Die Schweiz böte sich an, die 26 Gesundheitssysteme miteinander zu vergleichen, sagt Andrea Martani. Er hat das Datenschutzrecht verschiedener Staaten verglichen. | Foto Kostas Maros

Andrea Martani, spenden Sie Ihre eigenen Gesundheitsdaten der Forschung?

Dazu gebe ich gern ein Beispiel, das zeigt, dass Gesundheitsdaten ein alltägliches Thema sind: Als ich zum ersten Mal in die Zahnmedizinische Klinik des Universitätsspitals Basel ging und die Anmeldung ausfüllte, lautete die letzte Frage: «Dürfen wir Ihre Daten zu Forschungszwecken verwenden?» Natürlich kreuzte ich Ja an.

Haben Sie keine Angst vor dem Missbrauch Ihrer Daten?

Ich gebe keinen Blankoscheck, aber den Universitätsspitälern in der Schweiz vertraue ich. Man muss ein Gleichgewicht finden. Absolute Sicherheit gibt es nicht. Auch die vollständige Anonymisierung ist eine Illusion.

Im Gespräch mit der Politik
Andrea Martani ist Postdoc am Institut für Biound Medizinethik der Universität Basel. Für seine Masterarbeit studierte er europäisches Recht und Rechtsvergleich in Trento (I), Reading (GB) und Leuven (B). In Basel hat er über Datenschutzrecht und Biomedizin in der Schweiz promoviert. Martani arbeitete auch im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms «Gesundheitsversorgung» (NFP 74) an einem Projekt zur Harmonisierung der Daten von Gesundheitseinrichtungen und Versicherern. Ausserdem ist er Ethikbeauftragter des europäischen Forschungsprogramms «Machine learning frontiers in precision medicine».

Weshalb haben Sie Datenschutz als Forschungsthema gewählt?

Er gehört zu den jüngsten Rechtsgebieten. Der weltweit erste Gesetzesartikel über Datenschutz trat erst 1970 im deutschen Bundesland Hessen in Kraft. Andere Rechtsgebiete wie das Strafrecht existieren seit Jahrtausenden. Es ist spannend, die Zukunft einer neuen Disziplin mitzugestalten.

Vor 50 Jahren entstand die Disziplin: Wegen des Siegeszugs der Computer?

Ja, mit der Digitalisierung wurde dem Datenschutz erstmals Aufmerksamkeit geschenkt. Das Recht folgt dem technologischen Fortschritt stets, hinkt aber tendenziell hinterher. Der Gesetzgeber kommt da zwischen Hammer und Amboss: Entweder man formuliert allgemein und nimmt rechtliche Unsicherheiten in Kauf oder man formuliert genauer, dann sind die Paragrafen bald wieder veraltet.

«Andere Rechtsgebiete wie das Strafrecht existieren seit Jahrtausenden.»

Auf einer Skala von eins bis zehn: Wie gut gelingt es Ländern mit hohem Einkommen, Datenschutz und Gesundheitsforschung zu vereinbaren?

Wir müssen zuerst die Dateninfrastruktur anschauen: Ist sie standardisiert? Wo werden die Daten gespeichert? Wie werden sie übermittelt? Dann spielt der kulturelle Aspekt eine Rolle: Wie sind die Daten zugänglich? Wie ist die Haltung der Patientin? Welche Ethik haben die Forschenden? Das Gleichgewicht ist in vielen Ländern insgesamt positiv. Dänemark etwa würde eine Neun auf beiden Skalen erhalten. Die Situation ist jedoch im Wandel, das Gleichgewicht kann sich rasch ändern.

Welche Note geben Sie der Schweiz?

Leider eine tiefere. Wahrscheinlich eine Fünf oder eine Sechs. Das grösste Problem liegt beim kulturellen Aspekt: Die Stakeholder sehen Gesundheitsdaten häufig als Kapital und teilen sie nicht gern. Sie sehen den Datenaustausch vor allem als Risiko – für Datenlecks – und kaum als Vorteil. Vor wenigen Jahren hätte die Schweiz aber noch viel schlechter abgeschnitten. Das Swiss Personalized Health Network ist eine enorme Verbesserung: Forschende haben nun leichteren Zugang zu gewissen routinemässig erhobenen Daten – über ein einheitliches Abfragesystem und mit standardisierten Formularen für Vereinbarungen zum Datenaustausch.

«Vor wenigen Jahren hätte die Schweiz aber noch viel schlechter abgeschnitten.»

Weshalb ist die Note trotzdem tief?

Es ist politisch heikel, schlechte Beispiele zu nennen. Was aber für Stirnrunzeln gesorgt hat, ist die aktuelle Umsetzung des elektronischen Patientendossiers: Es handelt sich nur um ein sekundäres System zur Erfassung von Gesundheitsdaten, zusätzlich zu den Akten in den Spitälern. Das elektronische Patientendossier muss bisher noch vor Ort eröffnet werden. Die Daten werden im PDF-Format gespeichert, was Analyse und Navigation erschwert, auch für die behandelnden Ärztinnen und die Patienten selbst. Ausserdem ist unklar, an welche Verfahren sich Forschende halten müssen, wenn sie die Daten verwenden wollen.

Sollte die Schweiz das elektronische Patientendossier ganz aufgeben?

