Im Spital, in der Praxis, im Labor, bei jeder Untersuchung, bei jeder Behandlung: Es entstehen mehr und immer mehr Gesundheitsdaten. Für die medizinische Forschung bergen sie riesiges Potenzial. Dieses möchte auch Marloes Eeftens nutzen. Die Umweltepidemiologin am Swiss Tropical and Public Health Institute in Basel möchte Patientendaten zu Krankheiten und Todesfällen mit Pollenmessdaten verknüpfen. So will sie aufklären, welche gesundheitlichen Folgen die zunehmende Pollenbelastung hat. Denn es gibt Hinweise darauf, dass allergische Reaktionen zum Teil auch mit schweren Krankheiten, etwa Asthmaanfällen und Herzinfarkten, in Verbindung stehen. Doch wie zahlreiche andere Forschende erfuhr Marloes Eeftens zunächst vor allem eines: Wer in der Schweiz mit Daten aus dem Gesundheitswesen forscht, braucht Geduld, Nerven und Beharrlichkeit.

Sind die Daten beim Kanton, Bund – oder beim Betreiber eines Smartphone-Apps? | Illustration: Elena Knecht

1 – Nichts mit zentraler Infostelle

Gesundheitsdaten liegen weit verstreut an verschiedensten Stellen: bei Kantonen, Gemeinden, nationalen Behörden, Spitälern, Arztpraxen, Krankenversicherern und vielen mehr. Eine Übersicht sucht man vergebens. So hat Marloes Eeftens etwa Daten zu allergischen Reaktionen nur dank des Hinweises eines Kollegen gefunden: «Es gibt zwei recht oft genutzte Smartphone-Apps, in denen Tausende Menschen mit Heuschnupfen seit Jahren ihre Symptome festhalten. All diese Daten lagen bei den Betreibern der Apps, ohne dass etwas damit gemacht wurde.»

Doch selbst Daten von Gesundheitsbehörden und -institutionen werden in voneinander abgetrennten, oftmals wenig bekannten Datenbanken gespeichert. Diese Fragmentierung in sogenannte Datensilos stelle besonders für jüngere Forschende ein grosses Hindernis dar, sagt Bernice Elger vom Institut für Bio- und Medizinethik der Universität Basel. Das zeigte sich in einer laufenden Studie, in der sie und ihr Team mögliche Lösungen für die Vernetzung von Gesundheitsdaten in der Schweiz analysieren.

«Es gibt Forschende, vor allem gut etablierte mit langer Erfahrung, die wissen sehr genau, wo sie welche Daten finden», sagt Elger. «Doch für viele gleicht die Datenlandschaft in der Schweiz einem Dschungel.» Elgers Teamkollege Lester Geneviève, der zahlreiche Datensätze analysiert hat, weist zudem auf weit verbreitete Qualitätsprobleme hin: «Oft weisen Datensätze grosse Lücken auf, enthalten viele Doubletten und Kodierungsfehler, oder es fehlen jegliche Angaben dazu, wie genau die Daten erhoben wurden. » Beide sind sich einig, dass diese mangelnde Übersicht und Transparenz viel gute Forschung verhindert.

Darf ich auch mal analysieren? Hmm, was willst du mit meinen wertvollen Daten? | Illustration: Elena Knecht

2 – Datenbesitz skeptisch behütet

Brauchbare Daten zu finden ist das eine, Zugang zu ihnen zu erhalten das andere. Die Besitzerinnen der Daten müssen bereit sein, sie für ein konkretes Forschungsprojekt zur Verfügung zu stellen. Auch dies hänge wiederum häufig davon ab, wie etabliert und vernetzt jemand sei, beobachtet Marloes Eeftens: «Viele Forschende müssen teilweise grossen Aufwand betreiben, einfach um skeptische Datenbesitzende davon zu überzeugen, dass es sich lohnt, ihre Daten für ein bestimmtes Projekt aufzubereiten und bereitzustellen.» Dennoch: Die meisten Datenbesitzenden seien dazu grundsätzlich gewillt.

Doch so einfach sei das gar nicht, wendet Eva Blozik ein, Leiterin Versorgungsforschung bei der Swica. Die Krankenversicherer – die oft um Daten angefragt werden – seien nämlich rechtlich verpflichtet, für jeden einzelnen Fall abzuklären, ob die Herausgabe mit den Datenschutzgesetzen konform ist. Und von diesen gibt es ein nationales sowie für jeden Kanton ein eigenes, die je nachdem berücksichtigt werden müssen.

