Freude an Skandalen - Martin Bürgin analysiert Filme, die Empörung auslösten. Und er diskutiert diese als Kurator einer mehrjährigen Filmreihe auch mit dem breiten Publikum. | Foto: Fabian Hugo, aufgenommen im Kino Rex Bern

Martin Bürgin, wieso hat der Netflix-Film Don’t look up so viel Echo bekommen?

Weil er medial heiss diskutierte Themen aufnimmt: Ein Komet, den manche nicht sehen wollen als Metapher für das Leugnen der Klimaerwärmung, politischer Populismus, die verschiedenen Lager, die einander nicht zuhören. Zudem versammelt er ein grosses Staraufgebot. Das macht ihn für die Medien spannend.

Ohne Meryl Streep, Leonardo Di Caprio und Co. wäre der Film nicht so erfolgreich gewesen?

Es stellt sich tatsächlich die Frage, ob wir in zwanzig Jahren noch von Don’t look up sprechen werden. Es gibt andere Filme, die Klimathemen erfolgreicher adressieren.

Bleiben wir kurz bei Don’t look up: Kann ein Film die Leute erziehen?

(Lacht.) Die erzieherische Funktion des Kinos: der Traum aller aktivistischen Filmschaffenden und Propagandaabteilungen. Letztlich bleibt das aber eine schwierig zu beantwortende Frage. Was sich feststellen lässt: Ab den Achtzigerjahren häufen sich Filme zur Umweltzerstörung durch den Menschen wie Klimaerwärmung, Waldabholzung oder eine Welt nach Atomkriegen. Hier ist tatsächlich oft eine erzieherische Funktion intendiert. Es wird mit Ängsten gespielt, in der Hoffnung, das Publikum zur Nachhaltigkeit zu bewegen.

Riecher für Skandale
Martin Bürgin ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der theologischen Fakultät der Universität Bern. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören unter anderem Filmgeschichte, Erinnerungskulturen und Religionskonflikte. Seine jüngsten Publikationen analysieren Skandalisierungsmomente in Politik und Gesellschaft. Seit 2015 kuratiert er die Filmreihe «Royalscandalcinema » in Baden.

Von welchen Filmen sprechen Sie?

Denken wir etwa an The Day After oder Blockbuster wie Waterworld und Avatar, aber auch an kleinere Produktionen wie Tank Girl oder Animationsfilme wie Nausicaä aus dem Tal der Winde und Prinzessin Mononoke.

Waterworld von Kevin Costner? Da fehlt der Tiefgang ein wenig.

(Lacht.) Das ist ein guter Punkt. Actionreiche Blockbuster erreichen allerdings ein grosses Publikum. Vielleicht auch eines, das nicht unbedingt affin für Umweltpolitik ist. Waterworld beginnt damit, dass die Eiskappen geschmolzen sind und die Erde zu grossen Teilen überflutet ist. Die Menschen leben auf gebastelten Inseln und sind auf der Suche nach fruchtbarem Boden. Das Bild der Erde, die nur aus Wasser besteht, prägt sich ein.

Wie prägen sich kleine Produktionen ein?

Aus der gleichen Zeit stammt Tank Girl. Ein Film über eine Punkerin, die in einem Panzer lebt und gegen die grossen Konzerne ankämpft. Anders als bei Waterworld führt die Klimaerwärmung hier dazu, dass die Erde zur Wüste wird. Zwei unterschiedliche Szenarien, welche die Folgen der Klimaerwärmung illustrieren, beide 1995 gedreht. Bei Tank Girl geht es zudem um sogenannten Raubtierkapitalismus und Globalisierung. Ein typischer Diskurs der Neunzigerjahre: Regierungen, die an Macht verlieren, und die grossen Firmen, die die Welt beherrschen.

«Wir meinen zu wissen, wie ein Atomkrieg aussieht, auch wenn wir ihn nie gesehen haben.»

Diese Filme spiegeln gesellschaftliche Ängste. Können sie diese verstärken?

Ich bin nicht sicher. Film als Medium kann aber Debatten verändern, indem er technische und politische Diskussionen in Geschichten verwandelt, in Bildern, Tönen und eingängigen Dialogen inszeniert. Diese werden dann von der breiten Öffentlichkeit aufgegriffen. Ein Film hat vor allem das Potenzial, ikonische Bilder zu produzieren.

Ein Beispiel?

Die Atompilze über dem friedlichen Kansas in The Day After, der Blitz nach dem Zünden der Atombombe, die Feuerwalze, der nukleare Niederschlag, der sich über alles legt. Das sind gewaltige Bilder, die sich in die Erinnerung des Publikums einbrannten und Teil des kollektiven Gedächtnisses wurden. Hier sehe ich die grosse Kraft des Kinos. Wir meinen zu wissen, wie ein Atomkrieg aussieht, auch wenn wir ihn nie gesehen haben.

Und aus dem aktuellen Filmschaffen?

In der Ära Donald Trump ist die Serie The Handmaid’s Tale gedreht worden: Eine Dystopie, die eine patriarchale, totalitäre und christlich-fundamentalistische Gesellschaft entwirft, in der Fruchtbarkeit zu einem seltenen Gut wurde. Gebärfähige Frauen werden wie Sexsklavinnen gehalten. Bei Protesten gegen den Präsidenten haben sich Aktivistinnen als solche verkleidet, insbesondere als Brett Kavanaugh Richter am Supreme Court werden sollte, ein Evangelikaler, gegen den Vorwürfe wegen sexueller Nötigung erhoben wurden. Indem die Aktivistinnen in den ikonischen Kleidern der Handmaids protestierten, verknüpften sie Kavanaugh imagologisch mit dem patriarchalen und theokratischen Herrschaftssystem der Serie.

