Illustration: Stefan Vecsey

Im vergangenen Semester organisierte ich eine hybride internationale Gastvorlesungsreihe in englischer Literatur für eine ukrainische Kollegin an der Nationalen Universität Yuri Kondratyuk Poltava Polytechnic nahe der Front im Osten. Da viele Forschende das Land verlassen haben, leiden die Zurückgebliebenen neben dem Krieg auch unter einer hohen Arbeitsbelastung. Ein Grossteil der internationalen Unterstützung für die ukrainische Wissenschaft konzentriert sich auf die Forschung und die Unterstützung bei der Ausreise. Ich wollte einen Weg finden, diejenigen zu unterstützen, die geblieben sind, insbesondere bei einem zentralen gemeinsamen Aspekt unserer Arbeit: der Lehre.

Womit ich nicht gerechnet hatte, war das Interesse von Personen ausserhalb der Literaturwissenschaft: Viele Studierende und Mitarbeiten- de aus Bereichen wie Ingenieurwesen, Psychologie, Wirtschaft, Robotik, Übersetzung und Dolmetschen nahmen sich jede Woche Zeit für die geisteswissenschaftliche Vorlesung. Obwohl fast jede Vorlesung von einem Alarm wegen Luftangriffen unterbrochen wurde, bei dem alle Teilnehmenden der ukrainischen Universität Schutz suchen mussten, verband uns das Unterrichten über Fachgebiete und Länder hinweg.

«Durch die Lehre stehen wir Wissenschaftlerinnen in ständigem direktem Austausch mit den Menschen um uns herum.»

Diese Erfahrung hat mir einmal mehr vor Augen geführt, wie wichtig die Lehre als Teil der akademischen Arbeit ist – oder sein könnte. Der Diskurs und die Anreizstrukturen im Hochschulsystem sind zu sehr auf die Exzellenz der Forschung ausgerichtet. Die Lehre hingegen kann die Wissenschaft in der Gesellschaft verankern: Durch sie stehen wir Wissenschaftlerinnen in ständigem direktem Austausch mit den Menschen um uns herum. Unsere Studierenden werden später viele verschiedene Tätigkeiten ausführen. Sie werden fachliches Wissen, analytische Fähigkeiten und die neuesten Forschungserkenntnisse mitnehmen. Zusätzlich könnten sie ein umfassendes Verständnis für den Wert der Hochschulen für die Gesellschaft einbringen – falls wir ihn vermitteln. Wenn wir aber die Lehre systematisch geringschätzen, sabotieren wir uns selbst. Wenn wir nicht mit gutem Beispiel vorangehen, wie können wir dann erwarten, dass der Rest der Gesellschaft die Fackel weiterträgt?