Beim Kampf um die besten Ideen geeht es auch ums Überleben, ist Designforscherin Claudia Mareis überzeugt. Und verändert mit ihren Ideen die Art und Weise, wie man Design versteht. | Bild: Kostas Maros / 13Photo

Wer Design hört, denkt zumeist an Formen und Farben, an bestimmte Stühle oder Lampen – an Produktdesign, vielleicht auch an Architektur. Die Projekte und Publikationen von Claudia Mareis reissen jedoch ein ganz anderes Feld auf. Da geht es ums Regieren oder um sogenanntes aktives Material, um Kreativitätstechniken oder um Wissenskulturen. Es gebe zwei Denktraditionen, erklärt Claudia Mareis am Sitzungstisch im lichtdurchfluteten Campus der Hochschule für Gestaltung und Kunst der FHNW in Basel.

Die eine Tradition folgt einem konkreten Verständnis von Design. Die andere umfasst einen erweiterten Designbegriff, der sich in den 1950er- und 60er-Jahren herausgebildet hat, vor allem in Deutschland, Grossbritannien und den USA. «In dieser Tradition wird die Planung und Gestaltung unserer ganzen Lebenswelt als Design verstanden. Zentral sind Fragen danach, wer unseren Alltag gestaltet und in welcher Form.»

«Ich habe mich immer schon gewundert, warum Städte so hässlich sein können.»

Claudia Mareis ist in beiden Traditionen zu Hause. In den späten 90er-Jahren hat sie in Biel eine Ausbildung zur Grafikdesignerin gemacht, damals noch als Lehre an einer Kunstgewerbeschule. Erste Engagements führten sie zu Agenturen in Amsterdam und Berlin. Mit knapp 30 Jahren ging sie noch einmal zurück in die Schule. Die neue Zürcher Hochschule der Künste (ZHDK) bot einen Studiengang an, der über ein kommerzielles Verständnis von Design hinausgeht.

An der Kunstgewerbeschule und bei der Arbeit als Grafikerin habe ihr eine theoretische Auseinandersetzung mit Design gefehlt, erklärt Mareis. «Ich habe mich immer schon gewundert, warum Städte so hässlich sein können», erzählt sie. Im Wallis, wo sie aufgewachsen ist, sei das besonders augenfällig. «Design ist ein zutiefst politisches Thema.» Bei der Gestaltung von Räumen über Maschinen bis zu Computersystemen gehe es immer darum, wer an Entscheidungen mitbeteiligt ist – und um die Kehrseite: wer ausgeschlossen wird.

Zukunft gestalten
Claudia Mareis (49) lernte Grafikdesign und studierte Design-, Kultur- und Kunstwissenschaften. Sie hat aktiv zur Etablierung der Designtheorie und -forschung im deutschsprachigen Raum beigetragen. Seit 2021 ist sie Professorin für Gestaltung und Wissensgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Dort leitet sie ein interdisziplinäres Forschungsprojekt, das Materialien wie Holz, Pilze oder Bakterien als Quelle zur Entwicklung nachhaltiger Technologien untersucht. Zudem leitet Mareis das an der FHNW angesiedelte Projekt Governing through Design. Dieses geht der Frage nach, wie Design politisches Denken und Handeln beeinflusst hat, und untersucht, welche Konzepte und Strategien zur Lösung sozialer, politischer und ökologischer Probleme sich daraus entwickelt haben.

Zudem hätten Designerinnen ein grosses Know-how, könnten aber oft schlecht über ihre eigenen Methoden sprechen. «Mir war das früher zu wenig klar», sagt sie, lacht und richtet sich die Brille. Mit einem Erasmus-Programm ging sie nach Berlin. Dort studierte sie am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität, an dem 2021 für sie ein Lehrstuhl eingerichtet worden ist und das sie heute leitet.

Das Austauschsemester ermöglichte ihr, mit einer kulturwissenschaftlichen Methodik an ihre Fragen heranzugehen. «Das war eine Superkombi für mich», sagt sie. Designtheorie sucht nach Lösungen, ist pragmatisch und dabei manchmal etwas unreflektiert. Die Geisteswissenschaften hingegen zweifeln die Dinge an, problematisieren sie und hinterfragen sie im historischen Zusammenhang. Dank einer Kooperation mit der Universität in Linz konnte die Walliserin an der ZHDK eine Doktorarbeit über den erweiterten Designbegriff seit den 60er-Jahren schreiben. Es war hierzulande die erste zu diesem Thema.