Bei vielen Anfragen stehe allerdings ein anderes Problem im Vordergrund: «Unsere Daten sind auf die Erfüllung der Aufgaben einer Krankenversicherung wie Prämien und Abrechnungen ausgerichtet», sagt Blozik, «doch Forschende interessieren sich meist nicht für einzelne Rechnungspositionen, sondern wollen zum Beispiel wissen, wie häufig eine bestimmte Krankheit vorkommt.» Dann müssten Datenbesitzende zuerst gemeinsam mit den Forschenden deren Projekt und die eigenen Daten genau anschauen. «Nicht selten zeigt sich dabei, dass das geplante Studiendesign gar nicht umsetzbar ist», so Blozik. «Und wenn wir die gewünschten Informationen so aufbereiten können, ist dies mitunter sehr aufwendig.»

Aus ihrer Sicht könnte die Situation durch eine neue zentrale – eventuell vom SNF betriebene – Beratungsstelle verbessert werden, mit der Forschende ihre Projekte besprechen würden, bevor sie auf die Datenbesitzenden zugehen. So könnten sie bereits vorher zahlreiche Fragen zum geeigneten Design, zur Beschaffenheit verschiedener Datensätze und zum Datenschutz klären.

54 Formulare ausfüllen, um eine Studie zur rechtfertigen: Das gibt's. Kein Witz! | Illustration: Elena Knecht

3 – Dokumentieren ad absurdum

Selbst wenn die Daten zur Verfügung gestellt wurden, benötigen Forschende zuerst die Bewilligung einer Ethikkommission. Zumindest ist dies der Fall, wenn sie mit Gesundheitsdaten einzelner Patientinnen arbeiten. Denn diese sind besonders schützenswert. Deshalb beurteilen kantonale Ethikkommissionen auf Grundlage des Humanforschungsgesetzes für jedes Projekt, ob dieses sinnvoll ist und ob die Daten verantwortungsvoll, sicher und ethisch korrekt verwendet werden. «Das ist wichtig», sagt Marloes Eeftens, «und ich habe nur positive Erfahrungen gemacht, was die Effizienz der Ethikkommissionen bei der Bewilligung angeht.»

Doch damit ist es nicht getan. Forschende haben gegenüber der Ethikkommission bis zum Abschluss des Projekts eine umfangreiche Dokumentationspflicht. «Für unsere letzte Studie stellten wir 54 verschiedene Dokumente zusammen, teilweise in mehreren Versionen und Sprachen», sagt Eeftens. «Das sind mehrere hundert Seiten zur Dokumentation für die Ethikkommission.» Dieser Aufwand sei für kleinere Projekte zu gross, es stelle sich jeweils schnell die Frage, ob er sich lohne oder überhaupt im Budget drin liege. Das verhindere vor allem neue Ideen von jüngeren Forschenden, während es für grosse, millionenschwere Projekte kaum ein Hindernis darstelle.

Lungenfunktion und Lungenfunktion ist manchmal wie Äpfel und Birnen. | Illustration: Elena Knecht

4 – Am Schluss passt nichts zusammen

Neue Erkenntnisse aus Gesundheitsdaten gewinnen Forschende meist, indem sie Daten von verschiedenen Quellen zusammenführen. Dabei stellt sich eine weitere Frage: Sind die Daten überhaupt verknüpfbar und vergleichbar? Marloes Eeftens berichtet von einer Studie, für die sie Angaben zur Lungenfunktion von Patienten aus verschiedenen Datensätzen zusammenziehen wollte: «Es zeigte sich, dass es sehr unterschiedliche Auffassungen davon gibt, wie man die Lungenfunktion misst», sagt sie. Das aber limitiere die Möglichkeiten einer gemeinsamen Auswertung stark. Torsten Schwede, Bioinformatiker und bis letztes Jahr Vorsitzender des National Advisory Board am Swiss Personalized Health Network, bestätigt: «In der Schweiz werden Gesundheitsdaten nach unterschiedlichsten Methoden erhoben, in unterschiedlichsten Formaten gespeichert, unterschiedlich kodiert und mit unterschiedlichsten technischen Lösungen für Datenverschlüsselung und -transfer bearbeitet.» Das führt zu einem Zustand, den Fachleute als mangelnde Interoperabilität bezeichnen.

Es gäbe Lösungen, wie Schwede sagt: «Für die meisten Gesundheitsdaten haben sich internationale Standards für semantische Kodierungen etabliert. Wollen wir mehr aus unseren Gesundheitsdaten herauslesen, müssen wir diese Standards konsequent einsetzen, wie es andere Länder auch tun», sagt er. «Idealerweise würde eine einheitliche elektronische Gesundheitsakte eingeführt, in der klare Standards gleichzeitig für Behandlungs- wie für Forschungszwecke vorgegeben sind.» Das ist in der Schweiz bekanntermassen nicht so einfach. Forschende wie Eeftens, die mit Daten aus dem Gesundheitswesen arbeiten, benötigen deshalb weiterhin viel Geduld, Nerven und Beharrlichkeit.