Glaube und Wissen

Wer im Mittelalter durch den Rand des Himmels hätte kriechen und das geheimnisvolle Jenseits betrachten können, hätte einen Beleg für seinen Glauben gefunden. | Bild: Wikimedia

Wissenschaft bestätigt oder verwirft ihre Theorien und Thesen anhand von Beobachtungen, etwa aus Experimenten. Im Forschungsalltag und in der konkreten Anwendung von Forschung gelten die Regeln der Empirie und der Nachvollziehbarkeit. Doch was innerhalb der verschiedenen Disziplinen jeweils funktioniert, kann zur Glaubenssache werden. Von ausserhalb betrachtet, stehen manche Grundsätze, Theorien und Modelle auf wackligen Beinen. Horizonte nimmt eine Stichprobe in den Disziplinen, um zu verstehen, wo in der Wissenschaft der Glaube anfängt. Oder aufhört. Wo werden Dinge für wahr gehalten, ohne dass überprüfbare Gründe dafürsprechen?

PHYSIK: Stringtheorie soll vereinen

Die beiden Schweizer Nobelpreisträger Didier Queloz und Michel Mayor hatten 1995 den Exoplaneten 51 Pegasi b entdeckt und damit die damals gängige Theorie zur Planetenentstehung über den Haufen geworfen. Genau so sollen wissenschaftliche Theorien gemäss dem Philosophen Karl Popper falsifiziert werden können.

Doch nicht immer können Theorien der Physik überhaupt falsifiziert werden. Die Stringtheorie, ein physikalisches Modell, das alle bisher beobachteten Fundamentalkräfte vereinen soll, sei so spekulativ, dass sie nicht einmal als falsch ausgewiesen werden könne («not even wrong»), so die von Physiker Peter Woit geprägte Rede. Der Wissenschaftsjournalist John Horgan schreibt dazu in seinem Blog: «Im besten Fall ist die Physik das stärkste und präziseste aller Wissenschaftsgebiete, und doch übertrifft sie in ihrer Fähigkeit zum Blödsinn sogar die Psychologie.»

Wissenschaftsphilosoph Claus Beisbart geht nicht so weit, erklärt aber, dass andere Theorien wie etwa die der Schleifengravitation der Stringtheorie zuwiderliefen und dass nicht beide Ansätze richtig sein könnten. «Wenn jemand heute eine dieser Theorien für wahr hält, dann ist das sicher kein Wissen, sondern blosser Glaube.» Viele Forschende würden solche Theorien eher als Steckenpferd verfolgen. «Sie denken aber immerhin, dass ihr Ansatz eher weiterverfolgt werden sollte als ein anderer. Als Grund wird etwa angegeben, dass die Theorie besonders einfach ist. Oder grosse Schönheit besitzt.»

«Wenn jemand über Jahre mit demselben Modell arbeitet, beginnt er irgendwann daran zu glauben. Er nimmt die Daten nicht mehr neutral wahr.»Claus Beisbart

Um in der Forschung weiterzukommen, brauche es keinen Glauben, es genüge, Hypothesen weiterzuverfolgen. Beisbart verweist aber auf ein interessantes Phänomen: «Es ist psychologisch schwierig, eine Hypothese über Jahre als solche zu begreifen. Es besteht die Gefahr, dass sie doch zum Glauben wird. Untersuchungen zeigen: Wenn jemand über Jahre mit demselben Modell arbeitet, beginnt er irgendwann daran zu glauben. Er nimmt die Daten nicht mehr neutral wahr, sondern presst sie in das Modell.» Forschende laufen folglich überall Gefahr, zu Gläubigen ihrer eigenen Annahme zu werden.

Die Stringtheorie ist ein Versuch, eine Theorie von Allem («theory of everything») zu finden. Hat dieser Anspruch nicht einen religiösen Beigeschmack? Beisbart widerspricht: «Es ist nur das Wesen von Wissenschaft, dass sie verknüpft, systematisiert und nach Einheit sucht.» Gemäss Kant sei die Vereinheitlichung ein regulatives Ideal, das zwar nicht immer eingelöst werden könne, aber stets angestrebt werden solle. «Sie darf kein Glaubenssatz sein, sondern bloss ein Ziel.» Beisbart warnt zudem, es sei missverständlich, von religiösem Glauben zu sprechen, wenn Wissenschaftlerinnen an eine spekulative Theorie glaubten. Denn bei einem religiösen Glauben verlasse man sich auf ein höheres Wesen und richte seine Lebensführung danach aus. Dies sei in der Physik überhaupt nicht der Fall.

