Man kann frei schwebend aufmerksam sein und Bäume oder Blätter um ihrer selbst willen betrachten. Bei schlechtem Wetter dagegen sehen wir sie eher in der Funktion als Regenschutz. | Bild: Désirée Good / 13Photo

Push-Nachrichten, stark riechendes Essen im Zug, ein bekanntes Gesicht im Augenwinkel. Unser Alltag ist voll von Reizen, die unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Ob wir das nun wollen oder nicht. Zusätzlich machen uns der ständige Austausch über die sozialen Medien, die Erreichbarkeit per Internet und die endlosen Online-Zerstreuungen zu schaffen. Kein Wunder, scheinen Angebote wie Meditation, Yoga oder Achtsamkeitsübungen beliebter denn je.

«Aufmerksamkeit ist zu einer der wichtigsten Währungen unserer Zeit geworden», fasst die Philosophin Susanne Schmetkamp zusammen. Sie leitet ein Forschungsprojekt zu Ästhetik und Ethik der Aufmerksamkeit an der Universität Freiburg. Trotz der engen Verknüpfungen zu Fragen rund um das Bewusstsein, um ethisches Handeln und ästhetische Erfahrungen wurde die Aufmerksamkeitsforschung in der zeitgenössischen Philosophie lange Zeit vernachlässigt. «Dabei bestimmt Aufmerksamkeit zu einem grossen Teil, welche Dinge wir bewusst wahrnehmen, welche Handlungsoptionen wir erkennen oder auch, wie wir mit anderen umgehen», sagt Schmetkamp.

«Ganz allgemein ist Aufmerksamkeit in der Strukturierung unserer Erfahrung involviert und bestimmt, wie wir Sinnzusammenhänge erfassen.» Diego D’Angelo

Die Vernachlässigung hat womöglich auch damit zu tun, dass es gar nicht so einfach ist, das Phänomen genau zu erfassen und zu definieren. «Aufmerksamkeit hat viele unterschiedliche Facetten», bestätigt Diego D’Angelo, der an der Universität Würzburg ebenfalls zu Aufmerksamkeit forscht. «Ganz allgemein ist sie in der Strukturierung unserer Erfahrung involviert und bestimmt, wie wir einen Fokus setzen und Sinnzusammenhänge erfassen.»

Das Problem: Nicht immer sind dabei die gleichen Fähigkeiten im Spiel – «oft fühlt es sich auch ganz unterschiedlich an», aufmerksam zu sein. Manchmal wechseln wir zudem nahtlos von einer Form der Aufmerksamkeit zur anderen.

Letztlich auch wieder für den Arbeitgeber

So kann aufmerksam zu sein zum Beispiel bedeuten, besonders stark auf etwas zu fokussieren – mitunter stundenlang. Wir richten den Fokus auf eine bestimmte Sache und blenden den Rest aus. Dies verlangt nach Anstrengung und Disziplin. Und ist etwa in der Arbeitswelt gefragt. «Es scheint dass, nur wer aufmerksam ist oder Aufmerksamkeit erlangt, in der mobilen, flexiblen und beschleunigten Leistungsgesellschaft mithalten kann», sagt Schmetkamp.

In anderen Fällen sei unsere Aufmerksamkeit dagegen eher «frei schwebend», erklärt sie. «Wir nehmen dabei vieles um uns herum gleichsam auf.» Das geschieht zum Beispiel, wenn wir mit ästhetischem Blick eine Landschaft betrachten, ohne ein bestimmtes Element herauszugreifen. Oder wenn wir ein Musikstück in all seinen Facetten auf uns einwirken lassen. Und wenn wir uns in Achtsamkeit üben.

«In der Meditation zielen viele Übungen darauf ab, die eigene Autonomie zu stärken und sich nicht von Ablenkungen forttreiben zu lassen.»Susanne Schmetkamp

Dabei sind dann ganz andere Fähigkeiten gefragt. «Wir widmen uns einer Sache um ihrer selbst willen und konzentrieren uns nicht auf ihre Funktion», sagt Schmetkamp und bringt einen Vergleich: Beim Spazieren durch den Wald können wir einen Baum in seiner Erhabenheit, seinem Platz im Gesamtgefüge oder seiner blossen Form erfassen. «Versuchen wir dagegen im Regen trocken nach Hause zu kommen, nehmen wir den Baum womöglich bloss in seiner Funktion als Regenschutz wahr.»

Gemäss Schmetkamp ist diese frei schwebende Aufmerksamkeit zentral für meditative und ästhetische Erfahrungen, bei denen wir eine ganzheitliche Perspektive einnehmen. «In der Meditation zielen darüber hinaus viele Übungen darauf ab, die eigene Autonomie zu stärken und sich nicht von Gedanken und Ablenkungen forttreiben zu lassen.»

Bedürfnis nach Freiheit

Darin erkennt sie auch ein Bedürfnis nach mehr Freiheit und versteht den Trend rund um Achtsamkeit als Gegenbewegung: Viele wollen sich dem ständigen Buhlen nach Aufmerksamkeit – durch die Werbung, unsere Mitmenschen, die Arbeit oder auch die eigenen Gefühle – entziehen. «Man kann diese Praktiken durchaus kritisch betrachten», relativiert sie aber. «Sie stehen oft selbst wiederum im Dienst der Leistungsgesellschaft, die unsere Aufmerksamkeit, verstanden als Fokus und Konzentration, stählen will.»