Wirkt der neue, teurere Blutverdünner besser gegen Herzinfarkte? Lindert das Bewegungsprogramm die Nebenwirkungen der Krebsbehandlung? Ob eine gute Idee in der Praxis bestand hat, kann nur eine klinische Studie beantworten. Doch davon werden in der Schweiz immer weniger durchgeführt.

Sie startet.
Los mit einer Forschungsidee

Krebsforscherin A glaubt, ein Bewegungsprogramm könnte gegen Beschwerden bei Darmkrebs wirken. Dafür plant sie, von 500 Patienten, die in der Chemotherapie sind, die Hälfte zusätzlich in ein Sportprogramm zu schicken und die beiden Gruppen zu vergleichen.
Er profitiert und rückt ein Jahr vor.
Zusatzschub im Pandemiefall

Ein neues Virus verbreitet sich über die Kontinente. Der Nationale Wissenschaftsförderer lanciert eine Blitzausschreibung. Infektiologe B sieht die Gelegenheit, einen neuen Impfstoff zu testen. Wenn er es schafft in zwei Wochen das Studienprotokoll, den wissenschaftlichen Lebenslauf von zehn Mitarbeiterinnen, den Plan für das Datenmanagement und alle anderen Unterlagen zusammenzustellen, hat er gute Chancen, das nötige Geld zu erhalten.
Sie muss überarbeiten und fällt ein Jahr zurück.
Fördergesuch abgelehnt

Forscherin C möchte testen, ob Medikament X oder Y besser gegen chronischen Husten wirkt, indem sie dies nach Ablauf der Behandlung mittels Fragebogen bewertet. Der Forschungsförderer lehnt ihren Antrag ab: Die Methode sei unzuverlässig.
Er muss dies nachholen und fällt einen Monat zurück.
Registrierung vergessen

Plötzlich merkt Forscher D mit Schrecken, dass er seine Studie zur Prävention von Fieberbläschen noch nicht – wie gesetzlich vorgeschrieben – in einem dafür vorgesehenen Register eingetragen hat.
Er muss dies nachholen und fällt einen Monat zurück.
Frauen ausgeschlossen

Kardiologin E sucht eine bessere Gefässstützen zur Behandlung von Herzinfarkten. Die Patienten müssen ihr Einverständnis geben, dass ihnen zufällig ausgewählt die Gefässstütze X oder Y implantiert wird. Eine Ethikkommission schliesst jedoch Schwangere aus. Im Stressfall Herzinfarkt kann aber kein Schwangerschaftstest gemacht werden. Die Kardiologin entscheidet kurzum: Frauen werden in der Studie nicht berücksichtigt.
Er muss neu verpacken und fällt einen Monat zurück.
Medikamente abfüllen und markieren

Neurologe F möchte zwei bekannte Schmerzmittel miteinander vergleichen, um herauszufinden, welches zu weniger Nebenwirkungen führt. Obwohl beide Medikamente bereits in Anwendung sind, verlangt die Heilmittelbehörde für die Studie eine spezielle Verpackung, ohne Markennahmen und mit speziellen Warnhinweisen.
Sie spart komplexe Verhandlungen und rückt sechs Monate vor.
Versicherung deckt Studie ab

Die Studie der Psychiaterin G zur Behandlung von Angststörungen mit LSD birgt gewisse Risiken. Zum Glück hat ihr Universitätsspital eine zentrale Versicherung.
Ein Besuch vor Ort ist nötig und er fällt einen Monat zurück.
Kollege möchte Ehrenautor werden

Für seine Studie zur neuen Behandlung einer chronischen Darmentzündung braucht Internist H sehr viele Patientinnen und ist auf die Mithilfe anderer Spitäler angewiesen. Der Leiter eines wichtigen Studienzentrums möchte für seine Teilnahme aber Co-Autor der Studie werden. Es braucht ein persönliches Gespräch, um die adäquate Ehrung zu regeln.
Er bricht die Studie ab und muss zurück auf Start.
Zu wenig Patientinnen rekrutiert

Zwei Jahre nach Beginn der Studie über verschiedenen Diäten als Therapiehilfe bei Multipler Sklerose ist Ernährungsmediziner I am Ende. Zu wenige Patienten nehmen teil, zu viele steigen wieder aus. Er beendet den Vergleich, und die bereits erhobenen Daten verschwinden in der Schublade.
Das Marketing kann beginnen, die Firma rückt sechs Monate vor.
Schnelle Zulassung bei seltener Krankheit

Mukoviszidose ist eine seltene Krankheit. Um die Entwicklung von Medikamenten gegen die Probleme mit der Lunge zu fördern, profitiert die Pharmafirma J von einem beschleunigten Zulassungsverfahren.
Sie sucht eine andere Fachzeitschrift und fällt drei Monate zurück.
Neues Verfahren nützt nichts

Ein neues Verfahren hätte die Versorgung von Spendernieren mit Sauerstoff verbessern sollen. Die Studie der Chirurgin K konnte leider keine höheren Erfolgsraten zeigen. Die ausgewählte wissenschaftliche Zeitschrift ist daher nicht interessiert, die Studie zu publizieren.
Er feiert, geniesst und startet die nächste Studie.
Bessere Therapie gefunden

