Seit einigen Jahren gibt es in der Schmerzbekämpfung ein weiteres Mittel: Neurostimulatoren. Diese Geräte senden elektrische Impulse über das Knochenmark zum betroffenen Körperbereich. Die Stimulierung erzeugt dort gezielte Parästhesien – ein Kribbeln. Indem sich das Signal zwischen das Gehirn und das schmerzende Glied schaltet, verzögert es den Schmerz. Diese Therapie wird nun durch virtuelle Wahrnehmung ergänzt. An der EPFL hat der Neurowissenschaftler Olaf Blanke klinische Studien mit Personen durchgeführt, die an schweren chronischen Schmerzen im Bein leiden. Über ein VR-Headset sehen die Versuchspersonen eine digitale Version ihres Körpers in einer 3D-Umgebung. Wenn der Neurostimulator einen Impuls sendet, leuchtet gleichzeitig das virtuelle Bein auf. Die Synchronisierung des elektrischen und visuellen Signals verstärkt die Wirkung der schmerzlindernden Behandlung.

Virtuelles Bein hilft physischem Bein

Anwendung: Behandlung chronischer Schmerzen
Stand: Klinische Forschung der EPFL

Unterstützt durch die Therapie mit virtuellem Körper ist die Behandlung durch Neurostimulation nicht nur wirksamer, sondern auch angenehmer. «Tatsächlich können wir so die Intensität des Impulses unter die Schwelle der Wahrnehmung senken und die gleiche schmerzstillende Wirkung erzielen», erklärt Olaf Blanke. «Die behandelte Person nimmt die Parästhesien nicht mehr wahr und hat den Kopf frei.» Die Risiken dieser Behandlung sind naturgemäss klein und die Umsetzung sehr  einfach, was den Technologietransfer erleichtert. «Alles ist automatisiert, und die Person kann die Behandlung allein zu Hause durchführen.» Noch erstaunlicher ist, dass sich die Technik auch bei Personen mit amputierten Gliedern, die Phantomschmerzen haben, einsetzen lässt. Bei diesem Leiden geht das Gehirn davon aus, dass das fehlende Glied noch vorhanden ist, was zu echten und manchmal schweren Schmerzen führen kann. Auch in diesem Fall zeigt die Neurostimulation eine stärker lindernde Wirkung, wenn die Betroffenen ihr dreidimensional wiederhergestelltes Körperglied in einem virtuellen Raum sehen.

Eine digitale Persönlichkeit, die Eindruck macht

Anwendung: Sozialwissenschaftliche Forschung
Stand: Anwendung durch die Universität Genf

Bei Begegnungen ist der erste Eindruck ausschlaggebend. Diese Weisheit bestätigt sich immer wieder. Auch wenn wir uns dessen nicht immer bewusst sind: Wir führen vom ersten Moment an komplexe Analysen durch, um zu beurteilen, mit wem wir es zu tun haben. «Wir passen unsere Haltung dem Eindruck an, den das Gegenüber unserer Einschätzung nach von uns hat. Weil das Gegenüber dasselbe tut, entsteht eine Schleife», erklärt Guillaume Chanel, Forscher für Affective
and Social Computing an der Universität Genf. In Zusammenarbeit mit dem Institut für intelligente Systeme und Robotik der Universität Pierre und Marie Curie in Paris hat sein Team eine virtuelle Persönlichkeit entwickelt, die fähig ist, in diese Beziehungsschleife einzugreifen. Ein Bildschirm zeigt eine Person in 3D, welche die Emotionen der Menschen erkennt, indem sie ihre Stimme und Mimik analysiert. Sie lernt nicht nur, diese Zeichen zu identifizieren, sondern auch, passende emotionale Antworten zu geben – ein Lächeln, ein leichtes Kopfnicken, die Hände in die Hüften stützen. Mit der virtuellen Persönlichkeit können manche sozialwissenschaftlichen Theorien geprüft werden. Demnach stützen wir uns bei unserem ersten Eindruck auf zwei Kriterien: Wärme und Kompetenz. An der Wärme,  die uns jemand entgegenbringt, erkennen wir seine Absichten uns gegenüber. Die Kompetenz liefert zum Beispiel Anhaltspunkte dazu, ob uns jemand schaden kann,
wenn er sich feindselig verhält. Die Persönlichkeit, die 2018 im Wissenschaftsmuseum Cité des sciences in Paris der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, optimierte entweder den Eindruck der Wärme oder der Kompetenz. «Häufig geht das eine auf Kosten des andern, denn wir glauben tendenziell, dass warmherzige Personen weniger kompetent sind und umgekehrt», erklärt der Forscher. Damit die Botschaften ankamen, musste die virtuelle Person subtile Veränderungen im Ausdruck vornehmen. «Zum Beispiel wird ein Lächeln als unehrlich wahrgenommen, wenn dabei nicht auch die Augen zusammengekniffen werden.» Diese Experimente an der Schnittstelle zwischen Informatik und psychosozialen Wissenschaften sind auch kommerziell von Interesse. So arbeitet der Forscher mit dem Computerzubehör-Hersteller Logitech an einer Technologie, mit der die häufig sehr verhaltenen Emotionen von E-Sportlerinnen und E-Sportlern bei der Ausstrahlung auf den sozialen Netzwerken expliziter zum Ausdruck gebracht werden können.

