Robert Thew, Quantenphysiker | Bild: Fred Merz/Lundi13

VOM HANDFESTEN ZUM THEORETISCHEN
«Die Leute denken oft, dass ich Professor bin»
Robert Thew (52), zwei Kinder (21 und 28)
Früher: Automechaniker
Jetzt: Quantenphysiker an der Universität Genf

«Ich bin in einer australischen Arbeiterfamilie aufgewachsen. Mit 15 Jahren verliess ich die Schule und machte eine Lehre als Automechaniker. Ich spielte Australian Football in der ersten Juniorenliga und gründete mehrere Rockbands. Mit 24 führte ich zwar schon ein Team in einer Garage, aber es gab kaum Aufstiegsmöglichkeiten, und der Lohn war schlecht. Also machte ich die Erwachsenenmatura und studierte an der Universität Queensland. Meine Partnerin begann ebenfalls ein Studium. Wir hatten ein Kind, finanziell war es eng, aber glücklicherweise erhielten wir Stipendien.

Es war die richtige Entscheidung: Ich habe so meine Liebe zur Physik entdeckt, obwohl ich in der Schule in Mathematik nie besonders stark gewesen war. Ich traf renommierte australische Quantenphysiker, was mich auf den Geschmack brachte. Weil ich die europäische Kultur mag, klopfte ich an die Tür von Nicolas Gisin an der Universität Genf, der für seine Arbeiten in der Quantenkryptografie bekannt war. Ich war damals schon 33 Jahre alt, aber er stellte mich trotzdem als Doktorand ein. Er fand es überzeugend, dass ich jahrelang Australian Football gespielt hatte: Für ihn hiess das, dass ich ein engagierter Teamplayer bin, der Verantwortung übernehmen kann.

Wir verkauften also alles, und es ging mit dem Einwegbillett in die Schweiz. Wir kamen am Samstag an. Am Montag hatte unser zehnjähriger Sohn schon den ersten Schultag, ohne ein Wort Französisch zu sprechen. Nach meinem Doktorat konnte ich in Genf bleiben. Ich war froh, als 38-jähriger Postdoc nicht mit meiner ganzen Familie in ein anderes Land zu müssen.

Ich arbeite nun seit 20 Jahren in meinem Team, betreibe meine eigene Forschung zur Quantenverschränkung und koordiniere parallel dazu unsere Teilnahme am europäischen Programm Quantum Flagship. Das ist eine Arbeit, die viele Wissenschaftler scheuen. Aber ich mag sie. Die Leute denken oft, dass ich Professor bin. Es stört mich nicht, dass ich es nicht bin. Als Kind spielte ich gleichzeitig in drei Footballteams; mit den 11-, den 13- und den 15-Jährigen. In einem Team war ich der Grösste, im anderen der Kleinste. Daraus lernte ich zwei Dinge. Erstens: Ich kann mich anpassen. Zweitens: In einem Team kann jeder etwas beitragen – unabhängig von Alter und Begabungen.» ds

Isabel Hotz, Neurowissenschaftlerin | Bild: Fred Merz/Lundi13

DIE ÄSTHETIK IN UNS
«Berufliche Träume soll man erfüllen»
Isabel Hotz (43), zwei Kinder (16 und 18)
Früher: Grafikdesignerin
Jetzt: Neurowissenschaftlerin an der Universität Zürich

«Geforscht habe ich schon als kleines Mädchen. Damals markierte ich Schnecken an ihren Schneckenhäusern mit verschiedenen Farben, um herauszufinden, wann und ob wir uns wieder über den Weg laufen würden. Das Experiment war nicht sonderlich erfolgreich, aber es hat meine Leidenschaft für Naturbeobachtungen geweckt. Auch wenn ich dann erst über Umwege zu meiner jetzigen Aufgabe als Neurowissenschaftlerin gekommen bin, hatte jede Station auf meinem Weg bereits irgendwie mit meiner Arbeit heute zu tun.

Den Einstieg in die Medizin fand ich mit meiner Ausbildung zur medizinischen Praxisassistentin nach der Schule, aber der Alltag in der Praxis mit wenig eigener Verantwortung hat mir nicht zugesagt. Also machte ich die Matur und schloss die Ausbildung zur Grafikerin ab. Acht Jahre arbeitete ich als selbstständige und angestellte Grafikdesignerin. Und die visuelle Komponente fliesst noch heute in meine Forschungen ein. In meinem Dissertationsprojekt hier am Institut für Neuropsychologie analysiere ich MRI-Aufnahmen von Gehirnen. Die Bilder stammen von älteren, gesunden Menschen. Sie zeigen unterschiedliche Belastungen von sogenannten White Matter Hyperintensities und Silent Lacunes. Beide gehören zur Klasse der zerebralen Mikroangiopathien und deuten auf Veränderungen der kleinen Gefässe im Gehirn hin. Mich interessiert unter anderem, mit welchen Strategien diese Menschen die Schwachstellen, die man auf den Bildern sieht, kompensieren.