Das ging jetzt doch fix: Vier Jahre nach der Idee konnte die Studie von Infektiologe L über eine Verbesserung der Behandlung von Lungenentzündungen erfolgreich abgeschlossen werden. Sie wirkt gut und hat wenig Nebenwirkungen – zumindest bei jungen Männern. Ob auch Kinder, Frauen und Menschen mit mehreren Krankheiten profitieren, ist eine andere Frage.
Illustrationen: Alice Kolb

Gemäss der Heilmittelbehörde Swissmedic hat sich die Zahl hierzulande zwischen 2003 und 2018 von rund 350 auf unter 180 fast halbiert. «Mit ein Grund ist sicher auch das komplizierte regulatorische Umfeld», sagt Christiane Pauli-Magnus, Co-Leiterin des Departements Klinische Forschung an der Universität und dem Universitätsspital Basel. In der Schweiz muss jede Studie von mindestens einer von sieben Ethikkommissionen bewilligt werden – manche zusätzlich auch von Swissmedic.

Forschende beklagen die grosse Zahl verschiedener Ansprechpartner und das fehlende Augenmass bei den bürokratischen Vorgaben. Viele fordern, dass die Vorgaben flexibler an das jeweilige Risiko angepasst werden können, damit Studien weniger komplex, günstiger und auch offener für innovative Ansätze werden können.

«Ohne eine ein Vollzeitprojektmanager ist das Risiko zu scheitern extrem hoch.»Christiane Pauli-Magnus

Peter Kleist, Geschäftsführer der kantonalen Ethikkommission Zürich, glaubt hingegen nicht, dass die Bürokratie das Hauptproblem ist – nicht einmal die hiesige kantonale Kleinstruktur. Er selbst hat auch schon klinische Studien für die Pharmaindustrie durchgeführt und findet: «In der Schweiz geht es nicht bürokratischer zu und her als anderswo.» Problematisch seien vielmehr unzureichende Planung und mangelndes Qualitätsbewusstsein.

Kleist und Pauli-Magnus sind sich einig, dass den Clinical Trial Units (CTU) an den Schweizer Universitätspitälern eine wichtige Rolle zukommt. Sie beraten und unterstützen die Forschenden bei ihren Vorhaben. Um die Ethikkommissionen zu entlasten, könnte sich Kleist vorstellen, dass es für Forschende zur Pflicht wird, ihre Studie bei einer CTU zu akkreditieren. «Dazu müssten sie allerdings viel umfassendere Kompetenzen haben», so Kleist.

Die reine Zahl der Studien steht für Pauli-Magnus, die auch die Basler CTU leitet und die Swiss Clinical Trial Organisation präsidiert, jedoch nicht im Vordergrund: «Wir brauchen vor allem mehr randomisierte, kontrollierte Studien.» Damit meint sie Studien, bei denen Patienten zufällig einer von zwei Gruppen mit unterschiedlicher Behandlung zugeteilt werden.

«Der Organisationsaufwand randomisierte Studien ist hoch. Deshalb getrauen sich nur ganz wenige daran», sagt Pauli-Magnus. Sie können nicht neben dem klinischen Alltag bewältigt werden. «Ohne eine ein Vollzeitprojektmanager ist das Risiko zu scheitern extrem hoch.» Die grösste Hürde dabei ist, genug Patientinnen zu gewinnen. «Etwa ein Drittel der randomisierten Studien wird abgebrochen, ein Grossteil wegen schlechter Rekrutierung», so Pauli-Magnus.

Wie schwierig es ist, eine gute Studie auf die Beine zu stellen, zeigt das Programm für Investigator Initiated Clinical Trials des Schweizerischen Nationalfonds. Nur drei von 18 Projektanträgen erfüllten die strengen Kriterien und wurden 2019 gefördert. So konnten die klinischen Forschenden nur gut ein Drittel der zur Verfügung stehenden zehn Millionen Franken abholen.

«Für junge Ärztinnen ist es oft schwierig, Zeit für die Forschung zu finden.»Pierre-Yves Bochud

In der Schweiz sind Patienten von der guten medizinischen Versorgung verwöhnt. Um sie zum Mitmachen zu bewegen, sollten die Studien für sie relevanter werden. Pauli-Magnus plädiert deshalb dafür, Patientinnen schon in die Planung einer Studie miteinzubeziehen. Ihnen mag zum Beispiel die die verbesserte Lebensqualität wichtiger sein als die gewonnene Lebenszeit.

Ein grosses Problem ist auch das akademische Anreizsystem an den Universitätskliniken: viel Leute arbeiten hart für wenige Fachartikel und das alles fast nebenbei. Pierre-Yves Bochud, Infektiologe am Universitätsspital Lausanne erklärt: «Für junge Ärzte ist es oft schwierig, Zeit für die Forschung zu finden.» Sie seien zu stark in den Behandlungsalltag eingespannt. «Sie sollten auf nachhaltige Weise für die Forschung reservierte Zeit erhalten, nicht ausschliesslich auf Projektbasis.»