Informatikwissenschaftler Edy Portmann sieht sich eher als Skeptiker denn als Experte. | Bild: Fabian Hugo / 13Photo

Treffpunkt: Bahnhofsbuffet Olten. Edy Portmann – funkelnde Augen und ein Lächeln auf den Lippen – versetzt uns, noch bevor der bestellte Grüntee vor ihm steht, über zweitausend Jahre in die Vergangenheit: «Ich möchte mit meiner Forschung die Sichtweise von Aristoteles erweitern. Er ist der Vater der Logik, der Grossvater der booleschen Algebra, der die Logik formalisierte, und damit Urgrossvater der heutigen Informatik.»

Als Professor für Informatik an der Universität Freiburg sieht Portmann die Vorteile der Digitalisierung, betont aber im gleichen Atemzug ihre Grenzen: «Die binäre Logik – null oder eins, wahr oder falsch – entspricht überhaupt nicht der Art und Weise, wie wir Menschen funktionieren. Wir denken nicht schwarz-weiss, sondern in unendlich vielen Grautönen – oder sogar in Farben.»

Berufslehre bis Professur
Edy Portmann ist seit 2017 Professor für Informatik an der Universität Freiburg. Er ist Co-Leiter des Human Centered Interaction Science and Technology Institute, das sich der Zusammenarbeit zwischen Menschen und Maschine widmet. Seit 2021 ist er Präsident von FM-Square, einer Stiftung für Fuzzylogik im privaten und öffentlichen Sektor. Seine akademische Laufbahn führte ihn an die Universität Bern, die University of California Berkeley und die National University of Singapore. Nach seiner Lehre als Elektrotechniker und einem Studium an der Hochschule Luzern in Wirtschaftsinformatik arbeitete er mehrere Jahre in der Privatwirtschaft in den Bereichen Telekommunikation und Wirtschaftsprüfung, bevor er einen Master an der Universität Basel und ein Doktorat in Freiburg absolvierte.

Der 47-jährige Forscher sucht nach Wegen, wie die menschliche Subjektivität und Mehrdeutigkeit in die digitale Welt integriert werden kann. So wurde er zum Verkünder der unscharfen Logik, der Fuzzylogik: Sie schlägt eine Brücke zwischen den exakten Zahlen einer Maschine und der qualitativen Art, wie wir unsere Gefühle und Gedanken ausdrücken. Die Fuzzylogik lehnt die binäre Logik ab und verwendet stattdessen ein Kontinuum von Werten, sodass auch teilweise wahre Aussagen verarbeitet werden können.

Dieser Ansatz schliesst auf natürliche Weise die unvermeidlichen Unsicherheiten der realen Welt ein, geht aber über die Zuweisung einer einfachen Wahrscheinlichkeit von wahr oder nicht hinaus. «Für einen Thermostat ist die Temperatur eines Raumes eine Zahl, zum Beispiel 19,3 Grad», erläutert der Forscher.

Subjektivität für die Algorithmen

«Für einen Menschen ist sie jedoch in erster Linie ein subjektives Gefühl: Sie ist etwa angenehm oder zu kalt. Mithilfe der Fuzzylogik kann man einer Zahl einen Zugehörigkeitsgrad zu von Menschen festgelegten Kategorien zuweisen.» Einem Temperaturwert könnten beispielsweise Kategorien zugeordnet werden: zu 60 Prozent angenehm, zu 20 Prozent etwas kühl, zu 5 Prozent etwas warm und so weiter. Diese Methode ermöglicht es, die subjektiven Eindrücke der Menschen in einen Algorithmus zu integrieren.

Portmann wendet die Fuzzylogik auf ganz konkrete Probleme an: Vorhersage von Lungenkrebs, Empfehlungen in sozialen Netzwerken, Kundenservice oder auch Bevölkerungsbefragungen zur Stadtplanung. Er untersuchte auch die Optimierung von Lieferwegen oder die Nutzung des Internets der Dinge in Zusammenarbeit mit der Post, die bis vor kurzem seinen Lehrstuhl an der Universität Freiburg finanzierte.

«Es ist zentral, den Menschen besser zu integrieren.»

Der Grüntee ist da, und wir kehren ins antike Griechenland zurück. «Für Aristoteles musste man einen tugendhaften Charakter entwickeln, bevor man auf Eudaimonie – Glückseligkeit – hoffen konnte», fährt der Wissenschaftler fort. «Er betonte die Bedeutung eines guten Zusammenlebens in der Polis, dem Gemeinwesen, heute vergleichbar mit einem Stadtstaat.» Das sei auch einer seiner Forschungsschwerpunkte: «Wie kann man die Digitalisierung nutzen, um effiziente und angenehme Städte, sogenannte Smart Cities, zu schaffen? Auch hier ist es zentral, den Menschen besser zu integrieren.»