Verborgene Sammlungen betrachten

Anwendung: Werkzeug für Naturforschende
Stand: : Infrastrukturprojekt der Schweizerischen Akademie der Naturwissenschaften

Die Schweiz ist international ein Schwergewicht, was Sammlungen von Tier-, Pilz- und Pflanzenbelegen betrifft. In den Hallen und Schubladen der Museen schlummern auf vielen Regalkilometern über 61 Millionen Präparate; von Dickhäutern über Käfer bis zu exotischen Pflanzen, die von Expeditionen auf fünf  Kontinenten mitgebracht wurden. Unser Land besitzt rund 10 Prozent aller Typusbelege der Welt–das sind die Referenzexemplare, auf deren Grundlage eine Art beschrieben wird, ähnlich wie das Urkilogramm oder der Urmeter die Referenz für Gewichte beziehungsweise Längen waren.

Im Januar 2021 lancierte die  Schweizerische Akademie der Naturwissenschaften das Projekt Swisscollnet, um dieses auf rund dreissig Museen verteilte Erbe zu digitalisieren. Das Ziel:  Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern auf der ganzen Welt einen virtuellen Zugang zu den Sammlungen zu verschaffen. Denn obwohl viele Typusbelege im 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts gesammelt wurden und damit aus der vergangenen Epoche von Lamarck, Humboldt und Darwin stammen, spielen sie heute noch eine wichtige Rolle in der Wissenschaft.

«In der Biologie müssen manchmal Hunderte von Typusbelegen verglichen werden, um neue Unterarten oder sogar Arten zu entdecken», erklärt Christoph Scheidegger, Projektleiter von Swisscollnet und Professor an der Eidgenössischen Forschungsanstalt WSL. «Damit lässt sich der phylogenetische Stammbaum ergänzen–oder auch die Ökologie und die geografische Verteilung der Arten untersuchen.»

Nutzen lassen sich die Sammlungen aber auch anwendungsnäher, zum Beispiel in der Landwirtschaft. Indem Typusbelege verglichen werden, können etwa schädliche Arten auf ihren Ursprung zurückverfolgt und ihre Anpassungsstrategien an neue Umweltbedingungen untersucht werden. Aktuell sind erst 17 Prozent der Sammlungen digitalisiert. Swisscollnet möchte den Schweizer Museen das erforderliche Know-how vermitteln, um den Aufbau voranzutreiben, und eine anwenderfreundliche zentrale Plattform ins Leben rufen. «Die Schweiz verfügt über ein aussergewöhnliches Erbe», erklärt Christoph Scheidegger. «Es ist unsere Verantwortung, diese Kostbarkeit der Wissenschaft auf der ganzen Welt zur Verfügung zu stellen.»

