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Sie arbeiteten in den Laboren Aleppos, in den Forschungszentren Kabuls; sie waren als Mathematiker tätig, als Biologinnen oder Philosophen. Sie wurden verfolgt, verloren ihre Stelle und wurden in die Flucht gezwungen. Was geschieht mit den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die ihre Universität, ihre Stadt, ihr Land wegen Krieg und Verfolgung verlassen und nach Europa fliehen mussten?

Universitäten in verschiedenen europäischen Ländern sind zunehmend darum bemüht, geflüchteten Akademikern eine Chance zu bieten. In dieser Hinsicht nimmt Deutschland eine Vorreiterrolle ein. Mit verschiedenen Programmen wird dort versucht, den Zugang zu Forschungseinrichtungen für Akademikerinnen und Akademiker im Exil zu ebnen. Beispielsweise hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft 2015 ein Massnahmenpaket zur finanziellen Förderung geflüchteter Wissenschaftler lanciert. Auch die Humboldt-Stiftung setzt sich mit der Philipp-Schwartz-Initiative für die finanzielle Unterstützung von Wissenschaftlern in Gefahr ein.

'Scholars at Risk' wegen einer Unterschrift
AYSE DAYI (45), SOZIOLOGIN
«In Istanbul ist jeder Tag ein kleines Abenteuer», sagt Ayse Dayi. Sie vermisst ihre Heimatstadt – und doch konnte sie dort nicht mehr bleiben. Dayi hatte eine Assistenzprofessur am Departement für Psychologie der Mayıs-Universität in Istanbul, wo sie in den Themengebieten Gender Studies und Gesundheit von Frauen arbeitete.

Im Januar 2016 unterzeichnete sie eine Petition der türkischen Gruppierung Academics for Peace gegen die militärischen Operationen und die Menschenrechtsverletzungen des türkischen Militärs. Viele Forschende, die die Petition unterzeichnet hatten, wurden verhört und verhaftet. Ayse Dayi verlor ihren Job und kam auf eine schwarze Liste. Dies machte es ihr unmöglich, in der Türkei wieder eine Stelle zu finden.

Über einen Kontakt kam sie im September 2016 an die Universität Lausanne. Diese konnte ihr im Rahmen des «Scholars at Risk»-Programms einen zweijährigen Arbeitsvertrag vermitteln. Dayi ist sehr dankbar, dass sie in der Schweiz sein kann. In Lausanne untersucht sie in einem internationalen Forschungsprojekt die Frage, welchen Einfluss die neoliberale Struktur des Gesundheitsbereichs auf die reproduktiven Rechte der Frauen hat. Ayse Dayi weiss nicht, ob sie nach Istanbul zurückkehren will. In der Türkei hat die Universität aufgehört, ein Ort des kritischen Denkens zu sein, sagt sie: «Die Unterdrückung und Gewalt in meinem Heimatland ist so gross, dass allein die Frage ‹How are you?› absurd geworden ist.»

Wissen geht verloren

Andere Initiativen zielen auf den Austausch und die Integration von geflüchteten Wissenschaftlern in Deutschland. Ein Beispiel ist die Plattform Chance for Science in Leipzig, die Flüchtlingen die Möglichkeit bietet, mit Wissenschaftlern an deutschen Universitäten in Kontakt zu treten. Denn der Austausch sei von grosser Bedeutung, sagt Carmen Bachmann, Initiatorin der Plattform und Wirtschaftsprofessorin an der Universität Leipzig: «Eine lange Phase der Untätigkeit ist für Wissenschaftler im Exil nicht nur eine zwischenmenschliche Katastrophe. Diese Situation bedeutet mit zunehmender Zeitdauer auch einen Verlust, da Wissen, das nicht angewendet wird, verlorengeht.» Einer ähnlichen Überlegung folgt die Initiative Academic Experience Worldwide, mit der sich Studierende der Universität Frankfurt am Main für die Integration von Flüchtlingen in ein akademisches Umfeld einsetzen. Beispielsweise können dort geflüchtete Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Rahmen der Vortragsreihe Opening Academia ihre Forschungsthemen der Frankfurter Öffentlichkeit präsentieren.

Wenn das Paradies zur Hölle wird
GUILAIN MATHE (34), POLITIKWISSENSCHAFTLER
Guilain Mathes akademische Karriere ist anders als andere: Er verbrachte grosse Teile davon auf der Flucht. Sein Einsatz für Menschenrechte und seine Recherchen zu zivilen Massakern während der Bürgerkriege, die die Demokratische Republik Kongo seit 1996 erschüttern, machten ihn in den Augen der kongolesischen Regierung zur Persona non grata. 2008 hat er seine Heimat verlassen. «Wegen meiner Recherchen habe ich ständig Todesdrohungen erhalten», sagt Mathe.

