Altersheim im Lockdown: Dass die Menschen dort keine Besuche mehr bekommen durften und teilweise allein gestorben sind, ist gemäss Medizinethikerin Tanja Krones eine krasse Verletzung der Menschenwürde. | Foto: Francesco Cocco/contrasto

Tanja Krones stand während der vergangenen zwei Pandemiejahre oft im Fokus der Medien. Die Geschäftsführerin des Klinischen Ethikkomitees des Universitätsspitals Zürich gab Einblick in die Überlastung des Pflegepersonals, machte auf die unterschiedliche Betroffenheit durch die Pandemie in Abhängigkeit des sozialen Hintergrunds aufmerksam und kritisierte die sogenannte stille Triage, bei der Betagte mit einer Coronaerkrankung von Altersheimen nicht mehr in die Intensivpflege überwiesen werden. Fragen zu einem menschenwürdigen Leben und Sterben gehören zu ihrem Berufsalltag.

Die Medizinethikerin ist in philosophischer Hinsicht eine Pragmatikerin. Für sie muss sich die Bedeutung des Begriffs der Menschenwürde in konkreten Fällen in der Pflege immer wieder neu bewähren. Sie gibt ein Beispiel: Während der ersten Coronawelle durften Angehörige ihre Eltern und Grosseltern in vielen Alterspflegeheimen während Monaten nicht besuchen. Manche wurden regelrecht in ihre Zimmer gesperrt und isoliert – zu ihrem eigenen Schutz, wie es hiess. «Dabei sind Menschen allein gestorben, was eine krasse Verletzung der Menschenwürde bedeutet», sagt Krones. «Fundamentale Bedürfnisse von vulnerablen Personen wurden missachtet.»

«Die Menschenwürde sensibilisiert unsere moralischen Muskeln und schärft den Blick für No-Gos.»Tanja Krones

Allein zu sterben sei schwer aufwiegbar mit einer maximalen Risikominimierung. Für Krones kommt es einer nicht zu rechtfertigenden paternalistischen Haltung gleich, wenn Leben gegen den Menschen selbst geschützt wird, der diesen Schutz gar nicht will. Damit würde ihm ein Minimum an menschlichen Bedürfnissen in existenziellen Situationen verweigert.

Krones’ Kritik an der Praxis in den Heimen während der Pandemie stützt sich unter anderem auf den Begriff der Menschenwürde. «Er bleibt für die Praxis eine sehr mächtige Kategorie», sagt die Medizinethikerin. «Sie sensibilisiert unsere moralischen Muskeln und schärft den Blick für No-Gos.»

Jahrtausende des Nachdenkens

Seit über 2000 Jahren beschäftigen sich Philosophen und Philosophinnen mit dem Würdebegriff. Cicero, der wohl berühmteste Denker im alten Rom, war 44 vor Christus der Erste, der in seinem Werk «De Officiis » eine eindeutige Definition von Menschenwürde vorlegte, inspiriert durch Vordenker der griechischen Stoa. Für Cicero kommt die «dignitas hominis», die allgemeine menschliche Würde, allen Menschen aufgrund ihrer Vernunft zu. Das unterscheide den Menschen von der Tierwelt. Er löste den Würdebegriff weitgehend von der Stellung einer Person im öffentlichen Leben und entwarf damit erstmals einen egalitären Begriff von Würde, die allen gleich zukommt.

Mehr als eineinhalb Jahrtausende später definierte Immanuel Kant in seiner «Grundlegung zur Metaphysik der Sitten» von 1785 die Würde als absoluten Wert. Dieser zeichnet den Menschen als vernunftbegabtes sittliches Wesen aus und hat im Gegensatz zu relativen Werten, wie Handelsgütern, keinen Preis, ist nicht handelbar. Die Bedingung für die Menschenwürde sei die Autonomie, die wiederum der menschlichen Vernunft bedarf.

«Wenn ich Ihnen absichtlich auf den Fuss trete, so tut das zwar vielleicht weh und ihr Wohl ist verletzt, aber noch lange nicht ihre Menschenwürde.»Christoph Halbig

Und heute? Was verstehen wir heute unter Menschenwürde? Wer hat Anspruch darauf, und welche Rechte ergeben sich daraus? Christoph Halbig ist Professor für allgemeine Ethik an der Universität Zürich und hat sich intensiv mit dem Begriff und dessen philosophischer Herleitung beschäftigt. Für ihn umfasst er nicht primär Ansprüche auf Wohlergehen und Status, sondern äussert sich vor allem in Form von Abwehrrechten. Darunter fallen: nicht gedemütigt, nicht gefoltert und nicht körperlich verletzt zu werden.

«Die Folter verstösst in jedem Fall gegen die Menschenwürde, sie ist nicht abwägbar», erklärt Halbig, «anders als individuelle Interessen, wie zum Beispiel direkten Kontakt zu Kunden im Laden zu halten, was in der Pandemie aus guten Gründen zeitweise dem Gesundheitsschutz geopfert wurde.» Aber längst nicht jede Schädigung komme einer Verletzung der Menschenwürde gleich. Der Philosoph erklärt dies an einem bildhaften Beispiel: «Wenn ich Ihnen absichtlich auf den Fuss trete, so tut das zwar vielleicht weh und ihr Wohl ist verletzt, aber noch lange nicht ihre Menschenwürde.»

