Inger Andersen scheut sich nicht, mit umstrittenen Akteuren zusammenzuarbeiten, wenn dadurch Arten geschützt werden können. | Bild: World Bank Group

Die Rote Liste der bedrohten Arten ist die umfassendste Erhebung der Biodiversität. Sie wird von der in Gland (VD) ansässigen International Union for Conservation of Nature (IUCN) erstellt, die sich mit 1000 Mitarbeitenden und 120 Millionen Franken Jahresbudget für Nachhaltigkeit engagiert. «Wir können die Natur nicht getrennt von der Wirtschaft und unserem Wohlergehen sehen», ist die dänische Ökonomin und IUCN-Generaldirektorin Inger Andersen überzeugt. Sie tritt 2019 das Amt der Exekutivdirektorin des Uno-Umweltprogramms UNEP an.

Mit der Roten Liste bedrohter Arten läutet die IUCN regelmässig die Alarmglocken. Worüber sind Sie am meisten besorgt?

Über den generellen Trend: Wir sind mitten im sechsten Massenaussterben und verlieren 1000 Mal schneller Arten, als es natürlich wäre. Amphibien und Korallen sind besonders unter Druck. Bei zwei Dritteln der erfassten Wirbeltiere vollzieht sich ein rasanter Rückgang.

Welches ist Ihre Lieblingsart?

Ich dürfte das eigentlich nicht sagen... Ich bin in Dänemark an einem Ort mit Eulen aufgewachsen. Die sind riesig und huschen dir manchmal über den Kopf, wenn du draussen sitzt. Das ist eindrücklich.

Man spricht häufig über charismatische Säugetiere. Doch das Aussterben des Eisbären wäre weniger folgenschwer als das Verschwinden gewisser Insekten oder Pilze.

In unseren Augen ist jede Art wichtig und hat ihren Platz, nicht nur biologisch gesehen, sondern auch intrinsisch und aus ethischer Sicht. Wir nennen das «biologische Demokratie». Wir haben nicht das Recht, die Erde einfach zugrunde zu richten.

Aber wir müssen Prioritäten setzen. Können Sie als Ökonomin den Wert einzelner Arten oder Ökosysteme beziffern, damit wir wissen, was wir zuerst retten sollten?

Wir sollten das nicht so sehen. Der Eisbär hat die gleiche Funktion wie der Kanarienvogel in der Kohlenmine: Sein Sterben machte die Arbeiter auf giftige Gase aufmerksam. Wir sollten nicht bestimmte Arten herauspicken, sondern die Wurzel des Problems begreifen. Dass gewisse Arten verschwinden, ist normal. Aber wir haben nur unseren Planeten zum Leben.

Ist es also falsch, Ökosystemen einen wirtschaftlichen Wert zuzuschreiben?

Dieser Ansatz kann sinnvoll sein: Es ist leicht einzusehen, dass Bestäuber eine wirtschaftliche Leistung erbringen und dass eine mechanische Bestäubung die Kosten massiv erhöhen würde. Zu einem Aha-Erlebnis kam es in den USA 2005 nach dem Hurrikan Katrina. Der bebaute Teil der Stadt New Orleans wurde überschwemmt, während Gebiete mit Mangroven verschont blieben, weil sie den Aufprall von Sturm und Hochwasser dämpften. Plötzlich wurde sichtbar, dass die Natur Lösungen für ernsthafte Probleme bietet.

Wo sonst kommt Hilfe aus der Natur?

Wälder können grosse Mengen CO2 speichern. Ein stärkerer Einbezug der Natur in Städten bietet Schutz vor Naturgefahren. Grünflächen senken die Temperatur, absorbieren starke Niederschläge und reduzieren die Kriminalität, Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie Diabetes. Im Studium für Städteplanung und Architektur sollte nicht nur die graue, sondern auch die grüne Infrastruktur ein Thema sein.

Langsam wächst das Bewusstsein, dass sie auch eine Rendite abwirft. Bei der IUCN nehmen wir jedoch eine andere Perspektive ein: Dieses Zuschreiben eines wirtschaftlichen Werts ist weder gut noch schlecht, sondern einfach ein Instrument.

«Der Eisbär hat die gleiche Funktion wie der Kanarienvogel in der Kohlenmine, dessen Sterben auf giftige Gase aufmerksam machte.»

Sehen Sie die Natur als eine Art Garten Eden, den es unverändert zu bewahren gilt?

Nein. Der Mensch ist Teil der Natur, genauso wie andere Lebewesen. Wir können unsere Interaktion mit der Natur nicht getrennt von unserem Wohlergehen sehen. Wir sind jedoch eine dominante Art und müssen Verantwortung übernehmen – ethisch, biologisch und wirtschaftlich. Jeden Abend gehen mehr als eine Milliarde Menschen hungrig schlafen, und sie haben das Recht auf ein Leben, wie Sie und ich es führen. Wir müssen herausfinden, wie wir es mit Hilfe unserer Umwelt schaffen, die lebenswichtige Dinge wie frische Luft, Wasser und Nahrungsmittel produziert. Die IUCN setzt sich für eine nachhaltige Bewirtschaftung dieser Ressourcen ein und sieht diese als fundamentales Recht der Menschen, vor allem der lokalen Bevölkerung. Jedes Land soll entscheiden, welche Gebiete es schützen will und welche Nutzung erlaubt ist.