Angst in drei Dimensionen bändigen

Anwendung: Behandlung von Phobien
Stand: : Forschung an der Universität Basel und an der EPFL

Konfrontationstherapie ist eine häufige Behandlung bei Phobien und posttraumatischen Syndromen. Unter Anleitung wird die Patientin oder der Patient mit dem angstauslösenden Reiz konfrontiert: grosse Höhen, Spinnen oder enge Räume. In jeder Sitzung wird das Stressniveau der individuellen Toleranzschwelle angepasst.  Durch die wiederkehrende Erfahrung mit steigender Intensität lernt das Gehirn, dass keine reelle Gefahr besteht. Bei diesem therapeutischen Ansatz lässt sich enormer Nutzen aus virtuellen Technologien ziehen. An der Universität Basel hat Dominique de Quervain eine therapeutische Applikation gegen Höhenangst entwickelt. Ausgerüstet mit einer VR-Brille begibt sich die sich in Behandlung befindende Person in einen virtuellen Raum. Sie kann sich beispielsweise selbst in einem Metallkäfig sehen, der bis zu 70 Meter über dem Boden schwebt.

Zusammen mit seinem Team hat der Neurowissenschaftler das Programm bei rund 20 Personen getestet. Nach einer Einführung und sechs allein zu Hause durchgeführten Sitzungen war deren Angstniveau gegenüber der Kontrollgruppe nur noch halb so hoch, auch unter realen Bedingungen. Diese Ergebnisse sind mit denjenigen der herkömmlichen Konfrontationstherapie vergleichbar. Der Forscher setzte seine Anwendung auch zur Behandlung der Angst, vor Publikum zu
sprechen (Logophobie), und bei Angst vor Spinnen (Arachnophobie) ein. Mithilfe einer VR-Brille oder eines Smartphones mit Augmented Reality lernt die  Versuchsperson, vor einem immer grösseren Publikum aufzutreten oder einer immer unternehmungslustigeren Spinne zu begegnen. «Der Vorteil ist klar: Die  betroffenen Personen müssen sich nicht physisch auf einen Turm oder in einen Saal mit Publikum begeben, und es muss keine lebende Spinne vorhanden
sein», erklärt Dominique de Quervain. «Sie können die Übung in virtuellen Räumen allein durchführen, damit wird auch das häufig empfundene Schamgefühl vermieden, das die Therapie oft stark behindert.»

«Zusammen mit Medikamenten hat die virtuelle Realität ein sehr grosses Potenzial für die Psychotherapie», ergänzt Carmen Sandi, Neurowissenschaftlerin an der EPFL. Bestimmte Antidepressiva bewirken eine stärkere neuronale Plastizität–die Kapazität des Gehirns, Verbindungen anzupassen. «Durch die Kombination von Medikamenten mit virtueller Realität können wir neuronale Fenster öffnen, in denen das Gehirn sensibler für Veränderungen ist», erklärt die Forscherin, die in
diesem Bereich mit ihrem Basler Kollegen zusammenarbeiten will.

Kinder manipulieren den Wasserkreislauf

Anwendung: Schulunterricht
Stand: Forschung am Institut für universitäre Fernstudien Fernuni Schweiz

Um jüngeren Kindern etwas beizubringen, werden oft fantasievolle Geschichten eingesetzt. Ist dieser Ansatz eigentlich effizient? Das ist für die  Erziehungswissenschaft zwar eine grundlegende Frage, aber gemäss Corinna Martarelli, Professorin am Institut für universitäre Fernstudien Fernuni Schweiz, immer noch wenig untersucht. Die virtuelle Realität eröffnet nun vielleicht neue Möglichkeiten, die vernachlässigte Problematik zu untersuchen.

Diesen Frühling lancierte die Forscherin ein ehrgeiziges Experiment mit Walliser Schulen: 200 französisch- und deutschsprachige Schülerinnen und Schüler im Alter von fünf bis sechs Jahren erhalten eine Lektion zur chinesischen Kultur über ein virtuelles Medium. «Das Alter der Kinder ist nicht zufällig, sondern bewusst gewählt, weil sie in dieser Zeit zwischen Realität und Fiktion zu unterscheiden lernen», erklärt die Forscherin.