«Themen werden enttabuisiert, indem sie öffentlich verhandelt werden.»

Manche Filme ernten regelrechte Entrüstungsstürme. So etwa Kids im Jahr 1995. Es gab Sexszenen zwischen Minderjährigen. Ein typisches Setting für einen Skandal?

Minderjährigensex im Kino birgt sicher Skandalpotenzial. Gegen Kids wurde der Vorwurf laut, es sei ein voyeuristischer Film mit pornografischen und pädophilen Zügen. Wichtig ist dabei auch, dass er von Disney produziert wurde, einer Produktionsfirma, die sich um ein familienfreundliches Image bemüht. Sein gesellschaftspolitischer Wert liegt aber in der Art und Weise, wie er die HIV-Debatte prägte, sie kompromisslos inszenierte, in der Sprache der Jugendlichen, mit Handkamera und Laienschauspielern. Das alles vermittelt Authentizität. Gerade deshalb wurde er zum Erfolg. Auch ein ikonischer Film.

Können solche Filme Tabus aufbrechen?

Ja, sicher. Indem sie eben Debatten anreissen oder intensivieren. Themen werden schliesslich enttabuisiert, indem sie öffentlich verhandelt werden. Aber: Das ist kein linearer Prozess. Überwunden geglaubte Tabus können auch wieder zurückkehren. Zudem gelten in unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen verschiedene Ansichten darüber, was tabu sein soll und was nicht.

Wegen The Last Temptation of Christ von 1988 gingen solche Gruppen aufeinander los. Es gab gar Attacken auf Kinos.

Martin Scorsese zeigte einen Jesus, der voller Selbstzweifel ist, aber auch Träume und Begehren hat. Einen sehr menschlichen Jesus also. In einer Traumsequenz wird gezeigt, wie er Geschlechtsverkehr mit Maria Magdalena hat. Das war für viele Gläubige dann allzu menschlich – und hat rund um den Globus zu gewaltigen Protesten geführt. Diverse Staaten liessen den Film zensieren. Gleichzeitig begrüssten progressive Theologinnen das darin gezeigte Jesusbild. Es ging im Wesentlichen um zwei Fragen: Wie wird Jesus gedacht? Und was sind die Grenzen des Zeigbaren?

«Der Filmzensur sind bei Streamingdiensten wie Netflix Grenzen gesetzt. Das Publikum kann diese Filme im privaten Raum ohne soziale Kontrolle konsumieren.»

Die Wikipedia-Skandalfilmliste nennt als jüngsten Film Antichrist von 2009. Sind wir nicht mehr zu erschüttern?

(Lacht.) Im westlichen Filmschaffen verhält es sich momentan tatsächlich eher ruhig.

Und jenseits der westlichen Welt?

Da ist es anders. Dieses Jahr hat etwa die Netflix- Produktion Perfect Strangers in Ägypten für Furore gesorgt. Ein an sich harmloser Film. Eine befreundete Gruppe beschliesst für einen Abend, die Handynachrichten offenzulegen. Es geht um Sex, auch um Homosexualität. Das hat für Empörung gesorgt: vom Shitstorm über Gerichtsklagen hin zu Parlamentsabgeordneten, die gegen Netflix schiessen.

Bricht hier eine neue Ära an?

Mit Netflix und anderen Streamingdiensten verändert sich tatsächlich der Zugang zu Filmen. Der Filmzensur sind, anders als im Kino oder im staatlich kontrollierten Fernsehen, Grenzen gesetzt. Das Publikum kann diese Filme im privaten Raum ohne soziale Kontrolle konsumieren. So können die Streamingdienste neue Märkte anvisieren. Mit Erfolg. Perfect Strangers war im Januar der meistgesehene Netflix-Film in Ägypten. Man sieht daran auch: Skandale generieren Publikum. Vor allem aber kommt es zu einer Globalisierung von Skandalisierungsprozessen. Das finde ich spannend.

«Indem wir rassistsische Filme wie Jud Süss dekonstruieren, brechen wir ihre vermeintliche Aura.»

Sie kuratieren eine über mehrere Jahre dauernde Filmreihe mit Skandalfilmen im aargauischen Baden. Warum?

Ich finde es reizvoll, Wissenschaft in einem kulturellen Setting zu vermitteln. Durch die Skandalisierungsprozesse lässt sich gut nachvollziehbar aufzeigen, wie verschiedene soziale Gruppen mit unterschiedlichen Weltbildern aufeinanderprallen. Manchmal in hoch emotionaler Form, wie etwa bei Kids oder The Last Temptation of Christ.

Sie zeigen auch rassistische Filme.

Das stimmt. Doch wir debattieren die Filme. Jud Süss etwa war eine der grossen Propagandakisten der Nazis und dramaturgisch geschickt inszeniert. Ein befreundeter Historiker meinte, man dürfe ihn nicht öffentlich zeigen. Ich sehe das anders. Indem wir solche Filme dekonstruieren, brechen wir ihre vermeintliche Aura. Gefährlich ist es eher, Jud Süss so zu behandeln, als hätte er die Macht, von sich aus Menschen umzupolen und zu Antisemiten zu machen. Ich würde dagegenhalten, dass wir diese Aura erst schaffen, wenn wir darauf verzichten, den Film einer Kritik zu unterziehen. Hier glaube ich an die aufklärerische Kraft der Wissenschaft.