Wie können wir Umweltschutz und wirtschaftliche Entwicklung in Einklang bringen?

Die Stärke der IUCN ergibt sich aus den 1400 Mitgliedern, zu denen auch NGOs und Regierungen gehören. Jedes Mitglied hat eine gleichwertige Stimme – eine kleine, in Bhutan tätige NGO ebenso wie der Regierungsvertreter der USA. Unsere Entscheidungen müssen separat in beiden Kammern bewilligt werden – von den NGOs sowie von den Staaten. Eine Einigung wird so von allen mitgetragen und eher in den Gesetzgebungen verankert.

Verfolgen Sie eine politische Agenda?

Hauptaufgabe der IUCN ist es, Erkenntnisse und Daten bereitzustellen. Wir nehmen politisch nicht Stellung. Die Wissenschaft spricht für sich selbst. Einige unserer Mitglieder sind politisch aktiv und verwenden unsere Daten. Manchmal empfiehlt die Wissenschaft gewisse Strategien zur Bekämpfung der Ursachen des Artensterbens. Dass die IUCN sowohl Regierungen als auch NGOs zu ihren Mitgliedern zählen kann, ist nur möglich, weil wir in erster Linie wissenschaftliche Grundlagen liefern.

Warum arbeitet die IUCN trotz Reputationsrisiko mit Unternehmen wie Shell zusammen?

Wenn wir wissen, dass ein Projekt ohnehin realisiert wird, versuchen wir, die Auswirkungen auf die Ökosysteme zu minimieren. Zum Beispiel haben wir die Erdöl- und Erdgasfirma Sakhalin Energy, bei der Shell Mitinhaber ist, bei ihren Extraktionstätigkeiten vor den russischen Sachalin- Inseln beraten. Die Inseln liegen in der Nähe der Migrationsroute von Grauwalen. Dank dem von unseren Wissenschaftlern beigesteuerten Wissen hatte das Projekt weniger negative Auswirkungen. Es funktionierte: Die Population ist recht deutlich von 115 auf 174 Wale gestiegen.

Wir haben strenge Richtlinien für Partnerschaften mit Firmen. Mit der Tabak- und der Rüstungsindustrie arbeiten wir nicht zusammen. Wichtig ist, dass die Partnerschaften immer auf Projekte ausgerichtet sind, nicht auf eine allgemeine Finanzierung. Wir wollen unabhängig bleiben und konkrete Wirkungen erzielen. Insgesamt stammen weniger als fünf Prozent unseres Budgets aus solchen Quellen.

Weshalb arbeitet die IUCN mit dem Olympischen Komitee zusammen? Spitzensport scheint für die Entwicklung nicht relevant.

Wir unterstützen die Gesellschaft bei der Umsetzung nachhaltiger Projekte – in Städten, der Landwirtschaft oder beim Bau von Infrastruktur, auch von Sportanlagen. Die Olympischen Spiele gehören zum Leben, deshalb versuchen wir, die negativen Folgen möglichst zu reduzieren. Wir beraten die Austragungsorte. Unsere Richtlinien werden auch in anderen Ländern für Anlässe verwendet, was die Wirkung erhöht.

«Arten und Ökosysteme, die nahe am Zusammenbruch waren, konnten sich regenerieren.»

Befürchten Sie, dass pessimistische Schlagzeilen über den Verlust an Biodiversität die Menschen entmutigen, wie dies beim Klimawandel der Fall ist?

Die junge Generation hat beim Thema Klima nicht aufgegeben, sondern bringt das Thema auf die globale Agenda. Aber: Ja, wir müssen unsere Kommunikation ausbalancieren und auch erklären, wie die Natur sich wieder erholen kann, falls wir ihr eine leise Chance geben. Arten und Ökosysteme, die nahe am Zusammenbruch waren, konnten sich regenerieren, wenn in die Infrastruktur der Natur investiert wurde: mit Schutz, Strategieänderungen und dem Verbot gewisser Chemikalien. Solche Erfolgsgeschichten motivieren.

Es gibt die Leugner des Klimawandels. Weshalb haben Sie keine solchen Feinde?

Der Artenschutz ist noch nicht so stark politisiert. Vielleicht, weil es viele Zugänge zu diesem Thema gibt. Die Natur verbindet uns. Niemand will zur Generation gehören, die das Aussterben des Elefanten erlebt.

Sie verlassen die IUCN nach fünf Jahren. Was haben Sie erreicht?

Ich lasse eine stärkere Organisation zurück: Sie ist lebendiger, wirksamer und effizienter, verfügt über mehr Mittel und Personal. Der Gesamtwert der IUCN-Projekte hat seit 2015 um 38 Prozent zugenommen. Dieser Trend dürfte sich fortsetzen.

Wie sieht es mit konkreten Projekten aus?

Wir haben mit Wiederaufforstungen viel erreicht: Die IUCN hatte sich verpflichtet, 150 Millionen Hektaren gerodeten Wald bis 2020 wiederaufzuforsten (rund viermal die Fläche von Deutschland, A.d.R.), und wir haben unser Etappenziel 2017 bereits überschritten.