Transparenz ist das übliche Gegenmittel bei Interessenkonflikten. Kontroverse Debatten gibt es trotzdem immer wieder. | Bild: Valérie Chételat

Darmspiegelung, Biopsie, Operation, Bestrahlung, Chemotherapie: Wer entscheidet, wann welche Massnahme nötig ist? Wann soll auf eine Therapie verzichtet werden? Über solche Fragen bestimmen üblicherweise Fachgesellschaften von Ärztinnen und Ärzten. Sie erstellen Behandlungsrichtlinien und definieren Krankheiten. Da sie täglich in der Klinik mit konkreten Fällen konfrontiert sind, ist es naheliegend, dass sie den aktuellen Stand des Wissens festhalten.

Genau damit ist John Ioannidis jedoch nicht einverstanden: «Fachgesellschaften sollten auf die Autorenschaft von Richtlinien und Krankheitsdefinitionen verzichten.» Diesen Titel wählte der Arzt und Biostatistiker für einen Fachkommentar im Oktober 2018. Darin beschreibt der respektierte Kritiker seines Fachs die Situation: Zum Teil schreiben über hundert Autoren an den Richtlinien, die von Tausenden Mitgliedern der Fachgesellschaft zitiert werden, die wiederum von der Industrie gesponsert ist. Dies befördere vor allem Karrieren und zementiere «Hierarchien und Machtstrukturen im Clan». Mit anderen Worten: Die Experten müssen zwischen dem Wohl der Patienten und ihrem eigenen entscheiden – sie haben einen Interessenkonflikt.

Dennoch erachtet Ioannidis Behandlungsrichtlinien als wichtige Säule der auf wissenschaftlichen Fakten gestützten Medizin. Nur sollte man sich dabei nicht allein auf Fachspezialisten verlassen. Er schlägt vor, externe Methodenforscherinnen, Patientenvertreter, Hausärztinnen und Pflegefachleute einzubeziehen. Sie seien besser geeignet, zu beurteilen, ob die Nebenwirkungen einer Behandlung für die Betroffenen vertretbar sind oder ob eine Therapie unter den gegebenen Umständen wirtschaftlich ist.

Industrie: gut oder böse?

David Klemperer, Internist und Professor für Sozialmedizin an der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg, teilt die Einschätzung von Ioannidis. Er möchte Interessenkonflikte vermeiden und ist folgerichtig Mitglied der Initiative «Mein Essen zahl‘ ich selbst», die sich gegen die Finanzierung von Gefälligkeiten durch die Industrie wehrt, wie beispielsweise das Bezahlen von Weiterbildungen oder Reisespesen.

Gewisse Interessenkonflikte sind unvermeidbar, ist sich Klemperer bewusst. Wenn es aber um die Finanzierung von Forschung geht, sei die Sache einfach: «Geld muss ich keines annehmen.» Klemperer sieht den Einfluss der Industrie bei der Beurteilung von Wirksamkeiten kritisch, besonders, wenn Firmen selbst in einer Studie mitwirken. Diese würden sich meistens auf einfach messbare Effekte einer Therapie fokussieren, die nicht unbedingt mit einer Genesung gleichzusetzen seien. «Sie untersuchen zum Beispiel, ob ein Tumor durch eine Therapie aufhört zu wachsen, während bei den Patienten die hohe Lebensqualität und -erwartung im Vordergrund steht.» Untersuchungen zeigen auch immer wieder: Von der Industrie gesponserte Studien beurteilen die Wirksamkeiten positiver als unabhängige.

Für Lisa Rosenbaum gibt es ohne Zusammenarbeit mit der Industrie aber keinen medizinischen Fortschritt. In einer Artikelserie in The New England Journal of Medicine schrieb die Journalistin und Kardiologin gegen eine Verteufelung an. Das führe oft zu persönlichen Angriffen gegen Forschende mit Verbindungen zur Industrie. Auf deren Argumente werde nicht mehr eingegangen: «Die Erzähler von solchen Geschichten brauchen keine Belege negativer Konsequenzen, um öffentliche Empörung gegen die Industrie zu schüren. Die reine Verbindung reicht für eine Verurteilung.» Sie zitiert auch Beispiele, wo die Kritiker der Industrie am Ende widerlegt wurden und sich die Wirksamkeit der Therapien langfristig bestätigte.