Ich glaube fest daran, dass man versuchen sollte, sich berufliche Träume im Leben zu erfüllen. Dass ich in meiner wissenschaftlichen Karriere schon etwas älter bin, hat auch Vorteile, gerade als Frau. Als ich zu studieren begann, waren meine beiden Kinder schon 7 und 9 Jahre alt, und sie sind jetzt in einem Alter, wo es nichts ausmacht, wenn mein Arbeitstag lang ist. Ich liebe meine Arbeit. Ferne Länder gibt es heute keine mehr zu entdecken, aber mit dem Gehirn haben wir in uns noch einen unbekannten Kosmos, zu dem wir reisen können.» ab

Gabriela Antener, Professorin für soziale Arbeit | Bild: Fred Merz/Lundi13

KOMMUNIKATION VEREINFACHEN
«Ich war über vierzig, als ich die Seiten gewechselt habe»
Gabriela Antener (54), ein Kind (31)
Früher: Sonderpädagogin und Unternehmerin
Jetzt: Professorin an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW

«In meinem Forschungsbereich kommt mir meine frühere Berufserfahrung sehr zugute. Ich habe dadurch einen engen Bezug zur Praxis, was gerade hier an der Fachhochschule, wo es um die angewandte Forschung geht, sehr wertvoll ist. Ich habe ursprünglich Sonderpädagogik studiert, mich nach dem Studium damals für die Praxis entschieden. Zusammen mit Kolleginnen gründete ich ein Beratungs- und Weiterbildungsunternehmen für unterstützte Kommunikation. Das war damals ein neues Fachgebiet. Es geht um Menschen, die in ihrer Kommunikation beeinträchtigt sind, weil sie eine Krankheit oder eine Behinderung haben. Sie können sich mit den üblichen Mitteln nicht ausreichend verständigen und brauchen Alternativen, wie zum Beispiel Gebärden, elektronische Sprachausgaben oder Buchstabentafeln.

Die Forschung hat mich aber immer schon fasziniert, und mit der Etablierung der Fachhochschulen bot sich mir eine einmalige Chance. Ich bin eine Quereinsteigerin, aber quer bedeutet bei mir vor allem spät, weil ich bereits über vierzig war, als ich die Seiten gewechselt habe. Mein früheres Praxisfeld prägt noch heute meine wissenschaftliche Tätigkeit. Mich interessiert vor allem, wie Menschen mit Beeinträchtigungen einfacher am Alltag teilnehmen können. In einem unserer Projekte erforschen wir beispielsweise, wie Behörden mit Menschen mit Behinderungen kommunizieren. Daraus wollen wir Empfehlungen erarbeiten, wie die Betroffenen sich besser einbringen können und sich Kommunikationsbarrieren abbauen lassen.

Ein Vorteil meines früheren Berufslebens ist auch, dass ich ein grosses Netzwerk habe mit Leuten, die in der Praxis tätig sind. So höre ich, was läuft und welche Fragen aktuell sind. Den Praxisbezug halte ich auch über Projekte in der Mongolei, wo ich seit einigen Jahren eine NGO unterstütze.» ab

Augustin Fragnière, Umweltphilosoph | Bild: Fred Merz/Lundi13

AUS DER BERGWELT INS REICH DER IDEEN
«Schon mit 13 habe ich die ersten 4000er bestiegen»
Augustin Fragnière (42), zwei Kinder (8 und 10)
Früher: Bergführer
Jetzt: Umweltphilosoph an der Universität Lausanne

«Ich habe schon einen Hang zum Intellektuellen; Wissenschaft, Literatur, Geschichte begeistern mich seit jeher. Aber als Jugendlicher hat mich der Bergvirus erwischt. Ich bin zwischen Lausanne, wo ich die Schulen absolvierte, und dem Wallis aufgewachsen. Dort nahm mein Vater, ein Bergführer, mich auf Touren mit. Die ersten 4000er habe ich mit 13 bestiegen. Als junger Mann habe ich gleichzeitig studiert und den Fachausweis als Bergführer gemacht. So wurde ich von Beruf zuerst Bergführer. Die wunderschönen Landschaften, vor allem aber die Begegnungen mit vielen unterschiedlichen Menschen, gefielen mir. Diese Erfahrungen waren sehr lehrreich: eine Gruppe führen, Verantwortung übernehmen, heikle Entscheidungen treffen, ruhig bleiben, vorausschauen.

