Illustration: Chi Lui Wong

«Unser Ziel ist ein detailliertes, realistisches Computermodell des menschlichen Gehirns.» Diese Worte äusserte Henry Markram, EPFLNeurowissenschaftler, an einer TED-Konferenz im Jahr 2009. Markram stellte das Human Brain Project (HBP) vor – den ehrgeizigen Versuch, die Funktionsweise des menschlichen Gehirns in einem Supercomputer nachzubilden. Er versprach damit nicht nur tiefere Einblicke in das geheimnisvolle Organ, sondern auch neue Behandlungsmethoden für psychische Krankheiten, und stellte die Möglichkeit in Aussicht, Tierversuche überflüssig zu machen. Diese grandiose Vision hatte ganz praktische Folgen: Insgesamt sollte eine Milliarde Euro ins Forschungsprogramm fliessen. Die Mittel wurden Markram und Mitforschenden 2013 zugesprochen, als die Europäische Kommission das Projekt zum zehnjährigen Flagship-Programm kürte.

Nur ein anderes Projekt erhielt denselben Status: eine Initiative zur Nutzung des immensen technologischen Potenzials von Graphen. Das Material besteht aus einer Einzelschicht Kohlenstoffatome und besitzt eine ideale Kombination von Eigenschaften: Es ist fest, transparent, biegsam und leitet Strom und Wärme. Durch die Zusammenarbeit von Dutzenden Forschungsinstitutionen in ganz Europa sollten die beiden Flagships langfristige Ziele erreichen, die für nationale Programme ausser Reichweite wären.

Heute, fast ein Jahrzehnt später, laufen die beiden Megaprojekte bald im Zielhafen ein – so zumindest der Plan. Die Fahrten verliefen sehr unterschiedlich. Die Graphen-Initiative ist auf Kurs, allerdings wird der zugesprochene Betrag von einer Milliarde erst bis etwa 2027 voll investiert sein, womit sich die Laufzeit des Programms um mehrere Jahre verlängert. Das HBP dagegen hat abschliessend lediglich etwas über 600 Millionen Euro ausgegeben. Dies gemäss Angaben der jeweiligen Forschungsleitenden. Die unterschiedlichen Schicksale der beiden Programme werden von den Verwantwortlichen für die zwei kürzlich ausgewählten neuen Flagships zu Quanten- und Batterietechnologie aufmerksam verfolgt. Auch die betroffenen Forschungsgemeinschaften beobachten die Pionier-Flagships genau. Während die Graphen-Gemeinde von den Erkenntnissen begeistert ist, betrachten viele Forschende aus den Neurowissenschaften ausserhalb der Leitung des HBP dessen Ziele als nicht erfüllt. So ist etwa für Kevan Martin, ehemaliger Co-Direktor des Instituts für Neuroinformatik an der Universität und der ETH Zürich, «für alle offensichtlich», dass das Projekt gescheitert sei dabei, ein menschliches Gehirn zu simulieren.

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Illustration: Chi Lui WongHuman Brain Project

Ziel: Simulation des menschlichen Gehirns
Finanzierung: über 600 Millionen Euro, 2013–2023

Über 500 Forschende von rund 120 Hochschulen, Forschungsinstituten und Unternehmen sind an diesem Programm beteiligt. Es entstand aus dem Blue Brain Project, bei dem das Team von Henry Markram von der EPFL in Zusammenarbeit mit IBM versuchte, einen Teil der Hirnrinde von Ratten sehr detailliert zu modellieren. Durch die Erweiterung dieses Reverse- Engineering-Ansatzes sollte nach zehn Jahren die realistische Simulation des menschlichen Gehirns entstehen. Das ehrgeizige Ziel wurde jedoch recht schnell zurückgeschraubt. Zunächst bestand es – mehr oder weniger realistisch – noch darin, ein Modell allen verfügbaren Wissens über das Gehirn zu erstellen. Zum Schluss war es jedoch im Wesentlichen ein technologisches Projekt: der Aufbau einer Supercomputer-Infrastruktur für die Gehirnmodellierung, die der gesamten Neurowissenschaft zur Verfügung steht.
Illustration: Chi Lui WongGraphen Flagship

Ziel: Entwicklung von Anwendungen
Finanzierung: eine Milliarde Euro, 2013–2027

Rund 170 Gruppen von Hochschulen und Unternehmen aus 22 Ländern arbeiten daran, die aussergewöhnlichen Eigenschaften von Graphen, einem Material aus einer Einzelschicht Kohlenstoffatome, kommerziell nutzbar zu machen. Dabei sollte die Fragmentierung der europäischen Industrie überwunden werden – insbesondere das Fehlen von Geräteherstellern, die die Lücke zwischen Materialproduktion und Systemintegration schliessen. Von den 15 neuen Unternehmen, die bisher im Rahmen des Programms gegründet wurden, verwenden die meisten kleine Graphenflocken, die aus Grafit hergestellt werden. Drei davon produzieren das Material direkt durch eine chemische Abscheidung aus Gas auf eine Oberfläche. Ein Unternehmen entwickelt Elektroden zur Messung und Stimulation des Gehirns, die anderen beiden stellen empfindliche Fotodetektoren her – zur Unterscheidung verschiedener Kunststoffarten beim Recycling oder für selbstfahrende Autos.
Illustration: Chi Lui WongBattery 2030+