MATHEMATIK: unbeweisbare Grundlagen

Unter den frühneuzeitlichen europäischen Mathematikern gab es einige Vertreter, die sich mit dem Zusammenhang vom Glauben an ein höheres Wesen und Mathematik beschäftigten. So glaubte etwa der deutsche Mathematiker Georg Cantor im 19. Jahrhundert, seine Unendlichkeitstheorie biete Einsicht in das Göttliche.

Inzwischen drehen sich die Diskussionen um anderes, etwa darum, ob die vor rund hundert Jahren formulierten Axiome der Mengenlehre widerspruchsfrei sind oder nicht. Sie sind heute die Grundlage fast der gesamten Mathematik. Laut Roy Wagner, Professor für Geschichte und Philosophie der mathematischen Wissenschaften an der ETH Zürich, ist ihre Widerspruchsfreiheit nicht nur unbewiesen, sondern nach mathematischen Massstäben auch unbeweisbar. Trotzdem glaubten die meisten Mathematiker daran.

Wagner erklärt, dass Mathematiker zudem oft dem Urteil von Fachleuten vertrauen müssten, wenn es um innovative, komplexe und lange Beweise gehe. «Diese können nur wenige überhaupt verstehen. Manchmal kommt es auch zu Meinungsverschiedenheiten.» Mathematiker glaubten im Allgemeinen, dass jeder korrekte Beweis von einem Computer überprüft werden könne. «Man muss daran glauben, dass die entsprechende Software korrekt funktioniert.»

«Wer an glaubensfreies Wissen glaubt, hat eine unrealistische Vorstellung von der Wissenschaft.»Roy Wagner

Trotz all dieser Unsicherheiten gibt es für Wagner keinen Punkt, weder in der Mathematik noch sonstwo in der Wissenschaft, an dem der Glaube endet und die Wissenschaft beginnt. «Wenn ich ein wissenschaftliches Argument vorbringe, glaube ich, dass ich keinen Fehler gemacht habe, dass das Wissen, auf dem ich aufbaue, fundiert und dass das System, das ich verwende, gültig ist.» Wer an glaubensfreies Wissen glaube, habe eine unrealistische Vorstellung von der Wissenschaft.

KOMPLEMENTÄRMEDIZIN: Kritik unerwünscht

Jede Disziplin muss an gewisse Grundannahmen glauben. Wenn es aber um konkrete Anwendung geht, sollte Glaube keine Rolle spielen. Etwa in der Medizin: Entweder eine Therapie wirkt oder nicht – oder sie hat Nebenwirkungen oder nicht. Die evidenzbasierte Medizin wendet eine Behandlungsmethode erst an, wenn sie sich in einer Studie als wirksam und sicher erwiesen hat. Was bei den Therapien der Komplementärmedizin hingegen oft nicht der Fall ist.

«Ich habe wiederholt gezeigt, dass die übliche klinische Studie in der Komplementärmedizin praktisch nie negativ ausgehen kann.»Edzard Ernst

Doch so einfach kann Glaube hier nicht von Wissen getrennt werden. Die Zahl der möglichen Therapievarianten und unterschiedlichen Patientengruppen in der klassischen Medizin ist schlicht zu gross. Viele Medikamente wurden zum Beispiel nur bei Männern getestet, werden aber bei Frauen und Kindern angewandt. Man geht einfach davon aus, dass sie gleich wirken, ohne dies belegt zu haben. Hingegen haben es erfolgreiche Behandlungen der Komplementärmedizin oft schwer. «Es dauert unter Umständen recht lange, bis ein Verfahren, das nachweislich wirksam ist, in die klinische Routine integriert wird», sagt der deutsche Mediziner Edzard Ernst, der erste Professor für Komplementärmedizin weltweit.

Als Ernst 1993 die neu geschaffene Stelle an der Universität Exeter (GB) antrat, sei die Datenlage zur Homöopathie nicht eindeutig gewesen. Also machte er es sich zur Aufgabe, Klarheit zu schaffen. «Wir können uns heute ziemlich sicher sein, dass Homöopathie wirkt – halt nur über einen Placeboeffekt», so Ernst. Das heisst, auch eine Scheinbehandlung, die nur so daherkommt wie Homöopathie, hat die gleichen Effekte. Die Erwartungshaltung der Patientinnen ist entscheidend. Dem Beispiel Exeter sind inzwischen auch die Universitäten Bern, Zürich und Basel gefolgt und haben Institute und Lehrstühle für Komplementärmedizin eingerichtet. Das ist eine Reaktion auf die steigende Nachfrage nach komplementärmedizinischen Verfahren.

