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Ob Goldnuggets aus Graubünden, ein Quastenflosser aus dem Tessin oder Blumen aus dem Zürcher Oberland: Naturhistorische Sammlungen sind unverzichtbare Quellen unseres Wissens über die Erdgeschichte. Sie erzählen von der Ausbreitung der Arten, der Entstehung der Biodiversität und vom Einfluss des Menschen auf die Umwelt.

Die Schweizer Sammlungen umfassen weit über 60 Millionen Tiere, Pflanzen und Pilze, Steine, Knochen, Versteinerungen und Bodenproben – manche davon älter als hundert Millionen Jahre. Die Objekte, die für die Öffentlichkeit zugänglich sind, bilden nur die Spitze eines gigantischen Eisbergs. Der grösste Teil der Sammlungen lagert im Verborgenen; in den Hinterräumen von Museen, in botanischen Gärten und Universitäten. Dabei haben die Schweizer Sammlungen weltweite Bedeutung. Nicht nur weil hierzulande viele Referenzexemplare lagern, sondern auch, weil die Sammlungen sehr weit zurückreichen, da sie nicht von Kriegen zerstört worden sind.

Neue Technik, neues Erforschen

«Mit den zunehmenden Umweltproblemen werden Sammlungen immer wichtiger», sagt Pia Stieger von der Akademie der Naturwissenschaften. Die Biologin leitet eine Gruppe von Forschenden, die zurzeit einen Grundlagenbericht zu den naturhistorischen Sammlungen in der Schweiz verfasst. «Oft lassen sich nur in Sammlungen Umweltveränderungen über Jahrzehnte hinweg dokumentieren und daraus Szenarien für die Zukunft ableiten.»

So wurde erst anhand von Eierschalen in naturhistorischen Sammlungen deutlich, wie sich Pestizide auf die Umwelt auswirken. Mit jeder technologischen Neuerung werden neue Auswertungen möglich. Forschende können die DNA oder die chemische Zusammensetzung von Objekten analysieren, neue Scanning-Technologien ermöglichen Einblicke ins Innere von Gesteinen und Pflanzen.

Schon heute spielen Sammlungen etwa bei der Erforschung des Klimas, der Biodiversität, der Schädlingsbekämpfung oder des Untergrunds eine wichtige Rolle. Doch ein grosser Teil des Potenzials liegt brach. Das Problem: Nur gut 17 Prozent der Objekte sind digital erfasst. In den meisten Museen fehlt es an ausgebildetem Personal, das sich angemessen um die Sammlungen und die Klassifizierung und Digitalisierung der Objekte kümmern kann. «In manchen Institutionen lagern Kisten voller unsortierter Stücke, weil es an Ressourcen und Fachkräften fehlt, welche die Exemplare einordnen und beschriften können», sagt Pia Stieger. «Wir brauchen einen Investitionsschub, um aus den Sammlungen eine wirklich effiziente Forschungsinfrastruktur zu machen.» Die Europäische Union ist übrigens bereits einen Schritt weiter: Sie hat die naturhistorischen Sammlungen soeben auf die Liste der prioritären Forschungsinfrastrukturen gesetzt.

Die Setzkästen der Naturgeschichte

Erstmals liegen solide Zahlen zu den naturhistorischen Sammlungen der Schweiz vor. Sie sind grösser als bisher gedacht und enthalten besonders viele Referenzexemplare: Funde, die zur Erstbeschreibung neuer Arten oder Gesteine geführt haben. Ein Blick auf Forschungsprojekte, die ohne diese Sammlungen nicht möglich gewesen wären.

Zoologie

Tiere in Gläsern, auf Nadeln oder ausgestopft, aber auch Eierschalen, Schneckenhäuser und gar Trophäen lagern in zoologischen Sammlungen der Schweiz.

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Kein Krebs zu klein

Flohkrebse sind in aquatischen Ökosystemen wichtig. Sie bauen Laubstreu ab und sind gutes Fischfutter. Lange wusste man wenig über ihre Verbreitung. Vor vier Jahren starteten das Bundesamt für Umwelt und das Forschungsinstitut Eawag eine Studie zur Verbreitung von Flohkrebsen in der Schweiz. Sie analysierten Proben von über 2500 Gewässerabschnitten und untersuchten konservierte Exemplare in mehreren Museen. Nach Projektabschluss sollen die neuen Nachweise im Kantonalen Zoologischen Museum Lausanne aufbewahrt werden. So sollen Forschende auch in Zukunft rückverfolgen können, wie sich die Organismengemeinschaften in Gewässern verändert haben.

Saure Früchte

Die Kirschessigfliege macht Bauern das Leben schwer. Das Tier, das aus Südostasien stammt, befällt reife Früchte und breitet sich seit rund sieben Jahren in der Schweiz aus. Da sich die Art sehr rasch vermehrt, kann sie ganze Ernten vernichten. Forschende von Agroscope haben jüngst eine in der Schweiz neue Schlupfwespe entdeckt und anhand der Sammlungen des Naturhistorischen Museums Bern bestimmt. Die Art Vrestovia fidenas ist ein natürlicher Feind der Kirschessigfliege und könnte einen Beitrag zu deren Bekämpfung leisten.

