Hinter verschlossenen Türen: Die Schweiz hat keine unabhängige Kontrollinstanz für Forschung. | Foto: Westend61 / Getty Images

Vom Plagiat über geschönte Literaturverzeichnisse bis zu manipulierten Daten: Der Kodex zur wissenschaftlichen Integrität, der 2021 von den Akademien der Wissenschaften Schweiz und ihren Forschungspartnern veröffentlicht wurde, hat dazu beigetragen, einen gemeinsamen Massstab zu etablieren beim Aufdecken von Betrug. Das Ausmass des Problems lässt sich aber nur schwer abschätzen. «Wir wissen nicht, ob das derzeitige System wirklich funktioniert, denn es fehlt ein Überblick zu dieser Problematik», erklärt Nadja Capus, Professorin für Strafrecht an der Universität Neuenburg und Präsidentin der Kommission für wissenschaftliche Integrität des Schweizerischen Nationalfonds (SNF). «Die Schweiz verfügt nicht über ein System zur systematischen Erkennung von Verdachtsfällen.»

Jedem Institut seine eigene Aufsicht

Zahlen liegen nur vereinzelt vor. Der SNF untersuchte im Jahr 2021 zum Beispiel 89 Fälle wegen Plagiatsverdachts und identifizierte dabei elf geringfügige Verstösse und zwei schwerwiegendere Fälle, die einen offiziellen Verweis nach sich zogen. Die ETH Zürich gibt an, seit 2015 drei Untersuchungen durchgeführt zu haben. Im Jahresbericht der Universität Genf werden sieben Sanktionen im Zusammenhang mit Arbeitskonflikten und Mobbing erwähnt, nicht aber Fälle von Fehlverhalten beim Publizieren.

«Man müsste die Zahlen zusammenführen, um einen Überblick zu erhalten», fährt Capus fort. «Dabei könnten auch interne Untersuchungen und Sanktionen einfliessen oder Artikel, die aufgrund von Diskussionen unter Fachpersonen zurückgezogen wurden.» Die Hochschulen haben damit begonnen, Integritätsfragen zu thematisieren, Richtlinien zu veröffentlichen und Schulungen anzubieten. Sie halten sich jedoch bei Fällen, die sie selbst betreffen, meistens bedeckt. Auffliegen tun solche Fälle durch direkte Hinweise oder stichprobenartige Kontrollen, wie sie etwa beim SNF für Plagiate vorgenommen werden. Eine wichtige Rolle spielt laut Brigitte Galliot, Vizerektorin der Universität Genf und zuständig für Forschung und Ethik, auch die Arbeit der Herausgeber wissenschaftlicher Zeitschriften und eigens dafür bestimmte Websites wie Pubpeer und Retraction Watch.

«Die Sozialwissenschaften haben eine andere Wahrnehmung der Normen als die experimentellen Wissenschaften.»Brigitte Galliot

In erster Linie ist jedoch der Arbeitgeber, also die Forschungseinrichtung, für das Vorgehen bei Verdachtsfällen verantwortlich. Der Forschungsförderer SNF stützt sich bei Sanktionen meist auf deren Untersuchungen und führt nicht zwingend eigene Nachforschungen durch. Eine Dezentralisierung lässt sich auch innerhalb der Hochschulen erkennen: In Genf hat jede Fakultät ihre eigene Integritätskommission, und in einigen Fakultäten sind Schulungen zu diesen Themen obligatorisch, in anderen aber nicht.

Warum werden die Standards nicht vereinheitlicht und die Bearbeitung solcher Fälle zentralisiert? «Die Probleme in den einzelnen Disziplinen sind nicht identisch, zum Beispiel beim Umgang mit Daten», erklärt Galliot. «Die Sozialwissenschaften haben eine andere Wahrnehmung der Normen als die experimentellen Wissenschaften.» Die Aufsicht über die wissenschaftliche Integrität verteilt sich in der Folge kompliziert auf nationale Akteure und Hochschulen, auf Bundes- und Kantonsrecht und auf die einzelnen Disziplinen.

Plattform geplant – und hinterfragt

Zur Vereinheitlichung des Verfahrens diskutieren die grossen Akteure der Schweizer Wissenschaftspolitik derzeit die Idee einer nationalen Plattform für Integritätsfragen. Die Ergebnisse sollen bis Ende 2023 vorliegen. «Wir empfehlen, dass das Mandat der Plattform darin bestehen soll, Forschende und Institutionen zu beraten, und nicht, Untersuchungen durchzuführen oder Sanktionen zu verhängen», erklärt Christina Baumann vom Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation SBFI und Leiterin der Arbeitsgruppe. «Für Untersuchungen und Disziplinarmassnahmen wären weiterhin die Hochschulen zuständig.»

