Klonale Räuberameisen pflegen ihre Artgenossinen, wenn sie erkrankt sind. Das hat die Forschenden überrascht. | Foto: Martinho Girão Marques

Dicht gedrängt aufeinander zu leben birgt Risiken. Das wissen wir spätestens seit der Corona-Pandemie. Ein Paradebeispiel für enge soziale Kontakte in grossen Gruppen sind Ameisennester. Yuko Ulrich, frühere Assistenzprofessorin an der ETH Zürich und heute Gruppenleiterin am Max-Planck-Institut in Jena, untersucht die Dynamik von Infektionen in Ameisenkolonien.

Ihr Modell ist die Klonale Räuberameise Ooceraea biroi, die ursprünglich aus Asien stammt. Das Spezielle bei dieser Art: Es gibt keine Königin. Die Kolonie besteht ausschliesslich aus Arbeiterinnen, die alle am selben Tag unbefruchtete Eier ablegen, aus denen die nächste Generation schlüpft. Weil die Kolonien nicht gross sein müssen, um zu funktionieren, kann Ulrich sie in Petrischalen halten. Jede Ameise trägt einen Farbcode auf dem Rücken. Kameras und eine Software verfolgen die Wege jedes einzelnen Insektes.

«Wir hätten eher damit gerechnet, dass kranke Tiere isoliert werden.»Yuko Ulrich

Mit ihrem Team untersucht Ulrich, wie Ameisen erkennen, ob eine Artgenossin krank ist  – und wie sie darauf reagieren. Dazu infizierten sie manche von ihnen mit Pilzsporen. Die Artgenossinnen erkannten die erkrankten Tiere sofort und kümmerten sich um sie. Sie entfernten die Pilzsporen, was die Überlebenswahrscheinlichkeit deutlich steigerte. «Dass sich die gesunden Ameisen derart um ihre erkrankten Nestkolleginnen kümmerten, hat uns etwas überrascht», sagt Ulrich. «Wir hätten eher damit gerechnet, dass kranke Tiere isoliert werden.»

Bekannt sind bei Ameisen beide Strategien: Pflege und Isolation. Diese würden einander nicht unbedingt ausschliessen, sagt Nathalie Stroeymeyt, die in Lausanne und Freiburg zu Epidemien in Ameisenkolonien forschte und jetzt an der Universität Bristol ist. «In der Anfangsphase einer Epidemie können sich infizierte Individuen selbst isolieren, indem sie mehr Zeit ausserhalb des Nests verbringen, während sie gleichzeitig von den Nestgenossen verstärkt gepflegt werden», sagt sie. Eine Studie mit einer infizierten Brut habe gar gezeigt, dass Ameisen von einer Pflege- zu einer Tötungsstrategie übergehen, sobald der Infektionsgrad zu hoch wird.

Kranke Tiere riechen anders

Sowohl das Pflegen als auch die Isolation hätten Vor- und Nachteile, ergänzt Ulrich. Wer eine kranke Nestgenossin pflegt, setzt sich einem Infektionsrisiko aus. Wahrscheinlich aber sei dieses Risiko im Fall der Pilzinfektion überschaubar. Mit einem anderen Parasiten könnte dies aber anders aussehen: Ulrich plant deshalb, die Reaktion der Kolonien auf viele unterschiedliche Pathogene zu untersuchen – unter anderem Fadenwürmer und Viren. «Wir gehen davon aus, dass Ameisen abwägen, wann welche Strategie sinnvoller ist – zum Beispiel aufgrund der Gefahr, die von einem Parasiten ausgeht.»

Eine offene Frage bleibt, wie kranke Tiere erkannt werden. «Die Pilzsporen konnten die Ameisen wohl riechen», sagt Ulrich. «Aber wir wollten wissen, ob sie auch einen vom Wirt produzierten Krankheitsgeruch wahrnehmen.» Dazu injizierten sie und ihr Team Ameisen einen Wirkstoff, der eine Entzündungsreaktion im Körper hervorruft. So lässt sich eine Infektion simulieren, ohne dass ein Tier wirklich ansteckend ist.

«Es gibt theoretische Voraussagen, wonach Erreger sich langsamer in sozialen Netzwerken ausbreiten, die aus verschiedenen Kasten bestehen.»Yuko Ulrich

Auch ohne Erreger wurden die Ameisen mit dem Wirkstoff erkannt und erhielten Körperpflege. Ulrichs Vermutung, dass die Ameisen via eine Art Geruchsmoleküle auf der Ameisenhaut Krankheit erkennen, wurde in ihrer Studie also nicht bestätigt. Es gebe viele andere mögliche Erkennungsmerkmale, sagt Ulrich. Etwa flüchtige Duftstoffe oder schlicht das Verhalten. So wie wir Menschen oft intuitiv erkennen, wenn sich eine Person krankheitshalber langsamer oder anders bewegt.

An Ameisen, sagt Ulrich, könne man mathematische Modelle testen, die auch für Epidemien beim Menschen benutzt würden. «Es gibt zum Beispiel theoretische Voraussagen, wonach Erreger sich langsamer in sozialen Netzwerken ausbreiten, die aus verschiedenen Kasten bestehen, die für bestimmte Aufgaben zuständig sind.» Ansonsten, sagt die Forscherin, sei sie aber vorsichtig damit, von ihren Studien auf menschliche Seuchen zu schliessen. «Dafür gibt es zu viele Unterschiede zwischen Ameisen und Menschen.»