Dann gingen viele Investitionen verloren. Die Umsetzung dauert schon mehrere Jahre und wird noch viele weitere in Anspruch nehmen. Weshalb sollten wir das Ziel von wirklich interoperablen elektronischen Gesundheitsakten aufgeben? Im internationalen Vergleich sind noch grosse Verbesserungen möglich.

«Das elektronische Patientendossier muss bisher noch vor Ort eröffnet werden.»

Das Projekt zeigt: Es ist schwierig, das Recht auf Privatsphäre und den Bedarf an medizinischen Daten zur Rettung von Leben auszutarieren. Wie ginge es doch?

Das Problem wurde bis zum Ende des letzten Jahrhunderts gelöst: Entweder baten die Forschenden jede Person um ihr Einverständnis oder, falls dies nicht möglich war, wurden die Daten anonymisiert. Ab den 2000er-Jahren wurde dieses Paradigma jedoch durch die zunehmend unkontrollierbaren Datenströme infrage gestellt. Sowohl individuelle Zustimmung als auch Anonymisierung sind heute nicht mehr möglich.

Hat Dänemark dieses Problem gelöst?

Die Debatte läuft noch. Zu Beginn der Corona- Pandemie stellte sich zum Beispiel die Frage, ob Schmerzmittel wie Ibuprofen Komplikationen verursachen. Die Forschenden in Dänemark waren in der Lage, relativ schnell eine retrospektive Analyse durchzuführen und den politischen Entscheidungstragenden und Gesundheitsbehörden eine Antwort zu geben. Dazu wurden persönliche Identifikatoren verwendet, womit Daten von denselben Patientinnen in verschiedenen Datenbanken verknüpft werden konnten. Einige Fachleute aus der Rechtswissenschaft bezweifeln aber, dass dabei wirklich die Privatsphäre geschützt wird.

Können solche retrospektiven Analysen in der Schweiz durchgeführt werden?

Technisch wäre das schwierig, da sich die Infrastruktur für Gesundheitsdaten ganz anders entwickelt hat. Rechtlich gesehen erlaubt das Humanforschungsgesetz zwar die rückwirkende Analyse ohne Zustimmung, wenn die Genehmigung einer Ethikkommission vorliegt – allerdings nur in Ausnahmefällen. Untersuchungen zeigen, dass diese Genehmigung regelmässig erfolgt. Die häufige Anwendung dieser Ausnahmeklausel zeigt die Fehlkommunikation zwischen den Datenschutzverantwortlichen und den Forschenden an der Front auf.

«Die neue Datenschutz-Grundverordnung der EU hat vor allem die Angst vor einem inkorrekten Umgang mit Daten verstärkt.»

Sie finden die Praxis also zu grosszügig. In anderen Fällen scheint sie aber übertrieben streng: Die neue Datenschutz- Grundverordnung der EU etwa hinderte eine deutsche Stammzellenbank an der Zusammenarbeit mit einer angesehenen US-Forschungsklinik.

Vergessen wir nicht: Die Datenschutz-Grundverordnung ersetzt eine europäische Richtlinie mit ähnlicher Struktur. Zwar gibt es darin viele neue Bestimmungen, diese sind aber nicht der Kern der Konflikte. Das Hauptproblem ist, dass die neue Verordnung die Angst vor einem inkorrekten Umgang mit Daten verstärkt hat. Ausserdem kann die Verordnung als Vorwand benutzt werden, um die Interessen der Forschenden zu schützen. In der biomedizinischen Forschung gibt es eine hitzige Debatte über die gemeinsame Nutzung von Daten: Wer soll sie bekommen? Wer soll die Kosten für die Verwaltung der Bestände tragen? Anwältinnen machen die Sache oft nicht besser. Es wurde sogar behauptet, dass Anwaltskanzleien Unsicherheiten zu den Bestimmungen über die Datenverarbeitung zementieren.

«Die Schweiz muss festlegen, wofür sie Gesundheitsdaten verwenden will.»

Wie können die Regelungen vereinfacht werden?

Die Schweiz muss festlegen, wofür sie Gesundheitsdaten verwenden will. Dänemark fokussierte auf die öffentliche Gesundheit. Es sollte ein gemeinsames Ziel festgelegt werden, an dem sich alle Akteure aus Gesundheitswesen, Recht und Forschung orientieren. Die Schweiz würde zum Beispiel einen guten Rahmen für Forschung zum Gesundheitssystem bieten. Man könnte analysieren, ob es in Zürich einen Überkonsum von medizinischen Angeboten und in Appenzell einen Unterkonsum gibt, und sicherstellen, dass die kantonalen Systeme voneinander lernen.

Was können Forschungseinrichtungen auf kurze Sicht tun?

Eine proaktivere Kommunikation zwischen Recht und Forschung wäre sinnvoll: Es sollte diskutiert werden, wie Daten von Universitätsspitälern und Krankenversicherungen genutzt werden können. Es sollte eine skalierbare Lösung angestrebt werden, damit nicht jedes Mal sechs Monate für eine Vereinbarung erforderlich sind, wenn verschiedene Datensätze kombiniert werden. Wann kann man von einem Konsens ausgehen, wann nicht? Reicht ein Hinweisschild im Spital, oder müssen alle Patienten einzeln schriftlich informiert werden?