Grundlagenforschung ist ein Luxus

Geld für freie Forschung aufzutreiben, ist in vielen Ländern der Welt eine Herausforderung. | Grafik: 2. stock süd

Insgesamt 17 ehrgeizige Ziele für nachhaltige Entwicklung hat sich die Uno bis 2030 gegeben: von «Keine Armut» über «Massnahmen zum Klimaschutz» bis hin zu «Partnerschaften zur Erreichung der Ziele». Die Forschenden sollen dabei eine wichtige Rolle spielen. «Die Hochschulen können ihre Expertise anbieten, um die Politik zu beraten und zur Verantwortung zu ziehen», schreibt der Zusammenschluss von internationalen Wissenschaftsakademien Interacademy Partnership in einer Wegleitung für die Mitglieder.

Nur: Die Expertise für die wissenschaftliche Beratung kommt fast vollständig aus Ländern der nördlichen Hemisphäre. Dabei sollten unbedingt das Wissen und die Erfahrung der Menschen in den ärmeren Ländern in die weltweite Forschung einfliessen. Wer nicht einbezogen wird, wird den Karren nicht mitziehen. Zudem wird auf diese Weise die Sicht auf die Menschheit verzerrt, wie kanadische Psychologen 2010 in einer Übersichtsarbeit zeigten: «Mitglieder von WEIRD-Gesellschaften (western, educated, industrialised, rich, democratic; A.d.R.) gehören zu den am wenigsten repräsentativen der Welt.»


Internationale Forschung in Zahlen

Zehn Länder und sechs Betrachtungen zeigen exemplarisch die unterschiedlichen Bedingungen, in denen sich die Forschenden weltweit befinden.

Jährliche Ausgaben des Landes für F&E, inbegriffen die Investitionen von privaten Unternehmen, in Mrd. USD (kaufkraftbereinigt).

AUSGABEN FÜR FORSCHUNG UND ENTWICKLUNG (F&E)

Ausgaben des Landes für F&E im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung, gemessen als Bruttoinlandprodukt (BIP), in Prozent.

ANTEIL F&E-AUSGABEN AM BRUTTOINLANDPRODUKT

Investitionen von privaten Unternehmen in F&E im Verhältnis zu den gesamten F&E-Ausgaben innerhalb des Landes, in Prozent. Der Anteil ist in Entwicklungsländern typischerweise auch tief.

ANTEIL PRIVATER FIRMEN AN F&E

Staatliche F&E im Verhältnis zu den gesamten F&E-Ausgaben des Landes, in Prozent. Da die Ausgaben für Hochschulen nicht mitgerechnet sind, ist der Anteil in der Schweiz tief.

ANTEIL DER REGIERUNG AN F&E

FORSCHENDE PRO MILLION EINWOHNER

Quelle: Unesco Institute for Statistics, Bundesamt für Statistik. Zahlen für die Jahre 2017, 2016 oder 2015.

In Prozent.

ANTEIL FRAUEN AN FORSCHENDEN


In Ländern des globalen Südens steht nicht nur insgesamt weniger Geld zur Verfügung, sondern auch der Anteil, der für Forschung eingesetzt wird, ist kleiner. Und wenn Geld vorhanden ist, dann fast ausschliesslich für Forschung, die auf Anwendung ausgerichtet ist. «Dass man einen freien Forschungsantrag stellen kann für ein Thema, das man selbst als wichtig und motivierend betrachtet, das gibt es selten», sagt Katharina Michaelowa von der Universität Zürich und Expertin für Entwicklungspolitik. Grundlagenforschung gilt als Luxus.

Es gibt keine internationale Organisation, die eine thematisch freie Forschung unterstützt. Stets ist eine Agenda damit verbunden. Die Universität der Vereinten Nationen spricht laut Michaelowa zwar immer wieder kleine Beiträge, aber auch nur für Arbeiten im eigenen Tätigkeitsbereich. Auch private Organisationen wie die Bill and Melinda Gates Foundation haben ihre eigene Mission: Es geht um Gesundheit, Bildung und Nahrung, nicht um Quantenmechanik, Gehirnforschung oder Kunstgeschichte.

Michaelowa sieht grosses Potenzial bei der internationalen Zusammenarbeit in der Forschung. Das seit einigen Jahren von der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) und dem Schweizerischen Nationalfonds (SNF) finanzierte r4d-Programm ist ein gutes Beispiel. Forschende aus der Schweiz und den ärmeren Ländern arbeiten gemeinsam an den Projekten, wobei auf echte Partnerschaft grossen Wert gelegt wird. Neu gibt es beim SNF zudem die Möglichkeit, Geld für gemeinsame Forschungsprojekte zu beantragen, ohne bei der Wahl des Themas eingeschränkt zu sein.


