Wer die Welt in Gut und Böse aufteile, vergifte das Klima, ist der FDP-Parlamentarier Ruedi Noser überzeugt. | Bild: Manu Friederich

Ruedi Noser, wann haben Sie das letzte Mal das Telefon in die Hand genommen und einen Wissenschaftler angerufen?

Während der Debatten rund um das CO2- Gesetz habe ich am Laufmeter mit Wissenschaftlern gesprochen. Ich kann gar nicht alle aufzählen. Man kann zwar anderer Meinung sein als ein Wissenschaftler, aber man muss zumindest die Fakten kennen, wenn man politisiert.

Es gehört für Sie also zum Alltagsgeschäft, sich mit Forschenden auszutauschen?

Ja. Im Live Science Zurich Learning Center bin ich mit Wissenschaftlern zusammengesessen, um zu verstehen, was in der Medizin in den nächsten 20 Jahren wichtig werden könnte. Es gibt so viel Populärwissenschaft, die Gott und die Welt verspricht – im Silicon Valley etwa die Unsterblichkeit. Das wollte ich besser einordnen können.

Hat das funktioniert?

Ja, ich denke schon. Wir haben zum Beispiel über die Fortschritte in der Gentechnik geredet. In Zukunft werden Mutationen mit der Genschere so gemacht, dass sie nicht mehr von konventionellen Züchtungen zu unterscheiden sind. Und die Technologie wird so günstig, dass jedes gymnasiale Labor sich diese leisten kann. Das aktuelle Gentechnikgesetz ist unter diesen Umständen nicht mehr durchsetzbar.

Vom Land in die Stadt
Ruedi Noser (58) vertritt den Kanton Zürich seit 2015 im Ständerat. Davor war er zwölf Jahre lang Nationalrat für die FDP. Der diplomierte Elektroingenieur ist Präsident der ständerätlichen Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur. Ausserdem ist er Stiftungsratspräsident von «Switzerland Innovation», die sich für die Vernetzung von Hochschulen und Unternehmen und den Austausch zwischen Forschenden und Industrie einsetzt. Ruedi Noser ist im Glarnerland aufgewachsen. Zusammen mit seinem Bruder gründete er das IT-Unternehmen Noser-Gruppe mit heute rund 500 Mitarbeitenden. Er hat fünf Kinder und lebt mit seiner Partnerin in Zürich.

Viele Menschen haben Angst vor den schnellen technischen Entwicklungen. Sie auch?

Angst ist ein schlechter Ratgeber. Es gibt zwei Grundsätze, die man als Politiker erfüllen muss: Erstens muss man die Menschen gernhaben. Zweitens muss man ein Optimist sein. Sonst wird man sehr konservativ. Ich bin überzeugt, dass wir die aktuellen Probleme lösen werden.

Das sagen Sie auch zur vom Pariser Übereinkommen geforderten CO2-Reduktion: mehr Forschung, und es kommt gut, ohne dass wir sonst noch etwas tun müssen.

Das ist ein bisschen zu einfach zusammengefasst. In der Schweiz kann man Verzicht predigen: Ich habe noch ein paar Hemden mehr im Schrank und kann die nächsten zwei Jahre auskommen, ohne ein neues zu kaufen. Aber das gilt höchstens für eine halbe Milliarde Menschen. Dass alle acht bis neun Milliarden Menschen in Würde und Anstand leben können, kriegt man nur mit Innovation hin.

Sie halten es für realistisch, dass Innovation uns dahin bringt?

Wir haben gar keine Wahl. Wenn wir wollen, dass alle Erdenbewohner gemäss den Menschenrechten leben können, dann haben wir ohne technische Innovationen keine Chance. Es gibt aktuell ein paradoxes Dreieck: Wir wollen eine Multikulti-Gesellschaft sein, wir wollen die Probleme global lösen, aber gleichzeitig sollen wir uns nicht mehr gegenseitig besuchen dürfen. Das geht einfach nicht auf. Ich finde es gut, dass wir weltoffen sind, weltverbunden. Das ist die Basis, um Probleme miteinander lösen zu können.

«Die Schweiz müsste führend darin sein, energietechnische Probleme zu lösen.»

Ein Beispiel für eine innovative technische Lösung, die Sie beeindruckt?

Climeworks, ein Start-up, das CO2 aus der Luft holt und für Kunden nutzbar macht. Aber es gibt an der ETH und den Universitäten noch viele weitere spannende Forschungsprojekte. Mich stört allerdings, dass die erste Anlage von Climeworks, die dieses CO2 zu Kerosin umwandelt, nicht in der Schweiz steht, wo die Idee entwickelt wurde. Die Schweiz müsste eigentlich führend darin sein, energietechnische Probleme zu lösen.

Läuft das Zusammenspiel von Politik und Forschung nach den richtigen Regeln?

Es braucht von der Politik ein klares Bekenntnis zur Grundlagenforschung und zur Übertragung der Grundlagenforschung in die Anwendung. Aber die Politik darf nicht darüber entscheiden, was gute und was schlechte Forschung ist. Ausserdem braucht es unbequeme Forschende.

Wie meinen Sie das?

Die Öffentlichkeit und die Politik hören gewisse Dinge gerne. Ich habe den Eindruck, dass Forschende vor allem diese Dinge unterstützen, statt zu sagen, was Sache ist. Es braucht Forschende, die aus unabhängigen Positionen ihre Meinung sagen. Und es braucht ein System, das diese Unabhängigkeit unterstützt. Alle Personen, die in der Forschungsförderung tätig sind, sollten sich immer wieder hinterfragen, ob sie diesen Grundsätzen folgen und auch das Unbequeme zulassen.

