Protestierende in Lausanne im Mai: jung, gebildet, aus der oberen Mittelschicht – die Bewegung hat keine klassenübergreifenden Allianzen hervorgebracht. | Bild: Keystone/Jean-Christophe Bott

Jasmine Lorenzini, was sind das für Menschen, die in der Schweiz für mehr Klimaschutz auf die Strasse gehen?

Bei unseren Befragungen in Lausanne und Genf trafen wir mehrheitlich sehr junge Menschen ohne Demonstrationserfahrung. Rund ein Drittel der Befragten waren zwischen 12 und 19 Jahre alt. Obschon die Basis sehr jung ist, gelingt es ihr, auch Eltern und Grosseltern zu mobilisieren. Das Durchschnittsalter lag deshalb bei 34 Jahren.

Wie sieht die soziale Durchmischung aus?

40 Prozent der Befragten gaben an, dass ihre Eltern über einen Universitätsabschluss verfügen. Knapp 60 Prozent zählten sich selbst zur oberen Mittelschicht, nur fünf Prozent hingegen zählten sich zur Arbeiterklasse. Die Bewegung hat eine generationenübergreifende Allianz hervorgebracht, jedoch keine klassenübergreifende.

Europaweite Studie zu «Fridays for Future»
Jasmine Lorenzini (37) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institute of Citizenship Studies der Universität Genf. Dort leitet sie ein Forschungsprojekt zu Nahrungsmittelkonsum und politischem Aktivismus. Sie war im Rahmen der europaweiten Protestfor- a-Future-Studie für die Schweizer Stichprobe verantwortlich und befragte Ende März über 300 Protestierende in Lausanne und Genf. Der gesamte Verbund von 26 Forschenden in neun europäischen Ländern hat die Antworten von mehr als 1900 Protestierenden analysiert. Es zeigte sich, dass von den anwesenden Schülerinnen und Schülern fast 40 Prozent zuvor noch nie an einer Demonstration teilgenommen hatten.

Was haben Sie über die Motive der Protestierenden erfahren?

Hier zeigt sich ein Paradox: Gut 90 Prozent gaben als Hauptmotiv an, dass sie Druck auf die Politik ausüben wollen. Gleichzeitig trauen die meisten Befragten der Politik nicht zu, griffige Massnahmen gegen den Klimawandel zu beschliessen. Auch Konsum spielt eine wichtige Rolle. Mehr als 70 Prozent der Befragten sehen den grössten Hebel für mehr Klimaschutz in der Veränderung ihres Lebensstils.

Im Rahmen der Studie wurden in neun europäischen Ländern Befragungen durchgeführt. Zeigen sich kulturelle Unterschiede?

Ja, in der Schweiz sind die Protestierenden führend im engagierten Konsum. Sie boykottieren aus ökologischen Gründen bestimmte Produkte oder kaufen andere gezielt. Dazu gehören auch bewusste Veränderungen im eigenen Essverhalten. Ähnliche Präferenzen beobachten wir in Deutschland und Schweden. In Italien hingegen sind solche Protestformen deutlich weniger ausgeprägt. Wahrscheinlich, weil die Kaufkraft dort weniger gross ist und damit weniger Spielraum besteht. Dafür sind andere Aktionsformen viel wichtiger, wie etwa die Mobilisierung über Social Media.

Wie organisiert sich die Klimajugend?

Sie verzichtet weitgehend auf Hierarchien, ist basisdemokratisch und dezentralisiert organisiert, ähnlich wie die Feminismusund Umweltschutzbewegungen in den 1960er- und 1970er-Jahren. Neu ist hingegen die wichtige Rolle von sehr jungen Menschen und die starke Bezugnahme auf wissenschaftliche Fakten.

«Dass sich Tausende von Naturwissenschaftlerinnen mit den Protestierenden solidarisieren, ist neu.»

Es ist bemerkenswert, dass sich Forschende offen mit den Jugendprotesten solidarisieren. Zuletzt in einer Stellungnahme, die von 26 800 Wissenschaftlern unterzeichnet wurde. Gab es das in der Geschichte von sozialen Bewegungen zuvor?

In den 1960er- und 1970er-Jahren unterstützten viele Sozialwissenschaftler die Umweltbewegung. Dass sich nun Tausende von Naturwissenschaftlerinnen mit den Protestierenden solidarisieren, ist neu, aber gut nachvollziehbar. Die Wissenschaft warnt seit über 30 Jahren vergeblich vor den Folgen des Klimawandels. In der Fridays-for-Future-Bewegung hat sie eine Möglichkeit gefunden, sich zu artikulieren.

Wie lautet Ihre Prognose: Sind wir an einem Wendepunkt angelangt? Werden die Proteste die Gesellschaft langfristig verändern?

Persönlich hoffe ich es. Dazu muss die Bewegung aber bestehende sozioökonomische Strukturen aufbrechen und verschiedene Protestrepertoires kombinieren. Es gibt viele nicht gewalttätige Formen des zivilen Ungehorsams, mit denen das wirtschaftliche und das politische System nachhaltig gestört werden können. Damit keine Protestmüdigkeit einsetzt, brauchen die Jugendlichen nun aber erst einmal handfeste politische Erfolge.