Neurobiologe Botond Roska | Bild: Valérie Chételat

Seine wissenschaftlichen Kollegen beschreiben Botond Roska in Superlativen: atemberaubend, einzigartig, brillant. Die Forschung des 48-jährigen Neurobiologen zur menschlichen Netzhaut sorgt weltweit für Aufsehen. In den vergangenen Monaten ist es ihm und seinem Team gelungen, im Reagenzglas eine künstliche und voll funktionsfähige Netzhaut zu züchten. Ein wissenschaftlicher Meilenstein.

Der freundliche Mann mit Brille und blauem Poloshirt am gut bewachten Eingang des Novartis-Campus in Basel stellt sich vor: «Hallo, ich bin Botond.» Der gebürtige Ungar führt vorbei an Bauten von  nternationalen Stararchitekten in den hinteren Teil des Areals. Dort hat das von ihm und dem Chefarzt der Augenklinik am Universitätsspital Basel im Dezember 2017 gegründete Institut für molekulare und klinische Augenheilkunde (IOB) vor wenigen Wochen provisorisch die Labors bezogen.

Mit dem Institut wird für Roska eine Vision zur Realität, die er seit mehreren Jahren verfolgt. «Wir wollen Grundlagenforschung und Medizin zusammenführen und so neuartige Behandlungsmethoden zur Anwendung bringen.»

Gemeinsam investieren die Universität Basel, das Universitätsspital sowie der Pharmakonzern Novartis jährlich rund 20 Millionen Franken in die Stiftung des Instituts. In den kommenden Jahren sollen über hundert Stellen und zehn neue Professuren entstehen.

Das grosse Interesse an Roskas Forschung hat handfeste Gründe. Mit der steigenden Lebenserwartung wird die Zahl der Menschen mit Augenerkrankungen in vielen Ländern exponentiell ansteigen. In der Augenheilkunde gab es in den vergangenen Jahrzehnten jedoch kaum medizinische Innovationen. Botond Roska will das ändern. «Ich möchte mit meiner Arbeit dazu beitragen, dass blinde Menschen ihre Sehkraft
zurückgewinnen.» Im Kampf gegen Augenerkrankungen kombiniert der Spitzenwissenschaftler Nanotechnologie mit Mathematik und Neurowissenschaften.

Zellen rechnen wie ein Supercomputer

Es war Roska, der erkannte, in welchen Zelltypen welche Krankheiten entstehen. «Wir sind heute in der Lage, Krankheiten zelltypspezifisch zu bekämpfen.» Dazu manipuliert er mit seinem Team Viren so, dass diese genetisch verändertes Material in die erkrankten Zellen transportieren. Mit diesem Ansatz sollen in Zukunft eine Vielzahl von Seherkrankungen behandelt werden können, zum Beispiel die Stargardt-Krankheit und Retinitis pigmentosa – beides Netzhautdegenerationen.

Botond Roska setzt sich vor seinen Laptop und öffnet Bilder von der von ihm gezüchteten Netzhaut. Die Aufnahmen zeigen farbig markiert die verschiedenen Zelltypen, aus denen sie sich zusammensetzt. Rund 100 sind es. «Die Zellen sind wie unterschiedliche kleine Computer, die sich zu einem Supercomputer verbinden.» Roska spricht mit ansteckender Begeisterung über seine Forschung. Die Netzhaut, sagt er, sei ein Bildprozessor, der sich mathematisch vollständig erfassen lasse. «Mein Verständnis ist zutiefst mathematisch. Ich liebe die Klarheit dieser Sprache.» Was die Wissenschaft heute über die Funktionsweise der Netzhaut weiss, verdankt sie zu einem grossen Teil seiner Arbeit.

«Am Morgen denke ich nach, am Nachmittag spreche ich mit Menschen.»