Ein Teil der Kinder erhält Unterricht durch eine menschliche Person, ein anderer Teil durch ein sprechendes Schaf, das aussieht wie aus einem Animationsfilm. Die Kinder folgen der Lektion vor einem Bildschirm oder tauchen dazu mit einer VR-Brille in eine virtuelle Realität ein. Anschliessend werden zwei Gedächtnistests  durchgeführt, der eine unmittelbar nach dem Experiment, der andere eine Woche später. Mit diesem Versuch möchte Corinna Martarelli zwei Fragen beantworten. «Wir werden sehen, ob ein Mensch oder ein Cartoon-Schaf die bessere Lehrperson ist, aber auch, ob die Immersion mit einer VRBrille gegenüber einem Bildschirm Vorteile hat.»

Die Forscherin arbeitet auch an einem zweiten, anwendungsnahen Projekt. Ihr Team entwickelt eine umfassende wissenschaftliche Lerneinheit in einem virtuellen Klassenzimmer, das über Headsets zugänglich ist. Insgesamt zwölf Unterrichtsstunden widmen sich dabei dem Wasserkreislauf. «Bei diesem Thema ist die virtuelle Realität wirklich hilfreich, zum Beispiel um Vorgänge zu illustrieren, die sich auf der schwer vorstellbaren Ebene von Teilchen abspielen. Dabei lassen sich zudem verschiedene Parameter wie die Temperatur verändern.» Dieses Projekt wird mit acht Klassen im Wallis durchgeführt.

Laut Corinna Martarelli vervielfachen virtuelle Anwendungen die Möglichkeiten für die Forschung in den Bildungswissenschaften. «Wir können damit den Rahmen der Experimente standardisieren, verschiedene Konfigurationen testen und leicht vergleichbare Daten gewinnen.»

Bewegungen spielerisch neu trainieren

Anwendung: Rehabilitation von Personen mit Hirnschädigungen
Stand: Spin-off der EPFL in Lausanne

Vor fünf Jahren wurde Mindmaze in den sehr exklusiven Klub der Schweizer Einhörner aufgenommen: Start-up-Unternehmen mit einer Marktbewertung von über einer Milliarde Dollar. Das Spin-off der EPFL entwickelt Computerspiele, die Opfern von Hirnverletzungen bei der Rehabilitation helfen. Um im dreidimensionalen Spieluniversum weiterzukommen, müssen die Patientinnen und Patienten wie in einer Physiotherapiesitzung Bewegungen ausführen, die für sie schwierig sind und die direkt von einer Kamera erfasst werden.

Das Mindmaze-System, das für die klinische Anwendung von der amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA zugelassen wurde und über die europäische CE-Kennzeichnung verfügt, hat im Behandlungsarsenal verschiedener grosser Gesundheitseinrichtungen einen festen Platz. Das System des Schweizer Unternehmens besteht aus einem Bildschirm mit Bewegungssensoren und unterstützt Tausende Personen bei der Neurorehabilitation zu Hause.

Dank dem spielerischen Setting bleiben die Betroffenen motiviert, und wenn das System zu Hause installiert ist, kann es jederzeit genutzt werden. Erste Rückmeldungen von Spitälern wie Mount Sinai oder John Hopkins in den USA zeigen, dass die Patientinnen und Patienten dadurch viel eifriger bei der Sache sind. Mindmaze entwickelt ausserdem ein VR-Headset, das Bewegungssensoren und physiologische Sensoren mit einer Gehirn-Computer-Schnittstelle kombiniert. Damit könnte die Software über Gedanken gesteuert werden. Mögliche Anwendungen: Computerspiele natürlich, aber auch Entspannungsübungen und Training für  Bereiche, die gute Reflexe erfordern, wie gewisse Sportarten oder das Lenken von Fahrzeugen.

Illustrationen: Opak