Seidenpapierrascheln. Gebeugte Köpfe über einem Häufchen Strumpf – mehr Staub als Stoff. Braun und zerrupft. Von unschätzbarem Wert ist es trotzdem. In der Abegg-Stiftung in Riggisberg (BE) werden historische Stoffe aus allen Ecken der Welt erforscht und bewahrt. Neben erfahrenen Restauratorinnen arbeiten im hauseigenen Textilkonservierungsatelier auch Studierende und junge Fachfrauen von überallher. Natalia Boncioli aus Italien etwa hat im Sommer 2020 ihren Masterabschluss gemacht und steht jetzt zwischen den Fragmenten ihrer Forschungsarbeit. Die Strumpffasern sind nur ein Puzzleteil des Rätsels, dem sie hier seit Monaten auf der Spur ist. Vorsichtig bewegt sie sich zwischen den Tischen, die mit kariertem Papier und Polyesterfolie abgedeckt sind. Darauf ausgelegt: Pinzetten, Glaskästchen mit Hauchfeinem darin, auch stark vergrösserte Mikroskopaufnahmen, zudem Karten, wie von Kontinenten einer unbekannten Welt. Und: Textilklumpen, schokoladenbraun und verklebt, Teile in fortgeschrittenem Zerfall.

Über ein Damasttuch aus dem 18. Jahrhundert gebeugt – im Textilkonservierungsatelier der Abegg-Stiftung in Riggisberg (BE) sind aussergewöhnliche Stoffe Arbeitsalltag. | Fotos: Raffael Waldner

Die wissenschaftliche Mitarbeiterin Catherine Depierraz zieht eine Schublade aus der Schrankwand, die das Atelier dominiert.

Die gestickte Muttergottes auf dem Kästchen aus dem 15. Jahrhundert wird von Noa Quinteiro Carrera wochenlang abgesaugt.

Das Puzzle ist fertig: Masterstudentin Natalia Boncioli konnte aus der Analyse der Kleiderreste der Basler Mumie aus dem 18. Jahrhundert ein Modell fertigen.

Sie und ihr Team begleiten jedes Projekt im Textilkonservierungsatelier als «Fallschirm»: die Direktorin der Abegg-Stiftung, Regula Schorta.

Im Archiv der Abegg-Stiftung liegen noch viele reizvolle Stoffe zur Untersuchung bereit.

Die Mumie aus Basel

Einst schmiegten sich die Fasern und Klumpen an den Körper der 68 Jahre alten Anna Catharina Bischoff, gestorben im August 1787. Bekannt geworden ist sie durch den Sensationsfund ihrer mumifizierten Leiche 1975 in der Barfüsserkirche in Basel. Sie war wahrscheinlich an Syphilis erkrankt und mit Quecksilberdämpfen behandelt worden, was vermutlich zur Mumifizierung geführt hatte. «Und da liegt nun genau der Kern aller Arbeit.» Regula Schorta, Direktorin der Abegg-Stiftung, ist dazugekommen. «Das Spannende ist nicht die Tatsache, dass Basler Frauen in dieser Zeit Strümpfe angehabt haben. Das wussten wir. Wir gewinnen vielmehr einen unmittelbaren Einblick in ein ganz bestimmtes Leben: Man hatte der Pfarrerstochter, die als Pfarrerswitwe in bescheidenen Verhältnissen gestorben war, Strümpfe angezogen und sie nicht einfach in ein Grabtuch gewickelt.» Hierzulande ist eine so präzise Zuordnung aus dieser Zeit selten, da Kleider und Körper oft nicht überdauern.

Schorta begleitet jedes der Projekte im Atelier als «Fallschirm», wie sie sagt, als Gesprächspartnerin, wenn es darum geht, die richtigen Lösungen für textilkonservatorische Probleme zu finden. «Textilien sind ein Teil unserer Kultur, den man späteren Generationen zeigen möchte. Und wenn man das mit Originalen tun kann, umso besser.» In den vergangenen Jahren haben bereits 40 Wissenschaftlerinnen aus Europa an der Barfüssermumie recherchiert. So konnte schliesslich ihre Identität geklärt werden. Die Untersuchung ihrer Grabkleider trägt zu den Erkenntnissen bei, indem sie das Bild von anno dazumal weiter schärft.

