Virtuell ist nicht gleich unreal. Philosoph Tobias Holischka pflegt einen entspannten Umgang mit den neuen technischen Möglichkeiten. | Foto: Sebastian Arlt

Tobias Holischka, wir beide treffen uns gerade virtuell, oder?

Ich würde es virtuell nennen, weil das Wort aktuell so benutzt wird. Doch es ist nicht Virtualität im eigentlichen Sinn. Wir meinen nur, dass wir uns nicht physisch treffen. Aus dieser Betrachtung ergibt sich ein Problem: Virtualität wird gegen Wirklichkeit gestellt. Aber dass wir beide jetzt gerade, obwohl wir uns online begegnen, ein wirkliches Treffen haben, würde niemand infrage stellen. Sie sind keine Illusion, und ich bin für Sie kein Computerspiel. Ich bin auf der Hut, weil durch den Begriff Virtualität immer alles in den Bereich des Unwirklichen abgedrängt wird.

Warum ist das ein Problem?

Viele Forschende aus dem Bereich der Geisteswissenschaften werden durch den Begriff Virtualität sofort getriggert und fragen: Was bedeutet es, wenn wir uns nur noch virtuell, also nicht real, treffen? So verwendet ist die Bezeichnung wie eine Nebelkerze. Das gilt auch für andere Begriffe wie künstliche Intelligenz. Wer den technischen Hintergrund nicht versteht, denkt dann: Um Himmels willen, jetzt gibt es künstliche Intelligenz, früher gab es nur natürliche Intelligenz! Aber das ist nur ein Name für eine Technik.

Gedankenreisen an imaginäre Orte
Tobias Holischka ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Philosophie an der Katholischen Universität Eichstätt- Ingolstadt. Er forscht zu Technikphilosophie und Phänomenologie der Virtualität. 2015 promovierte er zum Thema «Cyber- Places. Philosophische Annäherungen an den virtuellen Ort».

Ich verstehe. Uns geht es vor allem um virtuelle Räume. Sagen wir einfach, wir treffen uns seit einem Jahr an neuen Aufenthaltsorten. Braucht es eine neue Betrachtungsweise von Räumen?

Ja. Wenn wir den alten Begriffswerkzeugkasten verwenden, dann ist das, was wir in den Bildschirmen sehen, sei das nun ein E-Book oder ein soziales Netzwerk, nur eine zweidimensionale Textwand. Auf den ersten Blick scheint alles dasselbe zu sein. Aber wir haben es mit völlig unterschiedlichen Phänomenen zu tun: Beim E-Banking befinden wir uns in einem ganz sicheren Bereich, der passwortgeschützt ist. Auf einem sozialen Netzwerk dagegen schicke ich persönliche Nachrichten. Unsere Sprache zeigt uns schon lange an, dass es sich dabei um Orte handelt. Wir loggen uns ein, wir laden Sachen herunter. So sehen wir eine Dimension, die vorher verdeckt war: Es handelt sich so gesehen tatsächlich um virtuelle Räume. Denn ursprünglich bezeichnet ein Raum ein Nebeneinander von Dingen. Virtuelle Räume sind aber kein Teil des materiellen Raumes. Es gibt keine Strasse, auf der ich zum elektronischen Postfach fahren könnte. Das ist eher eine Blase, die sich in eine andere Dimension erstreckt.

Die Menschheit hat sich lange physisch ausgedehnt: hat neue Kontinente entdeckt, ist ins Weltall vorgestossen. Nun dehnen wir uns sozusagen in Inneres aus. Verändert das den Blick auf die Welt?

Das ist eine sehr schöne Überlegung. In Amerika gibt es das New-Frontier-Denken: Man musste immer weiter nach Westen vorstossen, als das nicht mehr möglich war, ging es in den Weltraum. Jetzt gibt es einen neuen Raum. War das die logische Weiterentwicklung? Durch den Blick vom Mond aus haben wir verstanden, dass wir alle auf einem Planeten zusammengedrängt sind, unterschiedslos, ein bisschen verloren. Eine Analogie hat sich durch die Simulationstheorie ergeben, populär geworden durch den Film Matrix: Wir können nicht nur selbst Simulationen erzeugen, sondern wir könnten auch selbst in einer leben. Wie real ist die Welt, die ich sehe? Damit steht noch mehr auf dem Spiel: Was ist für uns noch wirklich? Gibt es eine höhere Wirklichkeit?

«Virtuelle Orte, stehen nicht in Verdrängungskonkurrenz zu physischen Orten. Das sind einfach Alternativen.»