Die Plattform könnte den Zugang zu Fachpersonen mit Erfahrung in solchen Verfahren erleichtern, Statistiken erstellen oder auch die Funktion einer Qualitätskontrolle zum Umgang der Institutionen mit solchen Fällen wahrnehmen», ergänzt Martina Weiss, Generalsekretärin von Swissuniversities. Die Plattform würde nicht dazu dienen, Hinweise auf Verstösse zu sammeln, sondern wür- de die Personen an ihre Institution verweisen. Ein ähnliches Modell hat Grossbritannien.

Zum Beispiel Schweden, USA und Grossbritannien
Schweden hat dem zuständigen Rat für die Beurteilung von Fehlverhalten in der Forschung weitreichende Befugnisse übertragen: Er führt Untersuchungen durch und verhängt Sanktionen. In den USA befasst sich das Office of Research Integrity seit 1992 mit Integritätsfragen bei Projekten, die vom Public Health Service finanziert werden. Es unterstützt Schulungen, insbesondere anhand von Fallstudien, überwacht die von Arbeitgebern durchgeführten Untersuchungen, formuliert zusätzliche Sanktionen und kommuniziert diese öffentlich. Das UK Research Integrity Office berät Institutionen und Forschende, ohne selbst an Untersuchungen mitzuwirken.

«Das ist ein Schritt in die richtige Richtung, aber ich persönlich denke, wir könnten noch weiter gehen», meint Nadja Capus. «Einen Verdacht auf Fehlverhalten zu melden, ist zu Beginn einer Karriere besonders schwierig, wenn man auf Kollegen, Empfehlungen und ein Netzwerk angewiesen ist.» Eine anonyme schweizweite Meldestelle könne diese Hürde senken. «Eine Untersuchung, die ausserhalb der Institution in Auftrag gegeben wird, würde den Ruf der Institutionen besser schützen, da sie glaubwürdiger wirkt als eine Entlastung durch den Arbeitgeber selber», ist die Forscherin überzeugt. «Ausserdem verfügen nicht alle kleineren Institutionen über das nötige Fachwissen zur Abklärung eines vermuteten Fehlverhaltens », und mit nur einer Handvoll Fälle pro Jahr können sie kaum Erfahrungen damit sammeln.

«Einen Verdacht auf Fehlverhalten zu melden, ist zu Beginn einer Karriere besonders schwierig.»Nadja Capus

Die derzeitige Gesetzgebung bietet dafür allerdings wenig Spielraum. Die Kantone bestimmen über Sanktionen gegen Mitarbeitende ihrer Hochschulen. Wer Informationen über den Verdacht auf ein Fehlverhalten weitergeben will, stösst auf rechtliche Hürden in den Kantonen. Allerdings ist einiges in Bewegung: Das Universitätsgesetz des Kantons Bern enthält neu detaillierte Bestimmungen zu Integritätsfragen, beispielsweise zum Informationsaustausch mit Forschungs- oder Finanzierungspartnern oder zu Disziplinarmassnahmen wie Geldstrafen.

Ob die Sanktionen abschreckend genug sind, bleibt fraglich. In der Schweiz erhielt ein Forscher 2021 einen Verweis, weil die Auflistungen der Autorinnen bei den angegebenen Publikationen zu einem Drittel Fehler zu seinen Gunsten enthielten. In den USA hatte die Manipulation von 24 Bildern, die in sieben Artikeln, einer Doktorarbeit und Finanzierungsgesuchen veröffentlicht wurden, lediglich zur Folge, dass die Forschung vier Jahre lang beaufsichtigt wurde.

Persönlichen Schaden nachweisen

Härtere Sanktionen erfordern häufig ein Gerichtsverfahren. Dies schafft eine finanzielle Hürde, da der Kläger im Fall eines Scheiterns die Kosten des Verfahrens tragen muss. Wenn man den Entscheid einer Hochschule, die eine Mitarbeiterin entlastet, anfechten will, muss der Nachweis eines persönlichen Schadens infolge des Betrugs erbracht werden. Dies hat das Waadtländer Kantonsgericht in einem Urteil vom Mai 2021 entschieden – und dürfte in der Forschung schwierig umzusetzen sein.

Interessant ist der Vergleich damit, wie in der Medizin mit Fehlverhalten umgegangen wird: Auch hier spielen die Kantone und die Justiz eine zentrale Rolle. Der Berufsverband der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH) kann einen Verweis aussprechen oder ein Mitglied ausschliessen. Das ist für die Betroffenen unangenehm, bedeutet jedoch kein Berufsverbot. Ein Ausschluss erfolge nur in schweren Fällen, in denen eine kantonale Behörde bereits die Zulassungsbewilligung entzogen hat, erklärt Yvonne Gilli, Präsidentin der FMH. Ein solcher Entzug wird vom Kanton nicht direkt kommuniziert und kommt in der Praxis nur nach Beschwerde durch eine Patientin vor.