Botanik und Mykologie

Getrocknete Wild- und Kulturpflanzen, Samen, Früchte und Pilze: Botanische Sammlungen dokumentieren den Wandel der Natur und des Kulturlandes.

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Korrekte Kartoffelkunde

Über die Herkunft der heute in Europa kultivierten Kartoffel wurde viel gestritten. Stammen sie aus dem Hochland der Anden oder aus dem chilenischen Tiefland? Um die Frage zu klären, analysierten Forschende über 50 Blattproben aus 11 europäischen Herbarien, die zwischen 1720 und 1910 konserviert worden waren, darunter jene aus Basel, Genf und Zürich. Demnach stammten die ersten eingeführten Kartoffelsorten aus den Anden. Bereits vor der grossen Krise wegen der Kartoffelfäule um 1850 in Irland sowie auf dem europäischen Festland dominierten in der Landwirtschaft jedoch Kartoffelsorten aus dem chilenischen Tiefland.

Artenschwund in Zürich

Wie hat sich die Flora im Kanton Zürich in den vergangenen hundert Jahren verändert? Um diese Frage zu klären, startete die Zürcherische Botanische Gesellschaft ein Citizen-Science-Projekt. Seither haben 150 Freiwillige über 100 000 Pflanzen an neuen Standorten beobachtet und 35 000 Belege aus den Sammlungen der Universität und der ETH Zürich digitalisiert. Die Auswertung der Daten ist noch nicht abgeschlossen. Demnach hat sich die Flora stark verändert. Seit 1900 sind rund fünf Prozent der Farn- und Blütenpflanzenarten verschwunden und fünf Prozent neue Arten hinzugekommen. Die Verbreitung etwa jeder zweiten Art hat im selben Zeitraum stark abgenommen.

Paläontologie

Mammuts und Dinosaurier sind die Renner der Museen. Die paläontologischen Sammlungen umfassen aber noch viele andere zoologische und botanische Objekte aus längst vergangenen Epochen.

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Exot in den Alpen

Paläontologen haben in Graubünden ein Fossil einer neuen Quastenflosser-Art (Foreyia maxkuhni) gefunden, ein Knochenfisch, der das Meer schon seit 400 Millionen Jahren bevölkert. Das entdeckte Exemplar fällt durch einen speziellen Kopf auf, der die Form einer Kuppel hat, durch einen kurzen Körper und ein sehr kleines Maul. Der Fisch lebte wohl eher nicht in tiefen Gewässern wie seine heute lebenden Verwandten, sondern in Küstennähe. Untersucht wurde das 240 Millionen Jahre alte Fossil mit Computertomografie. Der Fund ist spektakulär: Die bisherige Theorie, wonach sich Quastenflosser über Jahrmillionen kaum verändert haben, ist damit überholt.

Säugetiere im Wandel

In Seesedimenten der Südschweiz lagern mehrere Tausend Jahre alte Nadelhölzer. Forschende der Universität Lausanne haben deren Erbgut analysiert. Die Daten zeigen, wie sich die Ausbreitung der ersten Agrargesellschaften auf die Weisstannen auswirkte. Nun wollen Forschende des Naturhistorischen Museums in Genf mit derselben Methode Knochen von Säugetieren wie Rentieren und Steppenbisons untersuchen. Die genetische Analyse soll zeigen, wie sich Umweltveränderungen auf grosse Säugetiere ausgewirkt haben.

Geologie

Kristalle, Steine, Meteoriten, Bodenproben: Die geologischen Sammlungen geben der Geschichte der Erde und anderer Planeten ein Gesicht.

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Lebensspuren in Marssteinen?

Im Sommer 2020 wird mit der Marssonde Exomars eine Nahaufnahmekamera zu unserem Nachbarplaneten fliegen. Bereits vor 20 Jahren haben die Forscher in ihren Gesteinssammlungen nämlich Spuren von Mikroben entdeckt, die unter extremen Bedingungen tief im Gestein gelebt haben. Ein Team des Space Exploration Institute in Neuenburg hat nun eine neue Kamera entwickelt, die auf dem Mars Bilder von Gesteinen, Sedimenten und Bohrkernen in höchster Auflösung anfertigen und so Hinweise finden könnte, ob es auf dem Mars früher Leben gab.

Hält die Tunneldecke?