Ziel: Entwicklung leistungsfähiger, sicherer, erschwinglicher und nachhaltiger Batterien
Finanzierung: Mindestens 140 Millionen Euro, 2018–2026

Das Programm bringt Forschende aus Wissenschaft und Industrie zusammen, um zukunftsträchtige Batterien zu entwickeln und von Unternehmen in Europa produzieren zu lassen. Sie sollen unter anderem leistungsstark und langlebig sein. Dazu gehören auch die Entwicklung neuartiger Sensor- und Selbstheilungstechnologien sowie eine effizientere Herstellung und ein besseres Recycling. Offiziell ist Battery 2030 plus kein Flagship-Programm, sondern Teil der siebenjährigen Initiative European Battery Partnership, die von der Europäischen Kommission mit 930 Millionen Euro finanziert wird. Sie wurde 2018 ins Leben gerufen und verfügt derzeit über eher bescheidene 41 Millionen Euro, die bis 2023 reichen. Für die folgenden drei Jahre dürften dann jedoch fast 100 Millionen Euro mehr zur Verfügung stehen. Wie es nach 2026 weitergeht, bleibt abzuwarten.
Illustration: Chi Lui WongQuantum Flagship

Ziel: Aufbau einer wettbewerbsfähigen europäischen Quantenindustrie
Finanzierung: 7,5 Milliarden Euro, 2018–2028

Das Programm zielt auf die Kommerzialisierung von Technologien ab, die auf den Gesetzen der Quantenphysik beruhen, und wird über zehn Jahre rund 5000 Forschende unterstützen. Auf die erste Ausschreibung von 2016 bewarben sich 140 Konsortien, von denen 20 insgesamt 130 Millionen Euro erhalten haben. Darunter waren vier Projekte zur Entwicklung der Quantenkommunikation, zwei zum Bau von Computern basierend auf Quantenbits, zwei zur Entwicklung von Quantensimulatoren mit Atomen, die in von Lasern erzeugten und manipulierten Gittern gehalten werden. Weitere Projekte arbeiten an optischen Uhren, Sensoren und einem Zufallsgenerator. In der nächsten Runde werden über drei Jahre rund 150 Millionen Euro an Fördermitteln vergeben. Der Rest wird im Rahmen anderer Ausschreibungen auf europäischer und nationaler Ebene verteilt.

Das Flagship-Konzept wurde Ende 2009 von der Europäischen Kommission im Rahmen ihres Programms für künftige und neu entstehende Technologien (Future and Emerging Technologies, FET) ins Leben gerufen, das auf die Entwicklung neuartiger Informations- und Kommunikationstechnologien abzielt. Als 2013 die Gewinner bekannt gegeben wurden, erklärte die Kommission, dass sie jeweils die Hälfte der Milliarde Euro bereitstellen werde und die andere Hälfte von den nationalen Regierungen und der Wirtschaft beizusteuern sei. Es dauerte nicht lange, bis es Konflikte gab. Nur sieben Monate nach dem Start des HBP beschloss dessen damals dreiköpfiger Exekutivausschuss, die kognitiven und systemischen Neurowissenschaften aus dem Projekt zu streichen. Daraufhin richteten rund 150 Forschende ein Protestschreiben an die Europäische Kommission, worauf ein Mediationsverfahren unter der Leitung von Wolfgang Marquardt stattfand, dem Vorstandsvorsitzenden des Forschungszentrums Jülich in Deutschland. Ergebnis: Der dreiköpfige Ausschuss wurde aufgelöst und ersetzt durch die elf Leitenden der HBP-Teilprojekte.

Die aktuelle wissenschaftliche Leiterin des HBP, Katrin Amunts, ebenfalls aus Jülich, sieht die Entwicklung seither sehr positiv. Es seien Erkenntnisse gewonnen worden, die ohne das Projekt nicht möglich gewesen wären, unter anderem eine Arbeit, dank der die Hirnregion bestimmt werden könne, die bei einer Epilepsieoperation entfernt werden müsse. Das Programm biete den Forschenden über die Infrastruktur Ebrains zudem einen Online-Zugriff auf neurowissenschaftliche Datensätze, einen Gehirnatlas und Simulationswerkzeuge. Yves Frégnac vom französischen Forschungsschwerpunkt zu Neurowissenschaften sieht das anders und kritisiert, dass Ebrains weit entfernt sei von der versprochenen Datenbank als Herzstück des HBP. Die notwendigen, kuratierten und frei zugänglichen Daten der verschiedenen Detailebenen des Gehirns fehlten. Dies sei typisch für die «Ökonomie des Versprechens», mit der Markram das HBP anpries. Um einen Flagship- Wettbewerb zu gewinnen, «muss man vielleicht eine Mondlandung versprechen, selbst wenn diese nicht geplant ist».

