Jede Fruchtfliege ist anders: Eine Variante des Couch-Potato-Gens sorgt für Vorteile in harten Wintern. | Foto: IRD/Vectopole Sud/Patrick Landmann/Science Photo Library

«Banane, Hefe und vielleicht ein Schluck Bier», so beschreibt Martin Kapun die ideale Mischung, um Fruchtfliegen in eine PET-Flasche zu locken. Mit solch einfachen Fallen waren Biologen wie er im Sommer 2014 in ganz Europa unterwegs, um Proben für ein gemeinsames Forschungsprojekt zu sammeln. Das Ziel: herausfinden, wie sich eine Art ausbreitet – und wie sie es schafft, sich an die verschiedensten Klimabedingungen anzupassen.

Im Westen anders als im Osten

Die Fruchtfliege Drosophila melanogaster, meist als lästiger Gast in der Küche bekannt, ist für diese Fragestellung das ideale Untersuchungsobjekt. Sie ist ein wohl bekannter Modellorganismus der biologischen Forschung und hat eine spannende Migrationsgeschichte: Ursprünglich in Afrika beheimatet, verbreitete sie sich vor etwa 10 000 Jahren nach und nach zunächst in Europa und Asien, dann in Amerika und Australien. Wahrscheinlich folgte sie damit – zeitlich versetzt – dem Menschen, als dieser mit der Kultivierung von Obst begann.

«Das Genom der Fliege ist wie ein Buch, in dem die Geschichte ihrer Migration und Evolution aufgezeichnet ist», sagt Kapun, Evolutionsbiologe an der Universität Zürich, Mitgründer und einer der Koordinatoren des Dros-EU-Konsortiums (siehe Kasten rechts oben). Um dieses Buch zu verstehen, haben die Mitglieder des Konsortiums das Erbgut von Fliegen in insgesamt 48 europäischen Populationen – von Portugal bis zur Ukraine, von der Türkei bis nach Finnland – sequenziert. Danach haben sie nach genetischen Unterschieden gesucht, die zeigen, wie sich das Erbgut der Fliegen verändert und angepasst hat.

«Das Genom der Fliege ist wie ein Buch, in dem die Geschichte ihrer Migration und Evolution aufgezeichnet ist»Martin Kapun

Die Analyse ergab, dass sich die Populationen besonders zwischen dem Westen und dem Osten von Europa genetisch unterschei«Diese Trennung entlang des Längengrads hat uns überrascht, eigentlich hätten wir dies eher von Süden nach Norden erwartet », sagt Kapun. Ein Abgleich mit Klimadaten ergab eine klare Korrelation zwischen der Ausprägung der saisonalen Klimaschwankungen und den genetischen Unterschieden: Die Forschenden vermuten deshalb, dass sich die Fliege sowohl an das gemässigte, vom Golfstrom geprägte, ozeanische Klima im Westen als auch an das kontinentale Klima mit seinen Extremen im östlichen Europa angepasst hat. Eine alternative Erklärung für die heutigen genetischen Unterschiede könnte auch die Art der Neubesiedlung nach der letzten Eiszeit sein – aus zwei lang voneinander isolierten Refugien auf der Iberischen Halbinsel und im Nahen Osten.

Welche dieser evolutionären Veränderungen im Laufe der Migration im Erbgut der Fliege stattgefunden haben, lässt sich durch Computeranalysen herausfinden: «Die Theorie dafür ist schon länger etabliert», sagt der Populationsgenetiker und Bioinformatiker Laurent Excoffier von der Universität Bern. «Angesichts der nun zur Verfügung stehenden grossen Datensätze muss sie aber weiter verfeinert werden.» Die Herausforderung dabei sei es, zu unterscheiden, welche der genetischen Unterschiede tatsächlich eine Anpassung durch natürliche Selektion darstellen und welche auf anderen Mechanismen beruhen – etwa weil eine ganz kleine Population ein neues Gebiet besiedelt, die wenig genetische Vielfalt hat.

In der Kälte lieber bequemer

Grundsätzlich sind in einer Population immer mehrere Varianten eines Gens vorhanden. Wenn eine dieser Varianten jedoch plötzlich einen Vorteil verschafft, zum Beispiel für das Überleben bei kalten Temperaturen, so verdrängt sie nach und nach die anderen Varianten – sie wird positiv selektioniert.