Kreativität als soziale Überlebensstrategie

Die Erweiterung des Designbegriffs in den 50er- und 60er-Jahren sei stark von der Kriegs- und Nachkriegszeit und dem Aufkommen des Computers geprägt gewesen, erklärt Mareis. Verschiedene Disziplinen wie die Sozialwissenschaften, Wissenschaftstheorie, Physik und Kybernetik spannten mit ihren jeweiligen Methoden zusammen und fokussierten auf die Lösung eines Problems. «Design passte da gut hinein», sagt Mareis, «es war eine offene Disziplin.» Im angelsächsischen Raum entwickelte sich das Design Methods Movement.

In einem sehr allgemeinen Sinn wurde nun jede geplante Veränderung als Design verstanden. Besonderes Interesse widmete Mareis den Kreativitätstechniken. Ein Beispiel dafür ist das Brainstorming, das im Zweiten Weltkrieg für die Kriegsführung genutzt wurde. Nach dem Krieg wurde es in Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und viele weitere Bereiche hineingetragen. Es gab Anleitungen, wie Brainstorming trainiert werden sollte. Kreativität wurde nicht mehr wie noch im 19. Jahrhundert als Eigenschaft eines herausragenden Genies verstanden. Sie wurde neu als weit verbreitetes menschliches Kapital gesehen, das ökonomisch genutzt werden kann.

«Wie man ein Problem definiert, gibt ein Stück weit den Lösungsweg vor.»

Mit Selbstverwirklichung hat das wenig zu tun. «Die spielerische Leichtigkeit, die Kreativitätsmethoden an den Tag legen, täuscht darüber hinweg, dass der Kampf um die besten Ideen in modernen Gesellschaften längst nicht nur eine unternehmerische, sondern auch eine soziale Überlebensstrategie ist», schreibt Mareis im Manuskript ihres Buches, das ihre Habilitationsschrift werden sollte. Bevor es allerdings fertig war, wurde sie als Professorin nach Berlin berufen – auch ohne Habilitation.

Dort leitet Mareis heute ein mit 200 Forschenden aus über 40 Disziplinen gross angelegtes Exzellenz- Cluster. Dabei wird ein bestimmtes Problem jeweils interdisziplinär im Dreieck aus geisteswissenschaftlicher, naturwissenschaftlicher und gestalterischer Perspektive untersucht. Die Forschungsanlage soll die Produktion von Wissen grundlegend verändern: Impulse aus der Praxis sollen in die Grundlagenforschung einfliessen und umgekehrt. Da schauen etwa Architektinnen und Materialwissenschaftler auf Strukturen – die einen im Makro-, die anderen im Nanobereich.

Ambivalenz gesucht!

Dabei interessiert, wie weit das Material selbst durch seine Struktur, seine Geometrie oder seine Eigenschaft bestimmte aktive Funktionen übernehmen kann: Holz beispielsweise oder Zellulose, die sich mit Feuchtigkeit verändern, oder auch Bakterien und Pilze, die mit ihrem Wachstum Prozesse mitgestalten. Es ist eine Forschung, die sich von der Trennung zwischen aktivem Menschen und passivem Material und der damit verbundenen Ausbeutung von Ressourcen entfernt. Sie entwickelt neue Materialbegriffe, die Akteure wie Tiere, Lebewesen, Pflanzen mitdenken.

Die verschiedenen Disziplinen brächten ihre jeweilige Agenda mit sich, erklärt Mareis. Diese miteinander in Dialog zu bringen, sei extrem spannend: «Mich interessiert die Ambivalenz.» Ihre heutige Arbeit als Wissenschaftlerin ist für sie gar nicht so weit entfernt von ihren Anfängen als Grafikerin. Gerade die Forschung biete viele Gestaltungsmöglichkeiten, sagt sie. Es gehe darum, neue Wege zu erschliessen, über neue Methoden und Herangehensweisen nachzudenken. «Wie man ein Problem definiert, gibt ein Stück weit den Lösungsweg vor.»

Ein Meilenstein für die Mitgestaltung aller

Das zeigt sich auch in der Bildungspolitik. Designforschung und -theorie ist im internationalen Umfeld als Forschungsfeld sehr ausdifferenziert. Hierzulande war Design jedoch lange an Kunstgewerbeschulen angesiedelt, daher gab es in der Schweiz kein eigenständiges universitäres Forschungsfeld Design und kaum Grundlagenforschung. An der Hochschule für Gestaltung und Kunst der FHNW, an der sie noch unterrichtet, hat Mareis das Institut Experimentelles Design und Medienkulturen aufgebaut. Damit hat sie einen Meilenstein dafür gelegt, dass in der Schweiz reflektiert wird, wer bei Entscheidungen einbezogen oder ausgeschlossen wird, sei es bei Computersystemen und Maschinen – oder bei der Gestaltung von Städten.