Diese Fragen haben Ungewissheiten eröffnet.

Ja. Ich fände es spannend zu untersuchen, ob gewisse geisteswissenschaftliche Ströme mentale Kinder dieser Fragen sind. Wenn behauptet wird, es gäbe keine absolute Wahrheit mehr, alles sei relativ. In Simulationen könnte auch immer alles anders sein. Schon in der Antike gab es Theorien, die davon ausgingen, dass die Welt etwas Geschaffenes ist. Dabei brauchte es jemanden, der sie schafft. Wenn wir in einer Simulation leben, muss ja jemand die Simulation erschaffen haben. Das ist die Frage nach Gott. Eine neue religiöse Vorstellung macht sich breit.

Zurück zum Konkreten: Hat der Raum das Dreidimensionale verloren?

Ja, das ist schwierig in traditionellen Kategorien zu erfassen. Wir sitzen am Bildschirm, und dahinter eröffnet sich eine ganze Welt, die aber keinen physischen Platz braucht. Die Computer sind ganz klein, aber wir können quasi unendlich neuen Raum erzeugen. Das ist so ungreifbar. Obwohl natürlich die Darstellungen den drei Dimensionen folgen, sonst könnten wir sie nicht verstehen.

«Die virtuelle Landschaft oder die Webseite des E-Banking – auch virtuell kann ein Ort kuschelig sein oder steril.»

Räume, die keinen Platz brauchen …

Obwohl: Alle virtuellen Räume werden in Geräten erzeugt, und die Rechenzentren brauchen viel Platz. Es braucht Menschen, die diese Maschinen physisch bauen und warten und reparieren.

Bis jetzt gingen wir via Bildschirm in andere Räume. Aber es geht auch umgekehrt: mit Techniken wie Augmented Reality. Oder Hologrammen.

Ich bin noch unsicher, mit welchem griffigen Konzept man das in den Blick bekommt. Ist es wirklich so ein grosser Unterschied, ob ich eine Projektion via Hologramm im Raum habe oder ob die Personen aus dem Fernseher sprechen? Und wenn wir mit der Smart-Brille, die uns Informationen einblendet, durch die Stadt gehen: Ist das so anders, als wenn ich mit der Karte unterwegs bin?

Raum und Ort: Was ist eigentlich der Unterschied?

Raum ist eine geometrische Kategorie: Länge, Breite, Höhe. Ort ist aber das, wo wir einen Platz haben. Wir sitzen beide in einem Dachzimmer, wie ich sehe. Sie könnten theoretisch beide die gleichen Ausdehnungen haben. Der Unterschied befindet sich auf der Ortsebene: Das eine ist Ihr Zuhause, das andere meines. Was einen Platz ausmacht, können wir nicht mit geometrischen Beschreibungen erklären. Die virtuelle Landschaft in einem Computerspiel oder die Webseite des E-Banking – auch virtuell kann ein Ort kuschelig sein oder steril.

«Im Computerspiel Minecraft könnte man alles machen, aber die Leute bauen Häuser. Irre.»

Eine Besonderheit des virtuellen Ortes ist, dass man ihn nicht berühren kann.

Für uns Menschen ist es wichtig, dass die Welt uns Widerstand gibt. Bei unserem Körper durch Hunger und Durst. Objekte wie mein Trinkglas haben ein Gewicht, an meinem Tisch kann ich mich stossen. Indem ich die Widerstände der Welt überwinde oder nicht überwinde, bewege ich mich darin. All das fehlt an virtuellen Orten. Man verwendet zwar teilweise haptisches Feedback etwa durch Vibrationen, aber das ist nicht das Gleiche. Meine Überzeugung ist: Elektronische Darstellungen, virtuelle Orte, stehen nicht in Verdrängungskonkurrenz zu physischen Orten. Das sind einfach Alternativen.

Welches ist Ihr liebster virtueller Ort?

Ich mag Computerspiele sehr gerne, besonders Minecraft. Man hat kein Ziel, kann tagelang geradeaus laufen zum Beispiel. Aber was die meisten Menschen tun: Sie bauen Häuser. Und richten sich ein. Dabei gibt es dafür überhaupt keine Notwendigkeit. Das hat mich sehr an Martin Heidegger erinnert, der das Wohnen als den ursprünglichen menschlichen Weltbezug bezeichnet hat. Wir Menschen sind in der Welt, indem wir sie bewohnen. Das reproduzieren wir in der virtuellen Welt. Man könnte alles machen, aber die Leute bauen Häuser. Irre.