Vier Länder, vier Kontinente

Wo liegen die Stärken eines Landes, welches sind die drängendsten Probleme für die Forschenden? Klicken Sie auf eine Kachel, um das Länderporträt zu lesen.

BULGARIEN:
Wenige Postdocs kehren zurück
bulgarien

Region: Osteuropa

Bevölkerung: 7 Mio.

BIP pro Kopf: 22000 USD

Forscher: Nina Berova (Chemikerin)

Forschungsförderer: BNSF

Die EU-Mitgliedschaft ist für die Forschung in Bulgarien – dem ärmsten Land der Union – zugleich Fluch und Segen. Einerseits haben die Forschenden Zugang zu den Geldtöpfen des Rahmenprogramms, und die EU investiert auch in bulgarische Forschungsinfrastruktur. Andererseits verschärft die Konkurrenz innerhalb des grossen Forschungsraums die bereits existierenden Probleme des Schwarzmeerlandes. Ivan Atanassov, Direktor des landwirtschaftlichen Agrobioinstituts in Sofia, sieht zum Beispiel ein Nachwuchsproblem: «Wenn ein Postdoc zwischen Universitäten wechselt, dann gibt es hauptsächlich eine Richtung: von Bulgarien ins Ausland.» Das liege an den sozialistischen Traditionen, aber auch am Mangel an Fördergeldern. Zurück komme nur, wer «ein guter Forscher sein und gleichzeitig Bulgare bleiben» möchte. Auch sei die Wirtschaft wegen der Infrastrukturförderung der EU wenig motiviert, in Forschung zu investieren. Atanassov erklärt: «Sie bringt die Industrie dazu, nach bereits verfügbaren Technologien zu greifen, anstatt mit nationalen Förderorganisationen nach angepassten Lösungen zu forschen.» Durch den Umbruch nach dem Ende der kommunistischen Ära seien die Verbindungen zwischen der nationalen Industrie und der Forschung zerstört worden. Die anwendungsorientierte Forschung habe es traditionell schwer.

VIETNAM:
Der SNF als Vorbild
vietnam

Region: Südostasien

Bevölkerung: 96 Mio.

BIP pro Kopf: 7400 USD

Forscher: Ngô Bao Châu (Mathematiker)

Forschungsförderer: NAFOSTED

Eine Delegation der vietnamesischen Verwaltung kam 2005 beim Schweizerischen Nationalfonds (SNF) zu Besuch, um sich über das Schweizer System der Forschungsförderung zu informieren. Seit 2008 ist die vietnamesische Version des SNF operationell: Die National Foundation for Science and Technology Development ( NAFOSTED) finanziert von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern begutachtete Forschung. Das Ziel: Qualität, Nachwuchs, internationalen Austausch und Grundlagenforschung zu fördern. Die Verbindung von NAFOSTED zum Ministerium für Wissenschaft und Technologie ist jedoch immer noch stark, wie unter anderem die Website der Organisation und die Mail-Adressen der Mitarbeitenden verraten. «Früher waren die Forschung und die höhere Bildung in ziemlich unterschiedlichen Systemen zu Hause», sagt Thị Hồng Nhung Nguyễn, stellvertretende Leiterin des Departements Planning and General Affairs bei NAFOSTED. Geforscht wurde nicht an den Universitäten, sondern in separaten Forschungsinstituten. Langsam ändere sich das. Mit über 50 Prozent hat Vietnam einen vergleichsweise hohen Anteil an privatwirtschaftlicher Forschungsförderung. So haben die Konzerne Vingroup und Phenikaa eine beträchtliche Forschungsförderung und unterhalten eigene Universitäten.

CÔTE D'IVOIRE:
Starke Agrarforschung

Region: Westafrika

Bevölkerung: 25 Mio.

BIP pro Kopf: 4200 USD

Forscher: Laurent Aké Assi (Ethnobotaniker)

Forschungsförderer: FONSTI

Als die Schweiz Côte d’Ivoire die Schulden erliess, wurde davon ein Teil in die wissenschaftliche Zusammenarbeit investiert – so, wie es die Unesco empfiehlt. Heute gilt das Land an der Westküste Afrikas als Vorbild für Forschung in der Region. Allerdings möchte die Weltbank mehr Fortschritte sehen, besonders mehr Forschungsgelder aus der Privatwirtschaft. «Die agronomische Forschung in meinem Land ist relativ gut ausgestattet», sagt Yaya Sangaré, Geschäftsführer des Programme d’Appui Stratégique à la Recherche Scientifique (PASRES), das Geld aus dem Entschuldungsfonds der Schweiz in lokale Forschung bringen soll. Auf dieser Basis ist im Juni 2018 in Analogie zum SNF der Forschungsförderer FONSTI entstanden. Für die landwirtschaftliche Forschung gibt es eine eigene Institution namens FIRCA. Schon seit 1951, als Côte d’Ivoire noch zu Frankreich gehörte, arbeitete die Schweiz mit dem westafrikanischen Land in der Forschung zusammen und gründete das Centre Suisse des Recherches Scientifiques en Côte d’Ivoire. 2007 wurde das Zentrum von einer Kommission der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz (SCNAT) zu einer eigenständigen ivorischen Stiftung, in deren Stiftungsrat die SCNAT und Swiss TPH Einsitz nehmen und die vom ivorischen Forschungsministerium präsidiert wird.