Der Sohn einer Musikerin und eines Computerwissenschaftlers wuchs in Budapest auf. Roskas Leidenschaft galt der Musik. Er studierte Cello, bis eine Handverletzung seine Karriere vorzeitig beendete. Roska musste sich neu orientieren und begann ein Studium in Medizin und Mathematik. Nach dem Abschluss fühlte er sich jedoch nicht in der Lage, als Arzt zu arbeiten. «Ich wusste noch zu wenig über den menschlichen Organismus.»

Ein Bekannter seines Vaters weckte bei einem Abendessen sein Interesse an der Netzhaut. Um diese zu verstehen, studierte und forschte er in den USA Neurowissenschaften, nahm eine Stelle als Teamleiter beim privaten Friedrich Miescher Institute an. Vor fünf Jahren setzte er sich ein neues Ziel: «Ich sagte mir, ich möchte erreichen, dass mindestens eine meiner Entdeckungen die Medizin wesentlich voranbringt.»

Sich selber beschreibt Roska als Getriebenen. «Wenn ich wach bin, dann denke ich.» Einen grossen Teil seiner Zeit ist er auf Reisen. Allein in den vergangenen vier Wochen war er in Barcelona, Paris, Honolulu, Boston und Stanford. Fast jede zweite Woche spricht er auf einer Konferenz. «Der Austausch mit anderen Wissenschaftlern ist eine Voraussetzung für meine eigene Forschung», sagt er.

Ist Roska gerade nicht unterwegs, folgt sein Tagesablauf einer strengen Struktur. «Am Morgen denke ich nach, am Nachmittag spreche ich mit Menschen.» Nach dem Aufstehen löst er eine Stunde lang mathematische Probleme, Hirntraining nennt er das. Dann setzt er sich an den Tisch und denkt über seine Forschung nach – meistens in seiner Wohnung in Oberwil, etwas ausserhalb von Basel. Am Mittag setzt er
sich auf sein Fahrrad und fährt in die Stadt.

Am Institut trifft er sich mit seinem Team, externen Forschenden, am häufigsten aber mit Hendrik Scholl. Die beiden sprechen jeden Tag miteinander, auch am Wochenende. «Wir stehen in ständigem Austausch. Nur so können wir die unterschiedlichen Kulturen aus Forschungslabor und Spitalmedizin miteinander vereinen.»

Freizeit gibt es im Leben von Botond Roska so gut wie keine. Nachdenken falle ihm leicht, sagt er lachend. «Was mir mehr Mühe bereitet, ist, sozial zu sein.» Unter grösseren Menschengruppen fühlt er sich leicht unwohl. Eine Pause von seiner Arbeit macht er manchmal und ausschliesslich am Sonntag. Dann spielt er Cello, hört Bach oder verbringt Zeit mit seiner Frau.

Basel, sagt Roska, sei für einen Biomediziner wie ihn der beste Forschungsplatz der Welt. Hier gebe es ausreichend finanzielle Mittel für seine Forschung, er liebe die Ruhe der Stadt und die Bescheidenheit der Menschen. «Ich denke, das ist der Weg zu einem erfüllten Leben: Arbeite, liebe, was du tust, und bleibe dabei bescheiden.» Dann muss er weiter zur nächsten Besprechung mit einem Forscherkollegen, es ist kurz vor 18 Uhr. Feierabend macht Botond Roska auch an diesem Tag noch lange nicht.

Vom Cello zum Auge
Botond Roska, geboren 1969, studierte zuerst Cello, dann Mathematik und schliesslich Medizin in Budapest. Er promovierte in Neurowissenschaften an der University of California in Berkeley, forschte an der Harvard Medical School in Boston und kehrte nach Europa zurück als Gruppenleiter am Friedrich Miescher Institute in Basel. Dort gründete er auch das Institut für molekulare und klinische Augenheilkunde (IOB). Roska lebt mit seiner Frau und zwei von drei Kindern in Oberwil (BL).

Simon Jäggi ist Journalist in Basel.