Ernst freut sich grundsätzlich über mehr Lehrstühle zur Komplementärmedizin. Er sieht die wissenschaftliche Tätigkeit dort aber kritisch: Oft würden einfach Umfragen durchgeführt und Anwenderbeobachtungen publiziert. Wenn klinische Studien durchgeführt würden, so werde meist die Standardbehandlung mit Komplementärmedizin ergänzt und mit der gleichen Behandlung ohne Komplementärmedizin verglichen. «Ich habe wiederholt gezeigt, dass eine solche Studie praktisch nie negativ ausgehen kann», so Ernst. Mit anderen Worten: Die Forschenden versuchen, ihren Glauben zu bestätigen.

Diverse aktive Forschende der Komplementärmedizin an den Universitäten Zürich und Bern wollten sich auf Anfrage nicht zu Glaubensfragen innerhalb ihrer Disziplin äussern. Edzard Ernst überrascht dies nicht: «Kritik innerhalb der Komplementärmedizin ist eine echte Rarität, und die Erkenntnis, dass Kritik ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum Fortschritt ist, hat sich bislang noch nicht durchgesetzt.»

THEOLOGIE: unklarer Forschungsgegenstand

Diejenige Wissenschaft dagegen, die den Glauben selbst zum Inhalt hat, hat viel Erfahrung darin, Kritik auszuhalten, selbst wenn aus den eigenen Reihen scharf geschossen wird. Der deutsche Theologe Heinz-Werner Kubitza etwa schreibt in seinem Buch «Der Dogmenwahn », die Theologie sei ein Kuriosum an modernen Universitäten. Denn es sei nicht einmal klar, ob es den zentralen Gegenstand dieser Wissenschaft, den Theos, überhaupt gäbe. Barbara Hallensleben, Theologin an der Universität Freiburg und Professorin für Dogmatik und Theologie der Ökumene, freut sich darüber: «Wenn etwas ein Kuriosum ist, dann macht es neugierig und ist der Anfang einer möglichen Entdeckung.» Auch Kubitzas Breitseite gegen Theos nimmt sie gelassen: «Wenn Gott ein Gegenstand in einer Kette von endlichen Gegenständen ist, dann gibt es ihn nicht. Wenn ich von Gott rede, bin ich auf der Ebene der Frage nach Grund und Ziel.»

«Die Theologie starrt nicht immer gen Himmel, sondern untersucht die Spuren dieses Glaubens und dieses Gottes in der Geschichte.»Barbara Hallensleben

Der Glaube gehöre von Anfang an zur Konstitution der Theologie. «Wir leben in einem kulturellen Teil der Welt, der sehr stark geprägt ist von genau diesem Glauben. Es ist gut, wenn jemand ihn reflektiert, auch um zu verstehen, woher wir kommen. Die Theologie starrt nicht immer gen Himmel, sondern untersucht die Spuren dieses Glaubens und dieses Gottes in der Geschichte.» Aus dem Glauben entstehe zudem eine Denkunruhe, die unabschliessbar weiter fragt und verstehen will.

Theologie sei heute eine ausserordentlich differenzierte und methodenbewusste Wissenschaft, sagt Hallensleben. «Im engeren Sinne ist Wissenschaft die methodisch geleitete Suche nach einer rechenschaftsfähigen Antwort auf eine präzise Frage. Auch wer den Glauben nicht teilt, kann nachvollziehen, warum man auf dieser Grundlage zu einem bestimmten Ergebnis kommt.» In der alltäglichen Arbeit stützt sich die Theologie auf zahlreiche wissenschaftliche Methoden: «Ich entziffere Handschriften, interpretiere Texte, analysiere Argumente. Da ist Wissenschaft in all ihrer methodischen Präzision gefragt.»

Zurück zu Kubitza: Ein weiterer Grund, warum er Theologie an den Universitäten als Kuriosum betrachtet, liegt in dem konfessionellen Vorbehalt: Es gibt reformierte und katholische Theologie. Hallensleben lässt auch dieses Argument nicht gelten: «Jede Wissenschaftsdisziplin hat ihre Schulstreitigkeiten, die manchmal wie Glaubenskämpfe ausgetragen werden.» Die konfessionellen Hintergründe sind nach ihrer Erfahrung ausserdem noch pluraler, da sie auch mit orthodoxen und evangelikalen Studierenden arbeitet. Die Pluralität christlicher Konfessionen sei ein klares Anzeichen für die Unabgeschlossenheit der Theologie. «Sie deutet die Glaubenswahrheit nicht in einem festen System, sondern nähert sich ihr immer von verschiedenen Seiten an. In einer Art Streit im positiven Sinne. Wissenschaft ist immer auch ein Ringen um Antworten.»