ARGENTINIEN:
Inflation lässt Forschungsbeiträge schmelzen

Region: Südamerika

Bevölkerung: 44 Mio.

BIP pro Kopf: 21000 USD

Forscher: Sandra Díaz (Pflanzenökologin)

Forschungsförderer: CONICET

«Unser Land hat eine organisierte Forschungslandschaft, und es gibt viele Fördermöglichkeiten. Junge Forschende werden aus-gebildet, und die internationale Kooperation wird gefördert», sagt Edith Taleisnik, Pflanzenbio-login beim Nationalen Institut für Agrartechnologie (INTA), das dem Wirtschaftsministerium zugeord-net ist. «Unser Hauptproblem sind die wiederkehrenden ökonomi-schen Krisen.» Die hohe Inflation in Argentinien sei für Forschende ein Problem: Förderbeiträge sind nach fünf Jahren Projektlaufzeit deutlich weniger wert, wodurch weniger realisiert werden kann als ursprünglich geplant. Eine langfristige Planung ist laut Taleisnik daher schwierig. Zudem sei es «fast ein Wunder», wenn Förderbeiträge rechtzeitig ausbezahlt würden, und es gebe keine langfristige Wissenschaftsund Technologiepolitik, da diese nach jedem Regierungswechsel überarbeitet werde. Zu internationaler Forschungszusammenarbeit komme es vor allem mit den USA und Europa, weniger mit den Nachbarländern. «Argentinische Forschende würden sich freuen, mit der Schweiz eine ähnliche Zusammenarbeit zu haben, wie Brasilien sie kennt», so Taleisnik.

Zahlen BIP pro Kopf (kaufkraftbereinigt) und Bevölkerung für 2018: Weltbank

Eine interessante Möglichkeit ist die Unterstützung junger Forschender, die einen Teil ihrer akademischen Ausbildung in der Schweiz erhalten haben und nun in ihrer Heimat ihre eigene Forschungsgruppe aufbauen wollen. In einem Pilotprojekt mit Osteuropa sei dies erfolgreich ausprobiert worden, sagt Michaelowa. «Das ist sehr hilfreich, denn Wissenschaftlerinnen können sich so von den in ihrer Heimat oft massiven Lehrverpflichtungen freikaufen und Forschungszeit erhalten.» Dabei wird gleichzeitig der Kontakt zwischen diesen exzellenten Forschenden und ihren Schweizer Forschungspartnern unterstützt. Ein Ansatz, der laut Michaelowa auch für die Forschungszusammenarbeit mit Entwicklungsländern attraktiv wäre.

Mehr Forschung, mehr Entwicklung, lautet die gängige Losung. Wäre es denn nicht konsequent, die Entwicklungshilfe grösstenteils in die Forschung zu stecken? Katharina Michaelowa winkt ab: «Das Potenzial kann oft nicht ausgenutzt werden, weil die Strukturen nicht funktionieren. Zum Beispiel haben manche Universitäten in Ruanda nicht einmal einen fixen Stundenplan.» Zudem fehle es an Unternehmen, die Forschungsergebnisse in praktische Anwendungen umsetzen können.

«Gute Forschung braucht erst mal eine gute Grundausbildung der breiten Bevölkerung.»Katharina Michaelowa

Auf der südlichen Hemisphäre investiert auch die Privatwirtschaft kaum in die Forschung. Manchmal fliesst sogar umgekehrt Geld vom Staat in Unternehmen. «Die Forschung und Entwicklung in Unternehmen wird beispielsweise in Brasilien überwiegend durch die öffentliche Hand getragen», so Michaelowa. Zudem gibt es andere Prioritäten: «Gute Forschung braucht erst mal eine gute Grundausbildung der breiten Bevölkerung », sagt Michaelowa. Die Forschenden in Ländern mit wenig finanziellen Mitteln gehören nicht zu den Ärmsten. «Eine wirksame Entwicklungshilfe kann sich daher nicht auf ein einziges Thema wie Forschung konzentrieren: Wir müssen vernetzt handeln.»