In der Pandemie ging es um Freheiten

Besonders in den Debatten um die Coronapandemie erhalte der Begriff der Menschenwürde vielfach eine solche Dominanz, dass er einer begründeten Abwägung von relevanten Kategorien wie Interessen, Wohl sowie Freiheitsrechten im Weg steht, ist Halbig überzeugt. «Wenn Impfgegner für sich beanspruchen, dass ihre Menschenwürde nicht zulasse, dass sie zu einer Impfung verpflichtet werden, dann ist das eine Instrumentalisierung des Begriffes für persönliche Zwecke.»

Die Frage, ab wann der Staat das Recht auf Unversehrtheit des eigenen Körpers verletze, sei zwar durchaus wichtig. Im Fall der Impfskepsis handle es sich jedoch vielmehr um ein «Abwägungsproblem von verschiedenen Dimensionen der Freiheit». Dabei müssten «Freiheiten während einer globalen Pandemie zum Schutz der Bevölkerung durch den Staat neu abgewogen werden».

««Sobald die Politik mit einem von äusseren Faktoren abhängigen Würdebegriff argumentiert, wird es sehr gefährlich.»Heinz Rüegger

Der Theologe, Ethiker und Gerontologe Heinz Rüegger beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Würde im Alter. In seinen Publikationen bezieht er sich gerne auf Ciceros egalitäres und normatives Würdeverständnis. «Die Würde zeichnet den Menschen als Mensch aus – egal, ob er kriminell, schwach oder dement ist. Deshalb fordert sie von uns oft auch ein kontraintuitives Verhalten.» Das heisst: Auch ein Terrorist verliert durch Mord die Würde nicht. Er darf nicht gefoltert werden, auch wenn dies intuitiv vielleicht richtig scheint.

Seit den 90er-Jahren beobachtet Rüegger Vorstösse, diese Bedingungslosigkeit aufzuweichen und durch einen empirischen Würdebegriff zu ersetzen. Das zeigte sich zum Beispiel, als Nationalrat Victor Ruffy die Menschenwürde anrief, um die Straffreiheit von aktiver Sterbehilfe zu begründen. Wenn die Würde eines Patienten durch eine schlimme Krankheit in schwerster Weise beeinträchtigt sei, dann sei aktive Sterbehilfe zulässig, so die Argumentation.

Ein dogmatischer Diskursblocker

«Sobald die Politik mit einem empirischen, von äusseren Faktoren abhängigen Würdebegriff argumentiert, wird es sehr gefährlich», sagt der Gerontologe. «Denn meist sind vulnerable Gruppen dann die ersten, die aus dem Schutzkonzept der Menschenwürde fallen.» Dieser Schutz betreffe vier Bereiche: Schutz von Leib und Leben, Schutz der Autonomie, Schutz der Grundrechte und ein Anspruch, mit Respekt behandelt zu werden.

In der aktuellen Diskussion zur Überalterung der Gesellschaft und zur rapiden Zunahme von Demenz erkennt Rüegger erneut einen Hang zu einem empirischen Würdekonzept. Nur weil das Verhalten eines Menschen – etwa wegen Inkontinenz und Verlust der körperlichen und mentalen Selbstbestimmung – von aussen betrachtet als würdelos erscheine, sei dies noch lange kein Grund, jemandem seine Würde abzusprechen.

«Mensch sein heisst immer auch, anderen zur Last zu fallen.»Heinz Rüegger

«Mensch sein heisst immer auch, anderen zur Last zu fallen», sagt der Gerontologe. Ein absolutistischer Würdebegriff ist wiederum für Philosophieprofessor Halbig in jedem Fall unbefriedigend. «Er ist dogmatisch, allenfalls theologisch begründbar und am Ende schlicht eine Behauptung. » Vertreterinnen und Vertreter der philosophischen Strömung des Nihilismus kritisieren schon lange die Bedeutungsunschärfe des Begriffs und möchten ihn am liebsten abschaffen. So weit will Halbig nicht gehen, aber auch er fordert eine Begriffsschärfung. «Wir müssen uns vermehrt fragen, worin der normative Kern der Menschenwürde besteht, und daraus Kriterien für die Frage ableiten, auf welche Entitäten er sinnvoll anwendbar ist.»

Die Pragmatikerin Krones beobachtet in jüngster Zeit eine Tendenz zur Instrumentalisierung der Menschenwürde als «Diskursblocker». Trotzdem bleibe der Begriff aktuell, und nihilistischen Bestrebungen zur Tilgung kann auch sie wenig abgewinnen: «Was wäre die Alternative? » Der Begriff sei historisch und kulturell stark verankert; wir hätten ihn über Generationen verinnerlicht. Deshalb könne er bis heute in No-go-Situationen angerufen, darüber Kräfte mobilisiert und Ungerechtigkeiten bekämpft werden.