Fragment für Fragment

Boncioli tippt auf das Foto einer Pappschachtel: «Schauen Sie sich ihren Inhalt an.» Eine vergilbte Zeitung als Unterlage, Staub, Kieselsteine, verklebter Stoff. «Ich hatte drei solcher Kisten, die dem Naturhistorischen Museum Basel gehören. Darin wurden die textilen Funde von 1975 aufbewahrt. Ach, und es waren noch Zettel angebracht», sagt sie. Darauf stand: «links» oder «rechts». Und «Unter der Gesässgegend gefunden.» Durch ihre Analyse habe sie unter anderem feststellen können, dass gar nicht alle Fragmente aus der dritten Schachtel unter dem Hinterteil der Barfüssermumie gelegen haben können. Sie erklärt, dass der Mumie im Entdeckungseifer die Kleider sozusagen vom Leib gerissen worden waren, weil man möglichst schnell an ihren Körper herankommen wollte. Eine professionelle Dokumentation der Entdeckung fehlt. «Welcher Fetzen Gewebe stammt vom Rock, welcher vom Oberteil? Nur dank einer privaten Filmaufnahme und meinen Besuchen bei der Mumie konnte ich das verstehen.»

«Der Oberstoff hat eine horizontale Teilungsnaht knapp unterhalb der Taille. Erst als ich diese Kopie des Rocks anfertigte, verstand ich, warum: So wirkt er voluminöser.»Natalia Boncioli

Das Ziel ihrer Forschungsarbeit ist, Klarheit darüber zu gewinnen, was Bischoff bei der Bestattung genau getragen hat: wohl einen langen Rock und eine kurze Jacke, darunter ein Hemd. Zudem das Paar gestrickter Strümpfe. Anzunehmen sind auch eine Haube und ein Fichu, also ein Tuch, das Dekolleté und Hals bedeckte. Gefunden wurden zudem die Überreste eines Leichentuchs. Viele Details hat Boncioli herausgeschält, etwa, dass der Rock höchstwahrscheinlich aus Futter und Aussenstoff bestanden hatte und bereits zu Lebzeiten getragen wurde – er ist an mindestens einer Stelle geflickt worden.

Boncioli zupft mit spitzen Fingern am Bund eines Rocks. Erst jetzt fällt der Kleiderständer mit dem bodenlangen Gewand auf, das neben den originalen Fragmenten geradezu blass wirkt. «Der Oberstoff hat eine horizontale Teilungsnaht knapp unterhalb der Taille. Erst als ich diese Kopie des Rocks anfertigte, verstand ich, warum: So wirkt er voluminöser. » Die Rekonstruktion ist der Höhepunkt der wissenschaftlichen Arbeit von Boncioli, das fertige Puzzle.

Im Textilkonservierungsatelier der Abegg-Stiftung ist alles auf die sorgfältige Behandlung der kostbaren Stoffe ausgelegt. | Fotos: Raffael Waldner

Masterstudentin Natalia Boncioli analysiert dort die Kleider der sogenannten Basler Mumie, um herauszufinden, was die Frau bei ihrer Bestattung im Jahr 1787 genau getragen hat.

Wie wird ein über 1000 Jahre alter tibetischer Seidenkaftan richtig gereinigt? Damit beschäftigt sich Yu-Ping Lin.

Mit Nadel und feinem Seidenfaden sichert Emma Smith kleine Risse im Damasttuch aus dem 18. Jahrhundert.

Moderne Technik für alten Stoff

Wie sich die einzelnen Fundstücke zu genauem Wissen zusammenfügen, ist ein komplexer Prozess: Da sich auf archäologischem Material Mikroben tummeln, wird in mikrobiologischen und toxikologischen Analysen erst einmal das Gesundheitsrisiko bestimmt. Oft greifen die Textilkonservatorinnen schliesslich zur Maske, auch in Zeiten ohne das neue Coronavirus. Um erkennen zu können, welche Fragmente der Mumienkleidung zusammengehören, mussten diese durch vorsichtiges Absaugen gereinigt werden. Parallel dazu wurden Web-, Farbstoffund Faseranalysen gemacht. Um die Materialien identifizieren zu können, hat Boncioli die Fasern verschiedenen Lösungsmitteln ausgesetzt und ihr Verhalten unter dem Lichtmikroskop beobachtet. Die fragilen und verklebten Strumpfreste hingegen brachte sie ins Labor der Hochschule der Künste in Bern, weil dort detailliertere Aufnahmen mit dem Rasterelektronenmikroskop mit sehr hoher Schärfentiefe gemacht werden können. Zudem hat Boncioli alles katalogisiert. Die Karten, die auf den Tischen liegen, zeigen natürlich keine Kontinente, sondern zeichnen die exakten Umrisse der Fragmente nach.