Nach längeren Aufenthalten in Senegal und der Elfenbeinküste erhielt er 2011 an der Universität Lausanne durch die Vermittlung des Netzwerks Scholars at Risk eine Stelle, die vorerst mit einem Stipendium der Schweizer Universität, später mit Unterstützung der deutschen Gerda-Henkel-Stiftung finanziert wurde. 2014 hat Guilain Mathe versucht, in seine Heimat zurückzukehren. «Das war ein Albtraum.» In Kivu wurde er vom Staatssicherheitsdienst verhaftet. Wegen seiner Recherchen über die Rebellionen des Nationalkongresses zur Verteidigung des Volkes (CNDP) und dessen Nachfolgegruppierung M23 wurde er eingeschüchtert und bedroht. Mathe gelang die Flucht über die ugandische Grenze. Er reiste zurück in die Schweiz, wo er im Mai 2014 ein Asylgesuch stellte, dem 2015 stattgegeben wurde. Unterdessen doktoriert Mathe an der Universität Lausanne und möchte seine Dissertation über die Rolle nicht staatlicher Akteure in Peacebuildingprozessen 2017 abschliessen.

Obwohl sich Mathe in der Schweiz sehr wohlfühlt, vermisst er seine Heimat. Seine Familie fehlt ihm. «Der Kongo könnte das Paradies auf Erden sein.» Leider sei das Land wegen korrupter Führer und der Ausbeutung durch multinationale Konzerne die Hölle im Paradies geworden. «C’est dommage», sagt Mathe.

Im Vergleich zu Deutschland ist die akademische Flüchtlingshilfe in der Schweiz weniger ausgeprägt. Martina Weiss, Generalsekretärin der Rektorenkonferenz der schweizerischen Hochschulen Swissuniversities, vermutet, dass dies vor allem auf die tieferen Flüchtlingszahlen in der Schweiz zurückzuführen ist. Auch Walter Leimgruber, Professor für Kulturwissenschaft an der Universität Basel und Präsident der Eidgenössischen Migrationskommission (EKM), stellt fest, dass das Thema Flüchtlinge in der Schweiz nicht die gleiche Aufmerksamkeit erreicht hat wie in Deutschland.

Dennoch gibt es auch hier Massnahmen, die verfolgten Wissenschaftlern helfen sollen, sich an einer Universität zu etablieren. So sind elf Schweizer Universitäten Mitglied des Netzwerks Scholars at Risk. Dieses wurde 1999 in Chicago mit dem Ziel gegründet, gefährdete Wissenschaftler zu schützen und sich für die Bewahrung der akademischen Freiheit und die Einhaltung der Menschenrechte einzusetzen. Weltweit sind über 400 Universitäten Mitglied des Netzwerks und engagieren sich auf unterschiedliche Art für dessen Ziele. Beispielsweise kann ein Mitglied des Netzwerks bedrohte Wissenschaftler anstellen oder durch die Organisation von Anlässen und Konferenzen dazu beitragen, Informationen zum Thema zu verbreiten. Die Universitäten Lausanne und Luzern haben bedrohte Wissenschaftler angestellt. Andere Universitäten wie beispielsweise Bern und Zürich haben sich bisher auf Informations- und Sensibilisierungsarbeiten beschränkt.

Den Bomben entkommen, aber ohne seine Familie
MOHAMED ALI MOHAMED (41), GEOGRAF
Die Bilder aus Aleppo sind verheerend. Kaum vorstellbar, dass es dort vor nicht allzu langer Zeit ein funktionierendes Hochschulwesen gab. Mohamed Ali Mohamed kann davon berichten. Er arbeitete bis September 2015 als Dozent für Kartografie am geografischen Institut der Universität Aleppo. Zusammen mit seiner Frau und seinen drei Kindern lebte der 41-jährige in der syrischen Grossstadt, bis die Wohnung der Familie bei einem Bombenangriff komplett zerstört wurde. Er wollte seine Arbeit an der Universität aber nicht unterbrechen – schliesslich musste er den Unterhalt für seine Familie verdienen. Doch wegen des Bürgerkriegs verlor er seine Stelle. Zudem fürchtete er eine Zwangsrekrutierung zum Militärdienst.

Ende 2015 schaffte er es, illegal in die Türkei einzureisen. Da er von 2004 bis 2010 in Berlin gelebt und an der Humboldt-Universität promoviert hatte, bekam Mohamed dort ab Januar 2016 einen einjährigen Arbeitsvertrag als Gastwissenschaftler und erhielt von der deutschen Botschaft in Ankara ein Visum. Vier Wochen nach seiner Abfahrt erreichte er Berlin. Seit Juli 2016 ist er als Stipendiat der Philipp-Schwartz- Initiative an der Humboldt-Universität Berlin, wo er seine Forschungsarbeit über geografische Informationssysteme fortsetzt. Seine Familie ist in einem Flüchtlingslager in Syrien – die Grenzen zur Türkei sind geschlossen.