Mit Hilfe von statistischen Methoden haben Kapun und sein Team zahlreiche solcher positiv selektionierter Varianten identifiziert. Eine Variante des sogenannten Couch-Potato-Gens bewirkt vermutlich, dass die Fliegen bei der Fortpflanzung eine Winterpause einlegen – eine Eigenschaft, die im heimischen Afrika keine grosse Rolle spielte, für ein Fliegenleben in Russland jedoch überlebenswichtig ist. Bei anderen identifizierten Genen ist noch kein klarer Zusammenhang mit dem Klima ersichtlich. Hier ist noch mehr Forschung nötig. «Das sind ganz spannende Fragen», sagt die Ökologieprofessorin Cleo Bertelsmeier von der Universität Lausanne über das Projekt, «in welchem Umfang können sich Arten an ihre Umwelt anpassen?» Sie selbst erforscht, wie es invasive Arten schaffen, sich in neuen Lebensräumen zu etablieren. «Bisher weiss man beispielsweise nicht, ob und wie schnell sich durch den Obsthandel verschleppte Insekten an ein neues Klima anpassen können.» Doch es sei sehr wichtig, das genauer zu verstehen.

Forschen im ganz grossen Team
Das Dros-EU-Konsortium umfasst derzeit 61 Forschungsgruppen aus 29 Ländern – eine in diesem Jahr erschienene Publikation weist 45 Autoren aus. Keine einfache Aufgabe, immer alle unter einen Hut zu bringen, sagt Martin Kapun. Ein Kriterienkatalog legt fest, wer als Mitautor genannt wird, und alle müssen mit dem Text einverstanden sein. Auch die allgemeine Koordination des Projekts kostet Zeit und braucht gute Management-Fähigkeiten. Der Aufwand lohne sich aber auf jeden Fall. Eine Forschungsgruppe allein hätte diese europaweite Analyse niemals durchführen können. Ausserdem bilden sich wertvolle Netzwerke für den Austausch von Wissen und neue Kollaborationen. Auch deshalb arbeitet Dros EU mit einem ähnlichen Konsortium in Nordamerika zusammen und wird nun nach Südamerika und Australien ausgeweitet.

So gibt es beispielsweise Insekten, die ganze Ernten vernichten können – wie etwa die ebenfalls aus Afrika stammende Mittelmeerfruchtfliege, die in den letzten Jahren in die Schweiz vorgedrungen ist und im Raum Zürich schon Apfelbäume befallen hat. Erkenntnisse über die Evolution könnten dabei helfen, die Gefahr durch die Verschleppung solcher Schädlinge besser abzuschätzen und richtige Massnahmen zu ergreifen. Andere invasive Insektenarten könnten auch für Menschen gefährlich werden – etwa die Asiatische Tigermücke, die Gelbfieber übertragen kann. Und noch einen anderen Punkt findet Bertelsmeier interessant: «Eine ganz grosse und bisher nicht geklärte Frage ist, was mit unseren heimischen Arten passiert, wenn die Temperaturen durch den Klimawandel plötzlich um zwei Grad ansteigen.»

«Für solche Fragen ist es sicher besser, die Evolution im Freiland zu studieren als im Labor », sagt Excoffier. Laborexperimente seien nicht repräsentativ, da es möglicherweise Inzucht und Anpassungen an die Haltung im Labor gibt. «Jetzt haben wir die Möglichkeit, das gesamte Genom von Populationen im Freiland anzuschauen und genau festzustellen, wo Evolution stattfindet und welche Gene und Stoffwechselprozesse dabei involviert sind.»

«Eine bisher nicht geklärte Frage ist, was mit unseren heimischen Arten passiert, wenn die Temperaturen durch den Klimawandel plötzlich um zwei Grad ansteigen.»Cleo Bertelsmeier

Die Datensätze liefern dabei nicht nur Informationen über die Fliegenevolution: Quasi als Beifang haben die Forschenden auch das Mikrobiom der Fliegen mitsequenziert – Bakterien, Pilze und Viren. In deren Erbgut haben die Forschenden ebenfalls schon Unterschiede gefunden, die mit dem Klima korrelieren. Nun soll untersucht werden, ob diese Untermieter ihren Wirten bei der Anpassung an neue Lebensräume behilflich sind.