Nach fünf Jahren hat es mich wieder ins Reich der Ideen gezogen. Ein Freund aus dem Gymnasium erzählte mir von seiner Forschung in Ozeanografie, was mich fasziniert hat. Also begann ich ein zweites Masterstudium in Umweltwissenschaften. Die Begegnung mit dem Philosophen Dominique Bourg hat mich geprägt. In meinem Doktorat befasste ich mich mit unserem Freiheitsbegriff und dessen Einfluss auf die Beziehung zur Natur. Danach zog ich mit meiner Familie für ein zweijähriges Postdoc nach Seattle. Seit der Rückkehr jongliere ich zwischen Forschung und Projektkoordination, zuerst für den Thinktank Foraus, heute für das neue interdisziplinäre Zentrum für Nachhaltigkeit in Lausanne. Doch meine Priorität bleibt es, eine Professur und Gelder für meine Forschung zu erhalten.

Wegen der Jahre als Bergführer hat sich meine akademische Karriere verzögert, ein zweites Postdoc im Ausland kam für meine Familie nicht in Frage. Aber ich habe dadurch eine ganzheitlichere Sicht auf die Wissenschaft, ihre Herausforderungen und Zielsetzungen. Für mich darf sie nicht isoliert sein, sondern muss eine aktive Rolle in der Gesellschaft spielen.» ds

Christian Burr, Pflegewissenschaftler | Bild: Fred Merz/Lundi13

MIT HAND UND KOPF FÜR DIE GENESUNG
«Ein solcher Beruf wird zum Lebensthema»
Christian Burr (46), zwei Kinder (13 und 17)
Früher: Pflegepraktiker
Jetzt: Pflegewissenschaftler am Zentrum für klinische Pflegewissenschaft in Bern

«Als Eliteamateur im Mountainbike war ich ein Späteinsteiger ohne Erfolg. In meinem aktuellen Beruf bin ich ein erfolgreicher Quereinsteiger. Den Master habe ich mit 41 an der Fachhochschule in Bern als Bester abgeschlossen. Ich hatte damals schon jahrelange Erfahrung als Pflegepraktiker. Im Gegensatz zu den meisten meiner Mitstudierenden war ich Familienvater: Meine Tochter war acht, mein Sohn war zwölf Jahre alt. Danach kam der Wunsch zu doktorieren. In der Schweiz ist das kaum möglich. Anders in Deutschland: Die Universität Vallendar bei Koblenz hat eine pflegewissenschaftliche Fakultät. Trotz Fachhochschul- Master und meinem Alter wurde ich dort im Doktorandenprogramm aufgenommen.

Ursprünglich wollte ich Physiotherapeut werden, doch hat es mit der Aufnahme nicht geklappt. Also landete ich in der Pflege. Mein Schlüsselerlebnis während der Ausbildung hatte ich im Praktikum in der Psychiatrie. Ich dachte mir: Wow, das ist es! Mit Menschen von Angesicht zu Angesicht zu arbeiten! Nach meiner Ausbildung wurde ich im Zivildienst im Heroinabgabeprojekt eingesetzt. Das Ziel dort war es, Menschen zunächst ein stabiles Leben mit Qualität zu ermöglichen und erst danach ihre Sucht anzugehen. Zum Thema Recovery und psychische Gesundheit (Recovery steht für ein Konzept, welches das Genesungspotenzial der Betroffenen von psychischen Erkrankungen hervorhebt und unterstützt, Anm. d. Red.) habe ich seither bei mehreren Publikationen mitgewirkt.

Im Rahmen meines Doktorates, für das ich an der Universitätsklinik forsche, aber von der Universität Vallendar betreut werde, plane ich eine Pilotstudie zum Thema Stimmenhören. Es geht dabei um den alltäglichen Umgang mit Stimmenhören: Betroffene berichten über ihre Erfahrungen und ihre Suche nach Lebensqualität. Zu meiner persönlichen Lebensqualität? Bei einem solchen Engagement wird der Beruf schnell zum Lebensthema. Umso wichtiger ist die Lebensqualität in der Familie.» fs