Portmann fordert diese Tugend auch für die Informatik: Big Data bietet zwar mehr Genauigkeit, bedroht mit der Sammelwut aber zugleich die Privatsphäre. «Mit weniger liesse sich aber mehr erreichen», ist er überzeugt. «Der Pöstler muss nicht wissen, dass Sie montags oft um 8.37 Uhr von zu Hause weggehen, sondern nur, dass Sie an diesem oder jenem Morgen nicht zu Hause sind. Weniger Daten zu sammeln ist auch wichtig, um den durch Big Data verursachten steigenden Stromverbrauch zu bremsen.»

«Moralische Konzepte sollten in Worten ausgedrückt werden, nicht in Zahlen.»

Mit seinem Team entwickelt er ein Ethiklabel für digitale Anwendungen, ein Projekt, das sich auf Fuzzylogik stützt: «Moralische Konzepte sollten in Worten ausgedrückt werden, nicht in Zahlen. Sie sind von Mensch zu Mensch und von Kultur zu Kultur verschieden.» Sie suchen nach Wegen, diese Feinheiten in die Technologie einzubeziehen, damit «Mensch und Computer gemeinsam den Konsens herausarbeiten, den wir brauchen». Konkret möchten sie zum Beispiel quantifizieren, wie weit ein technologischer Ansatz mit verschiedenen moralischen Werten vereinbar ist.

Literarischer Punk

Der Grüntee ist getrunken, und Edy Portmann zeichnet seinen ungewöhnlichen Werdegang nach. Er beginnt mit dem Dorf in der Nähe von Sursee, in dem er aufgewachsen ist. Mit 17 Jahren brach er das Gymnasium ab. «Ich war überzeugt, mehr aus Büchern der Schulbibliothek als aus dem Unterricht zu lernen. Ich war eine Art literarischer Punk, der die intellektuelle Konfrontation mit den Erwachsenen suchte», erinnert sich der Professor. «Als ich sah, wie mein Lateinlehrer es nicht schaffte, ein Busticket vom Automaten zu lösen, hielt ich die Zeit für gekommen, dieses Kapitel des Lebens abzuschliessen und mich auf etwas Konkretes zu konzentrieren!»

Er absolvierte eine Lehre als Elektrotechniker, arbeitete ein Jahr lang in einer Fabrik und studierte Wirtschaftsinformatik, da ihn die Idee reizte, eines Tages ein Unternehmen zu gründen. Es folgten drei Jahre in der Privatwirtschaft und ein Masterstudium in Wirtschaftswissenschaften, getrieben vom Wunsch, die Schnittstellen zur Informatik besser zu verstehen. Schliesslich promovierte er an der Universität Freiburg, wo er mit den führenden Vertretern der Fuzzylogik in Kontakt kam.

«Was mich voranbrachte, war immer der Zweifel: an dem, was ich lese, genauso wie an dem, was ich denke und zu wissen glaube.»

«Es ist eine Stärke der Schweiz, dass eine Lehre zu einer akademischen Karriere führen kann. Es braucht viel Energie und Willenskraft und die Bereitschaft, für das Studium zu sparen, statt möglichst bald einen regelmässigen Lohn zu erhalten», so Portmann. «Die Erfahrungen, die ich ausserhalb der akademischen Welt sammeln konnte, kommen mir aber heute noch zugute: Sie helfen mir, Theorie und Praxis zu verbinden und mit Leuten aus der Praxis zu sprechen.»

Portmann hätte an die EPFL gehen und vom Ruf und den Mitteln der Hochschule profitieren können, entschied sich aber für die kleinere Universität Freiburg: «Es lassen sich hier schnell Kontakte ausserhalb meines Fachgebiets knüpfen; zu Forschenden aus Wirtschaftswissenschaft, Soziologie oder Psychologie etwa.»

Stets an den Schnittstellen

Eine Universität integriere ganzheitliche soziotechnische Ansätze natürlicher als eine technische Hochschule. «Die will durch Technologie geschaffene Probleme häufig mit noch mehr Technologie lösen.» Ihm gefalle die Zweisprachigkeit von Freiburg: «Ich habe mich schon immer für Schnittstellen interessiert, sei es zwischen Disziplinen oder Kulturen. Mit Menschen zu arbeiten, die eine andere Sprache sprechen und daher anders denken, hilft mir, mein Verständnis für das Gegenüber zu erweitern.»

Die Rechnung ist beglichen, Zeit, sich zu verabschieden. Der Wissenschaftler kehrt zu seiner Philosophie zurück: «Was mich voranbrachte, war immer der Zweifel: an dem, was ich lese, genauso wie an dem, was ich denke und zu wissen glaube. Ich sehe mich eher als Skeptiker denn als Experte.»