Es fällt ihm momentan sehr schwer, sich auf seine wissenschaftliche Arbeit zu konzentrieren: «Ich bin in ständiger Angst um meine Familie.» Mohamed hofft, dass der Krieg in Syrien bald vorbei ist. Dann will er nach Hause zurückkehren und sich aktiv am Wiederaufbau seines Landes beteiligen.

Bescheidene Berufsperspektive

Trotz dieser Initiativen sind die Möglichkeiten limitiert, als geflüchtete Wissenschaftlerin oder als geflüchteter Wissenschaftler in der Schweiz eine Stelle an einer Universität zu erhalten. Woran liegt das? «Akademische Stellen sind häufig rar und stark umkämpft, was die Sache sicher nicht erleichtert», sagt Christin Achermann, Professorin für Migration, Recht und Gesellschaft an der Universität Neuenburg und Projektleiterin beim Nationalen Forschungsschwerpunkt «On the move». Der Sprecher des Staatssekretariats für Migration, Martin Reichlin, führt zudem praktische Aspekte ins Feld. Beispielsweise sei es manchmal aufgrund der Flucht nicht möglich, im Ausland erworbene Diplome vorzuweisen.

EKM-Präsident Walter Leimgruber sieht neben sprachlichen Hürden ein weiteres Problem in den grossen fachlichen und qualitativen Unterschieden zwischen den Ausbildungen der einzelnen Herkunftsländer: «Für eine erfolgreiche Integration brauchen Akademiker die Mittel, sich weiterzubilden. Sie müssen adäquate Sprachkurse machen und Zusatzqualifikationen erwerben können.»

Hierfür seien nicht die Universitäten, sondern die Kantone zuständig. «Und für die sind die paar Akademiker irrelevant», kritisiert Leimgruber. Er schlägt deshalb eine spezifische Anpassung der Integrationsleistungen für Akademiker vor.

Mehr Möglichkeiten gibt es für die akademische Integration von Studentinnen und Studenten, die als Flüchtlinge in die Schweiz gekommen sind. Der Verband der Schweizer Studierendenschaften VSS engagiert sich mit dem Projekt «Perspektiven – Studium» für die Integration geflüchteter Studierender ins Schweizer Hochschulwesen. Die Verantwortliche des Projekts, Martina von Arx, freut sich sehr darüber, wie stark sich die Studierenden dafür engagieren: «Die grosse Nachfrage und die positiven Rückmeldungen aus den laufenden Projekten zeigen, dass wir auf dem richtigen Weg sind.» An verschiedenen Universitäten – beispielsweise in Basel und Genf – wurden mittlerweile Projekte etabliert, durch die Flüchtlinge als Gasthörer an Vorlesungen teilnehmen können. Ein Nachteil ist jedoch, dass diese Programme bisher keinen Zugang zu einem anerkannten Abschluss ermöglichen und nur einer begrenzten Anzahl von Studierenden offenstehen.

Für die erfolgreiche Integration geflüchteter Forscher gibt es in der Schweiz also noch einige Hürden zu bewältigen. Wie wichtig eine spezifische Fluchthilfe im akademischen Bereich ist, verdeutlicht die historische Erfahrung mit Wissenschaftlern, die vor dem Naziregime flohen. Nicht nur sicherte die Flucht ihr Überleben, mit ihnen kam neues Wissen und Innovation in die Aufnahmeländer. Und manchmal bringen akademische Migranten auch Ruhm und Ehre mit: Von den 21 Schweizer Nobelpreisträgern in den Naturwissenschaften wurden zehn im Ausland geboren.

Julia Richter ist Journalistin in Bern.

Viele Programme, vor allem in Deutschland
  • Philipp-Schwartz-Initiative der Deutschen Humboldt-Stiftung hilft Wissenschaftlern in Gefahr.
  • Chance for Science vermittelt Kontakt zu Forschenden an deutschen Universitäten.
  • Council for Assisting Refugee Academics (Cara) unterstützt geflüchtete Wissenschaftler. Cara wurde 1933 als Reaktion auf die zunehmenden Diskriminierungen in Nazideutschland gegründet.
  • Scholars at Risk setzt sich für Forschungsfreiheit und Menschenrechte ein.
  • Science4refugees, eine Initiative der Europäischen Kommission, erleichtert die Integration in europäische Universitäten.
  • Academic Experience Worldwide setzt sich für die akademische Integration von Flüchtlingen ein.
  • Scholars Rescue Fund unterstützt Wissenschaftler in Gefahr finanziell.
  • Die Initiative der Deutschen Forschungsgemeinschaft ermöglicht Projekten, zusätzliche Mittel für die Anstellung eines Wissenschaftlers im Exil zu beantragen.