Ihre Mission sind die Bibel und Big Data: Theologin Claire Clivaz verbindet beides miteinander. Bild: Valérie Chételat

Jahrtausendealte Schriften und Big Data unter einen Hut zu bringen, scheint ein gewagtes Unterfangen. Vielleicht war es aber gerade dieser Widerspruch, der die Theologin Claire Clivaz reizte: «Originalität gehört zu meinen Stärken. Etwas Banales zu schreiben, hat mich nie interessiert.» Die Waadtländerin leitet die Gruppe Digital Humanities am Schweizerischen Institut für Bioinformatik (SIB) in Lausanne.

Doch was sucht eine Bibelspezialistin in einer Einrichtung, deren wichtigste Aufgabe darin besteht, riesige Mengen biologischer und genetischer Daten zu verwalten? Ihre Mission ist es, die Methoden von Big Data in die Humanwissenschaften zu transferieren. Diese Digitalisierung wird sie auch in ihrem Arbeitsgebiet fortsetzen: bei den Manuskripten des Neuen Testaments. Die Forscherin in ihren Vierzigern analysiert gegenwärtig das Markusevangelium im Rahmen des Projekts «Mark 16», das vom Schweizerischen Nationalfonds finanziert wird.

«Etwas Banales zu schreiben, hat mich nie interessiert.»

«Es gibt mindestens sechs verschiedene Schlusspassagen des Markusevangeliums, wobei eine die Erscheinung des auferstandenen Jesus nicht erwähnt», sagt Rivaz. «Wenn man jedoch eines der wichtigsten Manuskripte zu Rate zieht, sieht man, dass es eine Lücke gibt. Der Verfasser hat Platz freigelassen. Das deutet auf eine Zensur oder ein verlorenes Ende und darauf, dass der Text ursprünglich nicht hier aufhörte.» Die innovative Forscherin nutzt für ihre Arbeit in Bibelwissenschaften ein virtuelles Forschungsumfeld. So hat sie einfacher Zugang zu Originalschriften, zu einem Netzwerk internationaler Spezialisten und Vergleichsmöglichkeiten zwischen den verschiedenen Positionen. «Ich verfolge ein doppeltes Ziel: Ich will die Vielfalt der Manuskripte verstehen, die diesem jahrtausendealten Rätsel zugrunde liegen, und mich davon für ähnliche Projekte in den Geisteswissenschaften inspirieren lassen.»

Menschenliebe und Wissensdurst

Eigentlich war der Weg zur Datenanalyse nicht vorgezeichnet. Als Jugendliche ist sie bei der Studienwahl sicher: «Ich war gläubig und wollte aus Liebe zu den Menschen Pfarrerin werden.» Gleichzeitig ist ihr Wissensdurst enorm, und erst nachdem ihr versichert wird, dass ein Theologiestudium nicht ein «erweiterter Katechismus» ist, sondern eine Disziplin, die ihre «geistige Neugierde stillen kann», entscheidet sie sich für die Theologische Fakultät der Universität Lausanne. Eric Junod, ehemaliger Dekan, erinnert sich an eine «Studentin mit Talent und Engagement», die er «nachdrücklich dazu ermunterte, eine Dissertation zu schreiben».

Sie folgt dem Ratschlag, zieht sich dabei aber nicht in die Gemäuer ihrer Alma Mater zurück. Als Mutter von drei Kindern nimmt sie im Jahr 2000 eine 50-Prozent- Stelle in der Gemeinde Lutry an: «Die akademische Laufbahn ist mit vielen Ungewissheiten verbunden. Daneben einen Beruf zu haben, gibt Sicherheit.» Es gelingt ihr, Familie, Forschung und Pfarramt zu vereinbaren – mit viel Abendarbeit und «ein bisschen wie durch ein Wunder», wie sie schmunzelnd meint. «In der Praxis tätig zu sein und mich ins soziale Leben und als Mutter einzubringen, hat meine Forschung sehr befruchtet.»