Auch der Körper der Barfüssermumie selbst lieferte wichtige Anhaltspunkte für das Verständnis der Kleidungsstücke: Mithilfe einer Computertomografie konnten die Masse der Frau genau bestimmt werden. Boncioli entdeckte zudem unterhalb der Kniekehle der Mumie Strumpfabdrücke. Nur so konnte sie überhaupt entschlüsseln, dass die Frau Strümpfe getragen hatte.

Monatelanges Absaugen

Spiegelglatt und weiss wie Schnee: Ein paar Tische weiter liegt das Gegenteil der braunen Mumienkleider. Es ist feinster Leinendamast aus dem 17. Jahrhundert. Traditionell waren solche Tischbekleidungen vor allem in den Niederlanden in grosser Zahl zu finden. Sie wurden damals hochgeschätzt, vererbt, halbiert, weitergegeben. «Textilien gehörten zu den wertvollsten Materialien, die man besitzen konnte. Sie waren teurer als Gemälde», sagt Direktorin Regula Schorta.

«Textilien gehörten zu den wertvollsten Materialien, die man besitzen konnte. Sie waren teurer als Gemälde.»Regula Schorta

Am Arbeitsplatz gegenüber der raumhohen Materialschrankwand aus Holz pumpt es dumpf im immer gleichen Rhythmus: Noa Quinteiro Carrera aus Spanien sitzt konzentriert über ein Kästchen gebeugt. Es ist ein Dachbodenfund aus dem deutschen Bistum Limburg. Im 15. Jahrhundert diente es als Aufbewahrungsort für das Korporale, ein Leinentüchlein, das während der Messfeier benutzt wird. Carrera hat schon jede einzelne Faser der gestickten Muttergottes auf dem Kästchen abgesaugt und mit dem Mikroskop kontrolliert. «Grauenhaft, wie schmutzig sie war», die Studentin lacht. «Aber ein Kästchen aus Holz, bestickt mit Seiden- und Metallfäden, kann man nun mal nicht einfach waschen.» Einen ganzen Monat lang schon, Tag für Tag, hat sie hier gesaugt – allein am Deckel. «Das ist Meditation, aber immer in Beziehung zum Objekt und zu meiner Arbeit daran. Ich lerne die Stickerei und ihren Erhaltungszustand kennen, sehe Details, deute sie.»

Das alles braucht Zeit. «Ein Luxus, den wir hier haben. Wir möchten den Studierenden vermitteln, dass man damit sehr weit kommen kann. Es braucht Ausdauer und Hartnäckigkeit, ein Gespür für Gewebe, naturwissenschaftliches Wissen zu Verfallsprozessen und kunsthistorische Kenntnisse für die Einordnung des Gegenstands, für seine sogenannte Objektbiografie», so Schorta. Zum Schluss gewährt sie noch einen Einblick in die Lagerung der historischen Textilien, die nicht in der Ausstellung des Museums für Textilien und angewandte Kunst im gleichen Haus oder im Wohnmuseum Villa Abegg gezeigt werden. Im Nebenzimmer des Ateliers zieht sie übermannsgrosse Fächer und Schubladen auf, zeigt herrschaftliche Gewänder, faltenfrei und staubgeschützt, präsentiert Stickfragmente in winzigen Schubladen mit herausnehmbaren Böden, damit die Objekte niemals mehr angefasst werden müssen. Denn: Stoff wird schütter, bevor er dann zu Staub zerfällt. Nur feine Detektivarbeit gegen die Zeit kann einen Hauch von Strumpf zum Wissensschatz machen.