Welche Rolle spielen denn wissenschaftliche Fakten in den Parlamentsdebatten?

Wissenschaftliche Fakten spielen eine sehr wichtige Rolle. Allerdings stehen wir vor dem Problem, dass die Daten und Fakten, auf die wir uns stützen, immer auch politisch sind. Das Bundesamt für Statistik ist beispielsweise nicht unabhängig von der Verwaltung, und so sind auch die Zahlen, die wir erhalten, politisch eingefärbt. Der Interpretationsspielraum wird dadurch beschränkt. Ich bin der Meinung, objektive statistische Daten sollten die Grundlage liefern, um zu den besten Lösungen zu gelangen. In den parlamentarischen Diskussionen beruht alles auf den politisch denkbaren Modellen. Es wird zu wenig quergedacht, zu wenig kreativ, zu wenig in Frage gestellt.

Sind Sie selbst denn stets offen für Veränderungen?

Ja, für mich heisst Veränderungsbereitschaft, dass man jung bleibt. Man kann mit 20 schon alt und mit 80 noch jung sein.

«Es gibt nicht die eine Lösung. Aber es gibt verschiedene Lösungen, wobei jede Lösung wieder neue Probleme mit sich bringt.»

Woran aber halten Sie fest? Was sind Ihre Leitlinien?

Man kann sich in der Politik an gewisse Grundsätze halten. Meiner ist: Es gibt nicht die eine Lösung. Aber es gibt verschiedene Lösungen, wobei jede Lösung wieder neue Probleme mit sich bringt. Damit sind alle Ideologien schon mal auf dem Abstellgleis. Sie dienen nur dazu, dass man selbst weniger denken muss.

Die Freiheit des Einzelnen als oberstes Prinzip ist keine Ideologie?

Sie ist ein Menschenrecht. Menschenrechte sind dazu da, um die Menschen vor dem Staat zu schützen. Ich verteidige sie zu 100 Prozent. Das menschliche Handeln ist kreativ. Wer dies staatlich brechen will, wird daran scheitern. Nehmen wir das Beispiel Klima: Man kann es nur gemeinsam retten, nicht durch Ausgrenzung und Verurteilung. Wenn man die Welt in Gut und Böse aufteilt, vergiftet man das Klima. Wir müssen den Weg miteinander gehen. Deswegen ist die Demokratie das beste System, um Probleme zu lösen.

Aber beim Klima wird vor allem diskutiert.

Analysieren wir die Aufgabe, das CO2 zu reduzieren, einmal kühl. Die Schweiz hatte das Ziel, den CO2-Ausstoss bis 2020 um 20 Prozent zu senken. Sie wird das knapp erreichen, während es alle umliegenden Länder klar verfehlen werden. Wir werden auch die 50 Prozent Reduktion bis 2030 schaffen. Wir sollten uns an einen machbaren Plan halten und andere Länder unterstützen, ihre Ziele ebenfalls zu erreichen.

Wie kann das gelingen?

Mit den beschlossenen Massnahmen zur CO2-Reduktion strebt der Ständerat den weltweit grössten Klimafonds pro Kopf an. Damit können wir auch andere Länder unterstützen. Da wird ein neuer Nationalfonds für Nachhaltigkeitsforschung geschaffen. Das hat die Wissenschaft noch gar nicht realisiert. Wir können nur einen Beitrag leisten, indem wir in diesen Forschungsbereich investieren, nicht indem wir zurückgehen ins 18. Jahrhundert.

«Ich wünschte mir, dass Harvard oder Berkeley in die Schweiz kämen und hier ein bisschen Konkurrenz schaffen.»

Welche Erfindung würden Sie sich von der Forschung wünschen?

Meine Antwort wird Sie nicht erfreuen. Ich habe mir auch schon überlegt, was ich heute aufbauen würde, wenn ich noch einmal 20 Jahre alt wäre. Ich würde vermutlich ein Ausbildungsinstitut gründen. Ich glaube, unsere Hochschulen sind zwar auf hohem Niveau, aber nicht so dynamisch, wie sie sein könnten. Ich wünschte mir, dass Harvard oder Berkeley in die Schweiz kämen und hier ein bisschen Konkurrenz schaffen. Das wäre dringend nötig. Das System bei uns ist sehr träge. Die Idee, dass die Fachhochschulen, die Universitäten und die ETH alle forschende Schulen sein müssen, ist zudem absurd.

Ist es ein Fehler, dass die Fachhochschulen vermehrt auf Forschung setzen?

Das Wort angewandte Forschung finde ich eine Zumutung. Es gibt Forschung. Und es gibt Entwicklung. Sobald die Forschung ein Ziel im Auge hat, ist es eine Entwicklung.

Zum Schluss noch etwas ganz anderes: Wenn Sie mit einem verstorbenen Wissenschaftler zu Abend essen könnten, welchen würden Sie wählen?

(Lacht.) Es wäre sicher spannend, Albert Einstein zu begegnen. Aber eigentlich bin ich der Ansicht, dass stilisierte Vorbilder aus der Vergangenheit eines der grossen Probleme der Menschen sind. Es gibt zahlreiche interessante Persönlichkeiten aus der Gegenwart, mit denen ich gerne zu Abend essen würde.