2003 bricht Claire Clivaz für einen einjährigen Forschungsaufenthalt an der Harvard University nach Boston auf – mit ihrer ganzen Familie im Schlepptau. Dort lernt sie den Schweizer Theologen François Bovon kennen, der über das Neue Testament lehrt. Er habe ihr das notwendige Vertrauen gegeben, um ihren Fragen zu folgen, ohne sich einer intellektuellen Zensur zu unterwerfen. «In Harvard habe ich gelernt, frei zu denken, und ich bin auf den Geschmack der Innovation gekommen», sagt die heutige Forscherin Clivaz.

«Mich ins soziale Leben und als Mutter einzubringen, hat meine Forschung sehr befruchtet.»

Zwei Jahre nach ihrer Rückkehr beendet sie ihr Pfarramt. Sie konzentriert sich auf die akademische Karriere, schliesst ihre Dissertation ab und wird Assistenzprofessorin für das Neue Testament an der Universität Lausanne. Dort beginnt sie sich für digitale Techniken zu interessieren. «Meine Motivation war einerseits, dass ich meine Disziplin weiterbringen wollte, und andererseits die pragmatische Notwendigkeit, für den Nachwuchs attraktiv zu sein und Geldgeber zu finden.»

Die Neuausrichtung erleichtert ihr das Leben nicht gerade. «Die Vorliebe für Innovationen muss mit Vorsicht einhergehen, damit sie realisierbar wird», erklärt die Frau mit dem wachen Blick. «Innovative Forschung rüttelt am Etablierten.» Sie sei sehr glücklich beim SIB, das Spitzenforschung und Frauenkarrieren unterstützt. Ihr Buch mit dem Titel «Ecritures digitales» widmet sie denn auch ihrer Institution. Thema ist der Einfluss der neuen Technologien auf die biblischen Bücher und Texte.

Heute fühlt sich die Forscherin «erfüllt». Sie investiert ihre Zeit, die sie als «Geschenk » betrachtet, und «lebt jeden Tag als neue Herausforderung». Ihre Kinder sind erwachsen, zwei- bis dreimal pro Woche geht sie joggen. «Dabei habe ich neue Ideen, und es hilft mir, weiterhin klar zu sehen, was meinen Beruf und meine Beziehungen betrifft.» Das Pfarramt fehlt ihr nicht. «Die Begegnungen mit Gemeindemitgliedern, die von einem Vertrauen zeugen, das über Worte hinausgeht, sind ein grosses Privileg », erzählt sie. Doch sei sie «am Ende dessen angelangt, was sie sehen wollte».

Die Theologin führt einen Blog in der Westschweizer Tageszeitung Le Temps. «Das ist eine schöne Gelegenheit, sich an ein grösseres Publikum zu wenden. Ich finde es wichtig, sich für Werte in der Gesellschaft zu engagieren», meint Clivaz. Schlüsselwerte sind Offenheit, Freiheit und Neugierde auf den andern. Zu den besprochenen Themen gehören die Online-Taufe, die Sterilisation des Mannes oder auch die Überwachungsgesellschaft. Es besteht kein Zweifel: Claire Clivaz befasst sich nicht mit Banalitäten.

Pfarrerin forscht mit Bioinformatikern
Die 1971 geborene Waadtländerin Claire Clivaz arbeitete von 2000 bis 2006 mit einem halben Pensum in der evangelischreformierten Gemeinde Lutry (VD) als Pfarrerin und erhielt 2007 ihren Doktortitel für Theologie. Dann widmete sie sich ganz ihrer akademischen Karriere und wurde Assistenzprofessorin für das Neue Testament an der Universität Lausanne, bevor sie 2014 zum Schweizerischen Institut für Bioinformatik stiess, wo sie seit Oktober 2018 für die Gruppe «Digital Humanities +» verantwortlich ist. Die Theologin ist geschieden und Mutter von drei Kindern.