Noch bestimmen die Produkte nicht den Alltag

Das Graphen-Flagship schaut auf eine ruhigere Reise zurück. Gemäss Programmleiter Jari Kinaret von der Chalmers University of Technology in Schweden resultierten aus dem Programm rund 150 Fachpublikationen und mehr als 13 Patentanmeldungen pro investierte zehn Millionen Euro – zehnmal mehr, als die Kommission gefordert hatte. Zwar habe es in vielen Fällen länger als erwartet gedauert, die Geräte aus den akademischen Labors auf den Markt zu bringen, doch 15 aus dem Programm hervorgegangene Unternehmen seien «durchaus beachtlich». Er weiss aber nicht, ob sie Gewinne erwirtschaftet haben. Kinarets Begeisterung wird von anderen geteilt, die beim Flagship mitwirken oder ihm nahestehen. Für Andre Geim von der Universität Manchester, der für seine Arbeiten über Graphen den Nobelpreis erhalten hat, haben die Forschungsergebnisse und die Unternehmensgründungen «alle vernünftigen Erwartungen übertroffen». Andrea Ferrari, Direktor des Cambridge Graphene Centre, bezeichnet die Initiative als «insgesamt durchschlagenden Erfolg», auch wenn der Papierkrieg manchmal frustrierend gewesen sei. Erfolg oder nicht, die Europäische Kommission war offenbar nicht bereit, das Experiment von 2009 zu wiederholen. Anstatt einen neuen Wettbewerb zu lancieren, gab sie bei den nächsten beiden Programmen – den Flagships «Quantum» und «Battery 2030 plus» – zuerst die Themenbereiche vor und veröffentlichte dann entsprechende Ausschreibungen.

Laut Tommaso Calarco, der das Quantum-Flagship mitkoordiniert, soll dieses dazu beitragen, den Rückstand zu China und den USA aufzuholen. Beide Länder können in dem Bereich wesentliche Fortschritte vorweisen: China hat eine 2000 Kilometer lange Quantenleitung gebaut und einen Quantenkommunikationssatelliten gestartet, während finanzstarke US-Hightech-Firmen, insbesondere Google, weiter an der Verbesserung von Prozessoren für Quantencomputer arbeiten. Calarco klagt, dass europäische Wissenschaftlerinnen zwar bahnbrechende Grundlagenforschung betreiben, aber nicht genug für die Vermarktung ihrer Ergebnisse tun. «Der europäischen Industrie fehlt es nicht an Visionen oder Mut», ist er überzeugt, «sondern schlicht am Geld.»

Zur Kompensation haben die Europäische Kommission und die nationalen Regierungen in letzter Zeit immer mehr Mittel in die Quantenforschung gepumpt. Laut Calarco dürften für das Flagship gegenüber dem ursprünglichen Budget von einer Milliarde – einschliesslich nationaler Ausschreibungen – nun über die zehnjährige Laufzeit satte 7,5 Milliarden Euro zur Verfügung stehen. Die Kommission hat ihren Anteil von einer halben Milliarde Euro vervierfacht, die nationalen Regierungen investieren insgesamt sogar zehnmal mehr.

Grossprojekte sollten sich spontan bilden

Während das Quantum-Flagship mit Geld geradezu überschüttet wird und das Graphen-Flagship seine Fahrt noch mindestens vier Jahre fortsetzen soll, gehen andere vorderhand leer aus: Sechs Bewerbungen für zwei oder drei weitere Förderinitiativen rechneten mit einer endgültigen Entscheidung im Jahr 2020, wurden aber von der Kommission darüber informiert, dass das neue Forschungsrahmenprogramm Horizon Europe von 2021 bis 2027 keinen Raum mehr für Flagships biete.

Gemäss Neurowissenschaftler Alexandre Pouget von der Universität Genf muss das kein Nachteil sein. Als lautstarker Kritiker des HBP vertritt er die Ansicht, dass sein Gebiet stärker von relativ kleinen, sich spontan aus den Forschendengruppen heraus bildenden Projekten profitieren würde als vom für Flagships typischen Top -down-Ansatz. Er arbeitet denn auch in einem internationalen 30-Millionen-Euro- Netzwerk aus 21 neurowissenschaftlichen Labors, die koordiniert zu einem Thema forschen. Dabei geht es um eine komplexe Entscheidungsaufgabe bei Mäusen. Das Ergebnis der Kooperation soll demnächst in Form einer Gehirnkarte veröffentlicht werden.

Pouget vertritt die Auffassung, dass die Neurowissenschaft vom Gemeinschaftssinn in der Physik lernen muss, was die kollaborative Entwicklung leistungsfähiger Instrumente angeht. Physikalische Grossanlagen seien zwar teuer, der Preis aber oft gerechtfertigt. So kostete der Ligo-Gravitationswellendetektor in den USA zwar rund eine Milliarde Euro, ohne ihn hätte die bisher lediglich vermutete Art von Strahlung jedoch nicht entdeckt werden können. Er würde deswegen eine unabhängige und transparente Prüfung des HBP begrüssen, um herauszufinden, ob sich die daraus resultierende Forschung wirklich gelohnt hat. «Bei einem derartigen Budget müssen auch die Ergebnisse spektakulär sein.»