Die Grenzen der Transparenz

In diesem Spannungsfeld der kommerziellen Interessen müssen sich Institutionen heute bewegen. Die Antwort: Offenlegen der Interessenbindungen. So müssen die Mitglieder der Expertenkomitees der schweizerischen Arzneimittelbehörde Swissmedic ihre Verbindungen deklarieren. Auch die externen Mandate von Professorinnen und Professoren der Universität Zürich können online eingesehen werden.

«Wenn man Interessenkonflikte aufs Finanzielle reduziert, übersieht man mindestens so wichtige andere Faktoren.»Nikola Biller-Andorno

Doch Transparenz allein ist keine Patentlösung, wie der Fall der Cochrane Collaboration zeigt. Das für seine Unabhängigkeit bekannte Netzwerk von Wissenschaftlern produziert Übersichtsstudien zur Wirksamkeit von Therapien. Die Autoren sind zu einer der ausführlichsten Deklarationen finanzieller Interessen verpflichtet, die die Forschungswelt kennt – selbst «anderer Beziehungen oder Aktivitäten, die von Lesern als beeinflussend wahrgenommen werden könnten oder den Eindruck von einer potenziellen Beeinflussung vermitteln».

Trotz dem Bemühen um Unabhängigkeit ist in der Cochrane Collaboration im September 2018 ein Konflikt ausgebrochen. Der Anlass war eine Übersichtsstudie zur Wirksamkeit und zu Nebenwirkungen der Impfung gegen humane Papillomaviren – eine Präventionsmassnahme gegen Gebärmutterhalskrebs. Es wurde kritisiert, die Studie habe «fast die Hälfte der relevanten Studien nicht berücksichtigt» und damit wichtige Daten zu Nebenwirkungen ignoriert. Gemäss einer darauf durchgeführten Untersuchung im Auftrag des Netzwerks fehlten aber nur wenige Studien. Sie zu berücksichtigen, hätte «wenig bis keinen Effekt auf die Hauptschlussfolgerungen» gehabt.

Puristen vs. Pragmatiker

Der Hauptkritiker war Peter Gøtzsche. Der dänische Medizinforscher ist wegen extremer Aussagen zur Pharmaindustrie umstritten. Kurz nach seiner Kritik an der Übersichtsstudie wurde er aus dem Stiftungsrat der Cochrane Collaboration ausgeschlossen. Der Hauptgrund: Er habe wiederholt seine persönliche Sicht als die von Cochrane ausgegeben. Beobachter sprachen aber von einer Auseinandersetzung zwischen Puristen und Pragmatikern im Umgang mit Interessenkonflikten. So kritisierte Gøtzsche, drei der vier Autoren der Übersichtsstudie hätten vor zehn Jahren finanzielle Interessenkonflikte gehabt. Dass Gøtzsches Aktivismus auch zu Befangenheit führen kann, wurde in diesem Streit kaum diskutiert. «Wenn man Interessenkonflikte aufs Finanzielle reduziert, übersieht man mindestens so wichtige andere Faktoren», sagt Nikola Biller Andorno, Ärztin und Bioethikerin an der Universität Zürich. Publikationen, ein Preis oder eine Beförderung seien ebenfalls wichtige Anreize, die ein wissenschaftliches Urteil beeinflussen können. Besonders, wenn wieder einmal eine Erfolgsmeldung fällig wäre.

Was kann man gegen all diese mitbestimmenden Faktoren tun? «Wir alle haben unsere Interessenkonflikte», sagt Bernard Burnand, Arzt und Leiter von Cochrane Schweiz. Das akademische System, in dem der Druck herrsche, möglichst viel zu publizieren und dabei auch noch ein Start-up zu gründen, befördere die Probleme. So folgert er: «Die am wenigsten schlechte Lösung bleibt bis anhin, die Interessenkonflikte so ausführlich wie möglich zu deklarieren.» Bisher seien solche Erklärungen in den Wissenschafts- zeitschriften allerdings relativ bescheiden. «Es wäre gut, wenn wir diese ein wenig systematisieren würden.» Dies könnte auf einer Online-Plattform wie orcid.org geschehen. Welche Richtlinien gelten würden, müsste aber noch geklärt werden.

Florian Fisch ist Wissenschaftsredaktor beim SNF.