Beim Grossbrand im Mont-Blanc-Tunnel im Jahr 1999 starben mehr als 30 Personen. Es hatten sich Temperaturen von über 1000 Grad Celsius entwickelt. Kurz nach dem Unglück bestand deswegen grosse Unsicherheit, ob die Tunneldecke halten würde. Bevor man die Bergungs- und Aufräumarbeiten durchführen konnte, musste man die Beschaffenheit des Gesteins im Brandabschnitt genau kennen. Experten konsultierten dafür rund 500 Gesteinsproben im Museum für Geologie in Lausanne, die während des Tunnelbaus entnommen worden waren. Das Museum verfügt über eine einzigartige Sammlung von fast 15 000 Gesteinsproben aus dem Mont-Blanc-Massiv

«Es ist schwierig, heute zu beurteilen, welche Objekte in Zukunft von Bedeutung sein werden.»
Reto Nyffeler leitet an der Universität Zürich das zweitgrösste Herbarium der Schweiz. Er sagt, die föderale Struktur der Schweiz bremse die Aufbereitung und Digitalisierung der Sammlungen.

Reto Nyffeler, Sie sind verantwortlich für eine Sammlung mit drei Millionen Objekten. Wie behalten Sie den Überblick?

Indem wir akribisch Ordnung halten. Die Objekte sind wie in einem Karteikasten nach ihrer Klassifikation, also nach Familien, Gattungen und Arten alphabetisch geordnet. Was aktuell fehlt, ist die digitale Erfassung der Sammlungsbestände, die ganz neue Zugänge ermöglichen würde. Daran arbeiten wir.

Was tragen die naturhistorischen Sammlungen heute noch zur Forschung bei?

Eine Sammlung ist wie eine Bibliothek, statt Papier sind es konservierte Organismen mitsamt Angaben zu Fundort und Sammelzeitpunkt. Weltweit beherbergen naturhistorische Sammlungen drei Milliarden konservierte Organismen. Das ist eine riesige Stichprobe der belebten Welt. In der Wissenschaft stellen sich immer wieder neue Forschungsfragen, die anhand dieser Bibliothek beantwortet werden können. Da es zunehmend schwieriger wird, Bewilligungen zum Sammeln in der Natur zu erhalten, steigt auch die Nachfrage nach Material aus diesen Sammlungen.

Insgesamt beherbergen Schweizer Sammlungen mehr als 60 Millionen Objekte. Wäre es nicht einfacher, man hätte weniger?

(lacht) Ja, aber wie auswählen? Diese Objekte sind alle einmal aus bestimmten Gründen gesammelt worden. Es gab in der Geschichte immer unterschiedliche Einschätzungen, welche Objekte wirklich wichtig sind und welche nicht. Es ist schwierig, heute zu beurteilen, welche Objekte in Zukunft für die Wissenschaft von Bedeutung sein werden.

Wie gehen Sie bei der Digitalisierung der Sammlung vor?

Pro Jahr erfassen wird rund 100 000 Objekte. Jedes Sammlungsstück wird dafür mit einer hoch auflösenden Kamera fotografiert und erhält einen Strichcode, der dazugehörige Datensatz wird in eine Datenbank aufgenommen. Dafür arbeiten wir mit Freiwilligen der Botanischen Gesellschaft zusammen. Insgesamt haben wir so knapp zehn Prozent der Sammlung erfasst.

«In Frankreich beispielsweise gab die Regierung für wenige Jahre sehr viel Geld für die Digitalisierung von Sammlungen aus.»

Können die Objekte nach der erfolgten Digitalisierung aussortiert werden? Schliesslich wären die Informationen ja dann in der Datenbank vorhanden.

Es besteht immer wieder Bedarf, auf das konservierte Objekt selbst zurückzugreifen. Neue Technologien ermöglichen neue Erkenntnisse. Gewisse Informationen sind nur am Objekt vorhanden, beispielsweise die DNA und chemische Inhaltsstoffe.

Schweizweit sind nur gut 17 Prozent der Sammlungsobjekte elektronisch zugänglich. Weshalb tut sich die Schweiz mit der Digitalisierung so schwer?

Die Institute sind wenig vernetzt. In Frankreich beispielsweise gab die Regierung für wenige Jahre sehr viel Geld für die Digitalisierung von Sammlungen aus. In der Schweiz mit ihren regionalen Strukturen geht es etwas langsamer voran. Dafür gibt es bei uns mehr Raum für das gründliche Ausarbeiten der Projekte und das Lernen aus Fehlern.

Wie wichtig ist denn die Digitalisierung?

Die Objekte stehen erst für aktuelle Forschungsfragen zur Verfügung, wenn die Digitalisierung wesentlich weiter fortgeschritten ist. Mindestens die Hälfte bis zwei Drittel müssten digital erfasst und mit Geokoordinaten hinterlegt sein, um anhand grosser Stichproben neue Analysen durchführen zu können. Ein Beispiel für eine solche Forschungsfrage: Wie hat sich die Zusammensetzung der Flora während der vergangenen Jahrzehnte verändert, und welchen Einfluss könnte diese Veränderung auf den beobachteten Rückgang der Insektenvielfalt haben?