist sehr sauerstoffreich – was erklärt, warum sich im Cadagnosee besonders viele Fische tummeln. Ein Charakteristikum für den See sind zudem Schwefelbakterien, einige davon sind rosarot und leben in der mittleren Schicht zwischen den zwei grossen Wasserkörpern.

Zum Alltag auf der Alp gehören aber nicht nur wissenschaftliche Entdeckungen, sondern auch Platten mit Piora-Käse und Rehsalami oder ein gutes Glas Wein. Dieses Leben übt auf Peduzzis Studierende eine grosse Anziehung aus: Der Professor hat mindestens dreissig Doktorierende betreut: «Ich hatte immer eine ausgezeichnete Beziehung zu ihnen, nicht zuletzt dank des Privilegs, dass wir uns in einem Umfeld ausserhalb der Universität näher kennenlernten», erinnert er sich.

Respekt vor Natur ist zentral

Der Biologe hat auch an der Schaffung mehrerer Lehrpfade in der Region mitgewirkt, unter anderem beim Lago Ritom, bei einem mikrobiologischen Naturlehrpfad um den Lago di Cadagno und zusammen mit seinem Sohn Sandro an einem Wasserkraft-Lehrpfad, der in den Hydrologischen Atlas der Schweiz aufgenommen wurde. Wissenschaft einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, liegt Peduzzi am Herzen. Dem Geist der Aufklärung verschrieben, ist er davon überzeugt, dass eine Erziehung zum Respekt vor der Natur für die Zukunft unseres Planeten zentral ist: «In Piora zum Beispiel müssen wir weiter forschen, um ein Gleichgewicht zwischen Natur, Landwirtschaft und Wasserkraft zu finden.»

«Ich bin sehr besorgt: In den höheren Lagen ist der Klimawandel noch besser sichtbar.»

Schon in den 1970er-Jahren diskutierte man in der Wissenschaft über ökologische Fragen, erinnert sich Peduzzi, und er erwähnt dabei das Werk «Avant que nature meure» des französischen Ornithologen Jean Dorst. Dieser stellte bereits 1965 fest, dass es in Europa nur noch in den Bergen unbelastete Gebiete gebe. Jetzt hat sich die Situation weiter zugespitzt, und die Auswirkungen sind für alle zu sehen. «Ich bin sehr besorgt: Gerade in den höheren Lagen ist der Klimawandel noch besser sichtbar », schliesst der Mikrobiologe.